Stellwerk Magazin

Interview mit Milo Rau Die Moskauer Prozesse

Vorwort

Die Veranstaltung “Die Moskauer Prozesse - Milo Rau trifft Michail Ryklin” im Filmforum NRW auf der diesjährigen lit.COLOGNE bot nicht nur filmische Einblicke in Raus Arbeit am Theaterstück DIE MOSKAUER PROZESSE, sondern offenbarte auch im Gespräch mit Milo Rau und dem russischen Philosophen Michail Ryklin ein Bild der gesellschaftlichen Umstände und des eingeschränkten künstlerischen Lebens im Russland Wladimir Putins. Im Anschluss sprach ich mit Milo Rau über seine praktische Arbeit, seine zugrundeliegenden theatertheoretischen Ansätze und die aktuelle Situation in Russland.

Milo Rau (Copyright IIPM)

Milo Rau, 1977 in Bern geboren, lebt in Köln und ist ein international arbeitender Regisseur, Autor und Theoretiker. Er studierte Germanistik, Romanistik und Soziologie in Zürich, Paris und Berlin und promovierte über die “Ästhetik des Reenactments”. Der in den Medien betitelte “meistbegehrteste” und “meistumstrittenste” Theater- und Filmemacher ist bekannt durch seine Inszenierungen und Filme “Montana”, “Die letzten Tage der Ceausescus”, “Hate Radio”, “City of Change”, “Breiviks Erklärung” sowie “Die Moskauer Prozesse” und “Die Zürcher Prozesse”. 2007 gründete er die Theater- und Filmproduktionsgesellschaft IIPM – International Institute of Political Murder. Neben seiner künstlerischen Arbeit ist Milo Rau auch als Dozent für Regie und Kulturtheorie sowie soziale Plastik an Kunsthochschulen und Universitäten tätig.

Wie kann man Ihr Stück DIE MOSKAUER PROZESSE gattungstechnisch einordnen, kann man es noch als Reenactment bezeichnen?

Nein, eigentlich nicht. Im Prinzip habe ich nur eine einzige Produktion gemacht, die für meinen Begriff als Reenactment durchgeht. HATE RADIO ist ein durchgehend fiktionales Stück, BREIVIKS STATEMENT ist eine Lesung. DIE LETZTEN TAGE DER CEAUŞESCUS ist eigentlich das einzige Reenactment, da es der Versuch war, ein Ereignis komplett so nachzubilden, wie es auch in den Medien überliefert wurde. DIE MOSKAUER PROZESSE sind eine Wiederaufnahme, keine Wiederholung. Hierbei handelt es sich nicht um die Nachstellung eines Prozesses, sondern das Gegenteil: die Ermöglichung eines Prozesses, der beim ersten Mal nicht möglich war. Natürlich versucht auch ein Reenactment mehr zu sein als nur eine technische Dokumentation oder Wiederholung. Theater ist kein Informationsmedium, und wenn Theater doch Information abwirft, so ist das höchstens ein Mehrwert.

Gab es bei dieser speziellen Form überhaupt Proben im klassischen Sinne oder ist die Verhandlung tatsächlich spontan auf der Bühne des Sacharow-Zentrums entstanden?

Es gab eine lange Vorbereitungszeit mit vielen Gesprächen. Es wurde eine Anklageschrift entwickelt, demgemäß natürlich eine Verteidigungsschrift. Wer genau eingeladen wird, stand natürlich schon fest. Ebenso die Redezeiten und das ganze Ritual an sich. Es gab auch eine echte Prozessordnung. Die ganze Verhandlung war also extrem strikt nach dem russischen Recht organisiert, aber was verhandelt und geantwortet wird, war unklar. Von den Inhalten der Reden wusste ich – genau wie auch die jeweilige Gegenseite – im Vorhinein nichts. Nur so hat es Sinn gemacht, denn der Ausgang des Prozesses war frei und offen.

Im Westen gab es ja auch jetzt im Rahmen der lit.COLOGNE viel Resonanz. Hatte das Stück in der russischen Gesellschaft auch die gewünschte politische Wirkung?

Ich persönlich denke, dass Kunst universal ist! Das "Schwarze Quadrat" von Kasimir Malewitsch hat zum Beispiel nicht nur für Russen eine Bedeutung, obwohl er damit auf den orthodoxen Glauben anspielt. Ich bin zwar ein westlicher Künstler, doch selbst, wenn die Darsteller Russen sind, ist meine Kunst eher für westliche Zuschauer und wird auch so wahrgenommen. Gleichzeitig gab es aber auch starke Reaktionen aus Russland, denn das Stück und der Film wurden ja auch in Moskau aufgeführt. Ich glaube die Wirkung von Pussy Riot auf die russische Gesellschaft ist eine ganz andere als auf unsere. Und natürlich hat Pussy Riot nicht zu einer Veränderung der russischen Gesellschaft geführt. Meine Aktion hat auch nicht zu einer Änderung geführt. Sie dient eher zur Darstellung. Sie ruft etwas hervor und macht etwas sichtbar, was vorher unsichtbar war. Das macht politische Kunst: Sie macht Dinge sichtbar! Und genau das machen DIE MOSKAUER PROZESSE. Man sieht endlich alle Positionen. Was der Prozess eigentlich vollbracht hat, hat der Gerichtsschreiber - der eigentliche Leiter des Sacharow-Zentrums - sehr schön beschreiben. Er sagte, dass es im Grunde wie ein surrealer Wachtraum sei, dass sich all diese Leute tatsächlich in einem Raum befinden und miteinander reden. Bei einigen Aufnahmen (zum Beispiel als der Priester und der Künstler zusammen ein Kunstbuch angucken) haben die Leute sogar geglaubt, es seien Fotomontagen. Diese Komposition aus den gegenteiligen Stimmen ist das, was ich versucht habe zu schaffen.

War es denn schwierig all diese Menschen von der Zusammenarbeit zu überzeugen?

Ja, es war sehr schwierig. Aber es ist ja am Schluss möglich gewesen und das ist die Hauptsache.

Sie sprechen selbst davon, dass Ihr Werk von Wiedersprüchen geprägt ist. Wo würden Sie sich zwischen den hyperrealistischen Reenactments und einer surrealen Kunstwelt, in der Sie durch ihre neuen Prozesse Diskurse eröffnen, momentan verorten?

Also ich glaube, es gibt bereits innerhalb der Projekte immer schon große Veränderungen. Es gibt große Gegensätze, wenn man sich beispielsweise den Film zu den Ceauşescus und das Theater-Projekt anschaut. Grundsätzlich würde ich sagen, dass der Unterschied zwischen Vergangenem und Präsentem nur in einem physikalischem Sinn existiert, aber nicht im kollektiven Verhalten! Das hat man auch heute Abend im Film "Die Moskauer Prozesse" gut sehen können: Die Regeln der Orthodoxen sind Regeln aus dem 16. Jahrhundert, die werden im Jetzt aus politischen und sozialen Gründen reanimiert! Wenn wir in Bukarest den Ceauşescu-Prozess gezeigt haben, dann ist das zwar etwas, das 20 Jahre her ist, aber zeigt, wie Rumänien jetzt funktioniert. Die Leute, die damals die Macht hatten, haben heute immer noch die Macht! Und das wird plötzlich dem ganzen Publikum klar, das bisher dachte, es hätte eine Revolution gegeben, die offensichtlich aber zu keinen Veränderungen geführt hat.

Also das ist es, was mich interessiert. Ich will kein Ritterturnier aus dem 12. Jahrhundert darstellen, denn das macht für mich keinen Sinn. Außer es würde tatsächlich etwas aussagen, dass für mich auch heute noch präsent ist. Ich bin am Vergangenen nicht interessiert. Wenn irgendjemand durch meine Arbeit auch etwas über die Geschichte erfährt, dann freut mich das zwar, aber das ist nicht das Ziel! In meiner Arbeit ist das ein anderer Vorgang.

In der Podiumsdiskussion ACT NOW Anfang des Jahres haben Sie gesagt, dass für Sie politisches Theater das macht, was nicht sagbar ist, also Situationen schafft, in denen man sich selbst nicht mehr verorten kann. Ich denke für die Kosaken, die ihr Stück stürmten, stimmt das durchaus. Aber trifft das auch auf das westliche Publikum zu, deren Meinung ändert sich doch nicht wirklich, oder?

Nein, das glaube ich auch und das ist auch gut so. Meine Erfahrung war, - wie ich es vorhin in der Diskussion gesagt habe - dass ich als zweifelnder Mensch nach Russland gegangen bin und als Europäer zurückkehrte. Das ist mir auch gerade in dem Moment klar geworden, als ich es gesagt habe. Die Politik, die Europa oder die Nato im Moment in der Ukraine macht, ist unfassbar idiotisch und komplett ahistorisch. Es gibt überhaupt keinen Grund im russischen Gebiet quasi eine Invasion zu starten. Warum, was soll der Scheiß? Das führt ja nur zu weiteren Problemen und die Probleme haben ja bereits stattgefunden. Putin hat sich die Krim gekrallt und die Ukraine, die ist jetzt das Bauernopfer für die europäische imperiale Idee. Gleichzeitig stehe ich halt hinter der Idee Europas. Ich stehe hinter den Ideen der Menschenrechte, der individuellen Freiheit und in gewissem Maße der Chancengleichheit. Das gilt genauso für orthodoxe Männer wie für lesbische Frauen. Diese Werte gelten für alle und es gibt keine Abstufungen zwischen den Menschen. Das ist etwas, das in Russland gerade Gefahr läuft zu verschwinden. Es scheint so, als müssten alle, die nicht mit der russischen Politik konform gehen irgendwie umgebracht, eingegliedert oder umerzogen werden. Und dann bin ich natürlich total Europäer und will etwas schaffen, wo diese negative Entwicklung sichtbar wird. Auf der anderen Seite habe ich auch bestimmt schon 20 Stücke über Europa gemacht, in denen ich Dinge zeige, die hier nicht gut laufen. Ich bin sicher auch nicht total objektiv, aber ich bin Realist. Ich will die Dinge zeigen, wie sie sind. Die Faschisten haben in meinem Film dreimal so viel Redezeit wie alle Liberalen zusammen - einfach weil mich das interessiert. Ich wollte das sichtbar machen, was in den westlichen Medien nicht präsent ist. Am Ende des Tages habe ich trotzdem eine andere Meinung, die aber auch im Film ziemlich klar wird.

Wie stehen Sie eigentlich zu dem Volksentscheid in der Schweiz?

Bei der Abstimmung war ich natürlich total gegen diese Initiative und total dafür, dass die Schweiz offen bleibt. Gleichzeitig habe ich Anfragen von Unternehmerverbänden gekriegt, da diese billige Arbeitskräfte brauchen. Ich bin ja eigentlich auch ein bisschen Globalisierungsgegner und dann verschiebt sich natürlich der Boden und man versteht Menschen, die fordern, die Grenzen zu schließen. Im Grunde ist das unmenschlich.

In "Was ist Unst?" fordern Sie die Wiederholung der Gegenwart durch die Vergangenheit für die Zukunft. Was sind für Sie die zentralen Elemente der Vergangenheit, die wir noch nicht überwunden haben, was für die Zukunft aber unbedingt nötig wäre?

Es ist wie bei George Orwell: Wenn die Agentur in "1984", die Geschichte umschreibt, dann tut sie das für die Zukunft, weil das, was im Jetzt als Vergangenheit deklariert wird, wird das, was wir später als unsere Vergangenheit erinnern werden.

Wir haben also die Macht über die Vergangenheit und zwar im Jetzt. Wir haben im Jetzt immer die Macht festzulegen, was die Regeln sind: woran wir uns erinnern und wie wir daran erinnern.

"In Russland wird der Glaube auf eine seltsame Weise wiederholt für die Zukunft. Es gibt beispielsweise einen Diskurs darüber, dass die Russen immer ein wahnsinnig orthodoxes Volk waren, deren Glaube allerdings unterdrückt wurde. Die Wahrheit ist, die russische Revolution ist nur ausgebrochen, weil der Zar zusammen mit der orthodoxen Kirche Russland unterdrückt hat. Es wurden zwanzig- bis vierzigtausend Kirchen zerstört, weil die Leute es nicht mehr sehen wollten. Das Gleiche geschah im spanischen Bürgerkrieg. Auch hier war die Kirche ein Machtapparat der Unterdrückung. Und danach kam eine Zeit, in der die Kirche und der Glaube unterdrückt wurden. Das ist zwar eine Phase der Geschichte, aber nicht die russische Tradition."

Alles ist politisch definiert. Die ganze Zeit leben wir in der Definition dessen, was die Vergangenheit ist und wir definieren es für die Zukunft. Wir lehren es unseren Kindern und die Zukunft wird sich an das erinnern, was wir jetzt für reale Vergangenheit erachten. Was ich damit sagen wollte ist eigentlich, dass ein Reenactment eine Handlung für die Zukunft ist: Man spricht scheinbar über die Vergangenheit. Es geschieht im Jetzt und es passiert für die Zukunft.

Als ich noch zu den Moskauer Prozessen der 30er Jahre arbeiten wollte und im Sacharow-Zentrum darüber sprach, ist jemand aufgestanden und hat gesagt, das Thema sei interessant, aber vielleicht könne ich ja auch darüber sprechen, dass 10 Millionen orthodoxe Priester von Stalin deportiert und umgebracht wurden. Dann ist jemand anderes aufgestanden und hat gesagt, dass es zuträfe, Stalin habe 10 Millionen Leute umgebracht, aber das seien keineswegs nur Priester gewesen, sondern alle möglichen Leute - ob Atheisten, Kommunisten, ganz egal, aus allen Schichten. Und ihm reiche es langsam, dass ständig erzählt werde, es seien nur alles Orthodoxe gewesen, es stimmte einfach nicht. Und daran merkt man, dass die Vergangenheit ein umkämpftes Gebiet ist. Das hat Gründe im Jetzt und nicht, weil etwas stimmt oder nicht stimmt. Deshalb ist das faktische Argument bei dokumentarischer Kunst sowieso immer schwierig und man könnte eigentlich sogar sagen, dass es dokumentarische Kunst gar nicht gibt. Bei Kunst geht es immer um etwas anderes als um Faktizität, denn die 'Fakten' haben immer schon eine politische Werthaltigkeit an sich.

Foto 1: © IIPM | Nina Wolters

Foto 2: © IIPM

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