Stellwerk Magazin

Rezension "Der Verschollene" oder "Amerika"?

Vorwort

Den U.S.A. eilt ein Ruf voraus, den man schon zu Kafkas Zeiten kannte: Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Vom Tellerwäscher zum Millionär. The American Dream. In unserer Zeit? Ein aufmunterndes Märchen, ein Ruf, ein Mythos! Denn das Land ist wie jedes andere heute auch: verschuldet und voller Probleme.

Kafka erzählt in seinem Romanfragment Der Verschollene zwar von einem Amerika, das präzise tickt wie ein Uhrwerk, dabei aber umso grausamer gegen sein Volk vorgeht. Wer dem Druck nicht mehr standhalten kann, ist draußen. Der Protagonist Karl Roßmann erfährt dies am eigenen Leib und erkennt dies auch an den Menschen, denen er begegnet. Nur erzählt Kafka eben nicht nur von Amerika, sondern auch von Karls Leben, seinen Eindrücken und seiner beschwerlichen Reise. Um wen oder was geht es denn jetzt genau: Karl oder Amerika? Ist eines wichtiger als das andere? Kafka war sich nicht sicher. Wie der unvollendete Roman neu interpretiert und unter dem Titel AMERIKA auf die Bühne gebracht wurde, kann man in dieser Spielzeit in Moritz Sostmanns und Sibylle Dudeks Inszenierung am Schauspiel Köln erleben. Denn der Amerikamythos ist heute immer noch aktuell. Ob man an den amerikanischen Traum glaubt oder nicht, ist dabei persönliche Ansichtssache. Sicherlich genauso wie die Interpretation von Kafkas Romantitel.

Die Editionsgeschichte

Franz Kafka hat mit Der Verschollene seinen eigenen weißen Wal erschaffen: Er hat den Roman nie zu Ende geschrieben. Die größte Schaffensphase zählte ungefähr vier Monate, von September 1912 bis zum Januar 1913, bis dann im Jahre 1914 der Schreibfluss endgültig zum Erliegen kam.1Kaul: Einführung in das Werk Kafkas, S. 77. In diesem Jahr wurden nur noch die Kapitel neun bis elf angefangen. Die Kapitel sieben bis elf wurden von Kafka nicht betitelt. Diese Aufgabe übernahm Max Brod.2Ebd., S. 80. Wie viele Probleme der Roman Kafka bereitete, erfährt man im Briefwechsel mit seiner Verlobten Felice Bauer. Der Schriftsteller gibt zu, dass er sich von der Geschichte besiegt fühle.

Dass die Unvollständigkeit der Geschichte Kafka zu schaffen machte, wird besonders deutlich in einem Brief aus dem Jahre 1913. Im Vorübergehen hörte er einen Mann gedankenverloren vor sich hermurmeln: "Was macht Karl?", Kafka fühlte sich durch diese Frage an seinen Protagonisten erinnert und zugleich gedemütigt.3Ebd., S. 77.

Er könne die Geschichte des Protagonisten Karl nicht mehr recht umfassen, da sie ihm ein zu weites Ausmaß genommen habe. 1913 veröffentlichte er erfolgreich das erste Kapitel (Der Heizer)4Ebd., 78., welches aber das einzige Kapitel blieb, das Kafka zu Lebzeiten publizierte. Selbst bei dem Titel des Romanfragments blieb er unschlüssig. Gegenüber Brod soll er erwähnt haben, dass er den Roman Amerika nennen wolle – unter diesem Titel wurde der Roman dann auch drei Jahre nach Kafkas Tod herausgebracht. Allerdings kann man einem der vielen Briefe an Felice entnehmen, dass Kafka den Titel Der Verschollene in Betracht zog. Unter diesem werden die zum Roman zusammengefassten Fragmente heutzutage herausgebracht.

Der Verschollene und das Amerikamotiv

Dabei ist die Frage nach dem Romantitel eine durchaus bedeutende. Der Titel entscheidet, auf welchem Protagonisten die Hauptaufmerksamkeit liegt: Karl oder Amerika. Ein Schicksal und die Charakterstudie eines Einzelnen oder das Wesen und die Beschreibung eines Landes. Der Charakter Karls begegnet dem Leser als willensschwach. Der Wunsch nach Gerechtigkeit bleibt unerfüllt, da Karl bei jeglicher Anschuldigung übervorteilt und verurteilt wird. Der Siebzehnjährige wird von den Frauen und Männern in dem Roman dominiert. Er wird von Johanna Brummer verführt, die schwanger wird. Gernot Wimmer führt hierzu an, dass das Wort "Verführung" beschönigend gebraucht wird, da man eher über einen sexuellen Übergriff sprechen kann.5Wimmer: Kafkas Roman-Trilogie, S. 47.

"Würgend umarmte sie seinen Hals und während sie ihn bat sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett […]. Karl, o Du mein Karl, rief sie als sehe sie ihn und bestätigte sich seinen Besitz, während er […] sich unbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte […]. […] sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich daß Karl Kopf und Hals aus den Kissen heraus schüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einigemale gegen ihn, ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen."6Kafka: Der Verschollene, S. 35 f.

Der sexuelle Akt kommt durch die Erzählung Karls einer Vergewaltigung gleich. Er wollte keinen Verkehr mit ihr. Die geschilderte Szene wirkt grotesk, denn Karl beschreibt den Akt mit der Verwirrtheit und Unschuld eines Kindes. Auch Klara attackiert ihn, doch wird die Aktion abgebrochen. Im Hotel lässt Karl sich den Job von der Oberköchin aufdrängen und auch Therese Berchtolds Befehlen gehorcht er. Brunelda lässt ihm ebenfalls ungewollte erotische Aufmerksamkeit zu Teil werden, derer er sich nicht erwehren kann. Durch die Männer erfährt er nichts Gegenteiliges. Karl wird von seinem Onkel verstoßen. Hierzu bemerkt Hiebel bei Wimmer, dass der passive Karl sich in einem Dilemma befände, aus dem er nicht herausfinden könne: Hätte er den Wunsch des Geschäftsmannes Pollunder ausgeschlagen, hätte er gegen die erwartete Höflichkeit des Onkels gegenüber der Geschäftspartner verstoßen. Indem er jedoch Pollunders Bitte nachgeht, verprellt Karl seinen Onkel ebenfalls. Auch Robinson und Delamarche drängen ihn in die Dienerschaft. Amerika offenbart sich nicht als das Land, in dem Milch und Honig fließen. Denn auch wer hart arbeitet, hat nicht immer genug zum Leben. Selbst Arbeit zu finden und zu behalten, gestaltet sich als äußerst schwierig. Die Realität spiegelt ein anderes Motto wider: Wer arm ist, bleibt auch arm und steigt nicht zum Millionär auf.

Kafka schreibt über ein kapitalistisches Amerika, in dem ein darwinistisches Prinzip herrscht. Ein Fehltritt bedeutet das Aus. Der Mythos von Amerikas self-made Millionären bleibt hier eine Farce. Stellvertretend dafür steht Karls enge Uniform, die "immer wieder zu Athemübungen [sic] verlockte, da man sehen wollte, ob das Athmen noch immer möglich war."7Kafka: Der Verschollene, S. 144. Wimmer stellt dazu fest: "[…] am Beispiel der Arbeitsuniform […] ist das oberste Ziel kapitalistischer Ökonomie abzulesen. Diese trägt nicht nur einem einheitlichen Erscheinungsbild bei, sondern diszipliniert ihre Träger körperlich, indem sie den Leib wie ein Korsett umzwängt […]" 8Wimmer: Kafkas Roman-Trilogie, S. 79. Die Grausamkeit dieses Amerikas findet man auch in Thereses Mutter. Diese wurde von Thereses Vater nach Amerika geholt und alleine gelassen. Die Suche nach Arbeit trug keine Früchte. Beide wurden zu "Opfer[n] der sozialen Verhältnisse", da jeder ihnen mit Ignoranz begegnete. Die Mutter stürzte schließlich von einem Baugerüst in den Tod. Nicolai interpretiert dies als Selbstmord und als einzige Lösung in diesem System. Diese tragische Situation wird von den Bauarbeitern als "Störung des Arbeitsprozesses"9Ebd., S. 77 empfunden: Diese Unannehmlichkeit kostet Arbeitszeit und könnte Verzögerungen heraufbeschwören.

Moritz Sostmanns und Sibylle Dudeks Stück "Amerika"

Die Frage nach dem Titel wird bei Sostmann und Dudek zugunsten AMERIKAS entschieden. Dementsprechend findet man viele bekannte amerikanische Kultelemente der Popkultur vor. Dies zeigt, dass diese Amerikageschichte auch ins Hier und Jetzt übertragbar ist. Nach der vorgezogenen Eröffnung des Oklahoma-Theaters, fährt die Inszenierung fort mit dem für Kafkas Roman anachronistisch gebrauchten opening score von Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey. Im Hintergrund thront die Freiheitsstatue, deren Fackel in der rechten Hand durch ein Schwert ersetzt wurde. Dieses unverkennbare Amerikasymbol schaut auf alles herab, so auch auf den Protagonisten. Karl wird auf der Bühne von einer kindsgroßen Puppe verkörpert, die hin- und hergetragen wird. Diese Wahl verdeutlicht die Willensschwäche Karls und ebenso seine Bedeutungslosigkeit im Angesichte Amerikas. Er ist nur einer von vielen, der durch das Raster fallen wird. Weitere Amerikamotive finden sich in der Jazz-Musik und einem Klavierstück, das keineswegs in englischer Sprache gesungen wird - der Melting Pot New York.

Das Stück endet so wie es angefangen hat: Im Theater Oklahomas, dieses Mal mit einer Mischung aus modernem Dubstep und klassischer Musik, sowie Kostümen aus verschiedenen Epochen. Die Geschichte Amerikas wird zwar sichtbar, doch die Ritterfigur zeigt nach Europa: Amerika als das allmächtige Land, das andere Kulturen wie ein Schwamm aufsaugt. Zwar zeigt die Inszenierung die Grausamkeit des amerikanischen Systems, da es die Dialoge und Narrationen wortwörtlich aus dem Roman übernimmt, doch legt es interessanterweise das Augenmerk auf das Theater Oklahomas.

Kafka vergleicht in einem Tagebucheintrag den Tod Karls mit dem des Protagonisten K. aus Der Proceß: "Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen."

Es erscheint als Rahmen am Anfang und am Schluss. Dieses "Theater von Oklahoma" 10Kafka: Der Verschollene, S. 295. ist Kafkas vorletztes Kapitel und stellt keineswegs das Ende dar. Allerdings bieten Sostmann und Dudek damit einen künstlerisch-kreativen Gegenentwurf zu dem kapitalistischen Amerika. Karl scheint am Ende gerettet. Hoffnung auf einen Ausweg aus der darwinistischen Ordnung. Allerdings bleibt er die Puppe. Die Bedeutsamkeit Amerikas überschattet immer noch alles und jeden. Karl bleibt in der Inszenierung im Hintergrund, ein Requisitenstück im Lebenstheater Amerika. Zwar bleibt das Ende offen, doch es deutet ein glückliches an. Ähnlich wie Brod es gesehen hatte. Er gab an, dass Kafka angedeutet habe, dass Karl nicht sterbe, sondern sein Glück fände und sogar die Eltern ihn wieder aufnehmen würden.11Wimmer: Kafkas Roman-Trilogie, S. 119 f.

Der Verschollene oder Amerika?

Das Titeldilemma ist schlichtweg unlösbar. Kafka fokussierte sich nicht nur auf seinen Protagonisten, der von Amerika verschluckt wurde, sondern auch auf das Land, das ihn so grausam verschluckte. Es entbehrt dabei durchaus keiner Ironie, dass der Titel Amerika durch Der Verschollene ersetzt wurde: Zwar verschlingt dieser Titel den ersten, doch konnte Karl dennoch nicht seinem Tode entrinnen. Erst recht nicht durch die Inszenierung und Titulierung Sostmanns und Dudeks, die damit Amerikas Zeitgeist in Kafkas Fragmenten aufgreifen und ihn den Zuschauern wieder vor Augen führen. Das Bild Amerikas in Der Verschollene ist das Amerika des Stücks und auch das heutige. Doch mit einem Silberstreifen am Horizont. Nicht für alle, aber für manche. Der Mythos bleibt nicht unbedingt Mythos, wenn sich jemand aufmacht und ihn wahr werden lässt. Die Wahl des Titels spiegelt zwar seine Wichtigkeit wider, doch bleibt es einem selbst überlassen, den Fokus zu setzen. So bleibt auch der Mythos Amerikas eine Frage der Auslegung.

Literaturverzeichnis:

KAFKA, Franz: Der Verschollene. Frankfurt am Main: Fischer 2008.

KAUL, Susanne: Einführung in das Werk Kafkas. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010.

WIMMER, Gernot: Franz Kafkas Roman-Trilogie. Rationalismus und Determinismus. Zur Parodie des christlich-religiösen Mythos. Frankfurt am Main: Peter Lang 2007.

Foto: Sandra Then | Schauspiel Köln

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