Stellwerk Magazin

Rezension Jetzt geht’s um die Wurst!

Vorwort

Jan Bosses Inszenierung des nun über 20 Jahre alten Stücks feierte 2005 im Schauspielhaus Zürich Premiere und ist nun nach Hamburg und Berlin auch im Schauspiel Köln zu sehen: DIE PRÄSIDENTINNEN feierte am 30. September 2013 im Depot 2 Premiere.

Bosses Inszenierung wühlt im Dreck und erschüttert Herz und Magen. Das verstörende Portrait drei kleinbürgerlicher Putzfrauen ist radikal offen und liebenswert schockierend. Genau die saftige Ohrfeige, die man sich von einem Theaterbesuch erhofft. So richtig schmutzig wird es aber erst in der Phantasie! Also: Vorhang auf!

Mariedl, 1. Akt: "Jeden Tag kann der Mensch einen inwendigen Stoß bekommen und auf einmal geht ihm der Knopf auf."

Der päpstliche Segen Urbi et Orbi erfüllt die zu einem Theatersaal umgebaute Fabrikhalle im Depot 2, während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen. Etwa 200 Menschen kommen hier heut Abend zusammen. Die Putzfrauen Erna (Olivia Grigolli), Grete (Karin Neuhäuser) und Mariedl (Yvon Jansen) versinken ergriffen in einem Fernsehbild: Gläubigen aller Erdenkreise wird hier die Strafe sämtlicher Sünden erlassen. Die drei Präsidentinnen, das sind die sparsame und verbitterte Pensionistin Erna, die sich in einemfort über ihren Säufersohn Hermann beklagt, der sich weigert ihr "in Enkerl zu schenken", die durchtriebene energetische Grete (rosa, nicht plüschig) und die etwas jüngere Mariedl.

Holt schnell die Mariedl, die machts auch ohne!

Mariedl, der wohl ambivalenteste Charakter des Stücks, ist ebenso versaut wie fromm. Diese sexuellen Analogien finden sich auch bereits im Originaltext. So räkelt sie sich nun in einem Gewand, das dem einer Nonne gleicht, etwas lasziv über Ernas Inneneinrichtung. Dem Publikum wird somit jenseits des Bühnendialoges auch noch ein aufregendes Versteckspiel geboten. Es bekommt einen ersten Vorgeschmack auf Mariedls versteckte Leidenschaft. Hingebungsvoll geht sie in ihrem übertriebenen Glaubenseifer darin auf, den Schmutz anderer Leute zu entfernen – verstopfte Aborte zu reinigen betrachtet sie als heiligen Akt. Obsession hat sie im Glauben, Vergnügen in der Befreiung von verstopften Toiletten gefunden.
Diese friedliche Atmosphäre nach der Messe ist ebenso schnell verflogen wie sie heraufbeschworen wurde und Streitsucht befällt die Frauen. Wie es sich für echte Präsidentinnen gehört, wird gezetert und gebrüllt, dass es nur so eine Freude ist. Themen wie rechtschaffene Sparsamkeit, die christliche Kirche und das Sparangebot beim Metzger Wottila halten sich mit Sex, menschlichem Stuhl und unerwarteten Offenbarungen die Waage. In einem Nebensatz Gretes wird klar, dass ihr Mann die damals minderjährige und inzwischen nach Australien ausgewanderte Tochter Hannelore sexuell misshandelt hat. Dies wird doch schnell auch wieder unter den Tisch fallen gelassen, unter dem Mariedl noch ganz verwirrt ihren Knopf sucht. Alltägliches reiht sich hier an Groteskes - das ist der ganz normale Wahnsinn.

Zum Schluss des ersten Aktes bricht ein handfester Streit zwischen Grete und Erna aus. Das Wohnzimmer verwandelt sich sekundenschnell in einen abstrusen Jahrmarkt. Stephane Laime (Bühnenbild) hat hier erstaunliche Arbeit geleistet. Eine einzelne Regalwand fungiert als Ernas vollgestellte Wohnküche - Sitzgelegenheit, Tanzsaal und Klettergerüst in Einem. Die Konstruktion, die soeben noch an ein Kunstmuseum für skurrile Gegenstände oder an einen Antiquitätenladen kurz vor dem Bankrott erinnert, verschiebt sich im zweiten Akt zu etwas Wirklichkeitsfremden, Kubischen. Nun haben wir die Grenze des klaren Menschenverstands überschritten. Es regnet Konfetti. Eine interessante Idee der Inszenierung ist, dass die Darstellerinnen immer dann, wenn sie sich selbst vergessen und aus der Haut fahren, auch ihre Kostümierung (Katrin Plath) verlieren und dem Publikum in Unterwäsche gegenüber treten. Klein und verletzlich stehen sie dann da.

Dann werden Festtagskleider angelegt. Wir begeben uns auf eine Traumreise: Die Frauen beschließen nun "den ganzen Lebensschmutz zu vergessen und lustig miteinander zu sein", indem sie sich ein schillerndes Dorffest ausmalen. Was könnte das Leben nur alles für sie bereithalten? In den Phantasien der einzelnen Frauen treten ihre Charaktere aufs Deutlichste hervor. Erna ist die realistischste Erzählerin. Sie hat bescheidene Wünsche, erträumt sich, ihrer heimlichen Liebe Wottila zu begegnen. Grete erdichtet sich den "spitzbübischen" Tubabläser Freddie, der ihr beim Tanzen prompt einen Finger in den Hintern steckt und ihr einen Heiratsantrag macht. Davon sogleich provoziert, zieht Erna ebenfalls mit einem fabulierten Heiratsantrag nach. Mariedls Traum ist der Merkwürdigste von Allen. Sie stellt sich vor, alle Aborte des Festes seien verstopft, weil der Pfarrer dort Geschenke für sie versteckt hätte: eine Dose Gulasch, eine Flasche Bier und ein Parfum-Flakon.
Anfangs noch als harmloses Spiel begonnen, reden sich die Präsidentinnen schnell in Rausch und Rage. Eine Jede will die Lauteste sein und angehört werden. Als jedoch Mariedl immer mehr abdreht, verbünden sich die beiden zuvor Zerstrittenen gegen sie und lassen sie nicht mehr zu Wort kommen. Da verliert Mariedl vollständig die Kontrolle und reißt das Textbuch des Souffleurs an sich, um aufgewühlt darin zu blättern. Schließlich stürmt sie die Bühne, säuft ihr fiktives Parfum leer und zerstört alle Hoffnungen auf ein Happy End in der schönen Traumwelt. So passiert es dann auch – nun ist alles erfolgreich Verdrängte wieder an die Oberfläche geholt worden: Gretes Tochter Hannelore erscheint auf dem Fest und schlägt ihrer Mutter ins Gesicht; Freddie löst daraufhin die Verlobung; und auch Wottila will von Erna nichts mehr wissen, als ihr betrunkener Sohn Hermann auftaucht. Mariedl steigt indessen als Heilige zum Himmel auf – die Exkremente auf ihren Armen verwandeln sich in Goldstaub.

All dies geschieht keineswegs wirklich auf der Bühne, lediglich die gesprochenen Worte erschaffen all diese Bilder und doch sind diese Geschichten ebenso wahr, wie jede andere auch. Und da fragt man sich unweigerlich: Warum verletzt es uns so, wenn das glückliche Ende einer erdachten Geschichte ruiniert wird? Den Übergang von der Traumwelt in die Wirklichkeit schaffen Grete und Erna damit, dass sie die selig lächelnde, da im Geist bereits gen Himmel aufsteigende, Mariedl kreuzigen und ihr Kunstblut in den Mund schütten. (Auch dies ist eine Alternation zum Originalskript, indem Mariedl erstochen wird.) Die Parallele zwischen Traum und Realität wird somit noch nicht ganz abgebrochen. Auffallend ist, dass der Chor der Hinterländer Seelentröster (Analogien zu Schlagergruppen wie Wildecker Herzbuben sind naheliegend) im dritten Akt durch die Protagonistinnen selbst ersetzt wird. Das spart nicht nur Personalkosten, sondern hat auch den Effekt, dass das Zurückdrängen der "Original-Präsidentinnen" durch die neuen Schauspieler noch stärker zur Geltung kommt. Sie übertönen sie schlicht mit ihrem Gesang. Als die Bühne schließlich leer ist, bleibt das Publikum einen Moment sprachlos bis donnernder Applaus ausbricht. Dieser Abend hat provoziert, es wurde geträumt, gegenseitig schikaniert und sich fremdgeschämt. Und so herzhaft über den Witz des Arsches, der ein Vogel werden wollte, gelacht.

Ein weiteres Highlight von Bosses Version des Stücks liegt in dem gewitzten Einsatz von Licht und Musik. Stimmungsakzentuierend wandeln sich Beleuchtung und Geräuschkulisse, was von den Protagonistinnen als elektrische Störung empfunden wird. Sie übertreten das Medium Theater und versuchen wildgestikulierend mit Tilmann Casseus und Jan Steinfatt (Licht) und Arno Kraehahn (Musik) zu kommunizieren. Vergeblich, die Technik macht mit ihnen, was sie will. Machtlos übergeben sie sich den neuen Bedingungen, wie wir uns dem Wetter. Auch ein zentrales Thema, das von Gretel aufgegriffen wird: Was bestimmt die Vorhersehung? Und bekommt am Ende tatsächlich ein Jeder was er verdient? Vieles wird angerissen und nichts ausdiskutiert. Womit wir wieder bei der Politik landen.
"Rein theoretisch" kann man sich wunderbare Traumwelten erschaffen. Alles nur einen Gedankensprung entfernt. Dass diese jedoch auch ebenso leicht wieder zerstört werden können, wenn zu viel Realität Einzug erhält, konnte man heute Abend erleben. Alles Geistige ist durchgekaut und verdaut, es ist restlos ausgeschieden und durch die Toiletten gespült worden, wie schon Ulrich Seidler zu Bosses Inszenierung in der Berliner Zeitung schrieb.
Lasst uns also mit unseren Wünschen und Ängsten im Hier und Jetzt bleiben – dem Ort der absoluten Präsenz – wie wär's mal mit Theater?

Foto: Olivia Grigolli, Karin Neuhäuser, Yvon Jansen (v.l.n.r.) (Leonard Zubler | Schauspiel Köln)

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