Stellwerk Magazin

Rezension Traum einer Sache | Geschichte der Vögel

Vorwort

“Wie viel Pathos, wie viel Größenwahn und wie viel Utopie verträgt unsere Wirklichkeit?” - Dieser Frage gingen die Künstler zusammen mit dem Publikum im Maschinenhaus Essen nach, in dem am 17. und 18. Oktober die beiden letzten Vorstellungen von “Traum einer Sache | Geschichte der Vögel” stattfanden.

"Es wird sich zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen."

(Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843)

Im Maschinenhaus Essen ertönt Natur. Vogelgezwitscher dringt ans Ohr. Der Blick durchwandert die hohe Halle mit Backsteinwänden. Die Bühne: ihre leuchtend rote Hinterwand ein aufgeklappter Sargdeckel oder doch ein Triptychon? Gleich den Bildern der Marienerscheinungen geben die weißen und dezent roten Kleidungsstücke der Tänzer und das helle Blau des Bodens Hinweise. Diese sakral anmutende Szenerie, getragen von Beschwörungsgestiken, dieser zärtlichen Vertrautheit und der Gemeinsamkeit eines Visionären, lässt die Frage von Utopie und Pathos virulent durch den Raum schweben. Man wird Zeuge einer besonderen Andacht, die sich als Ausdrucksmedium nicht die Sprache, sondern den Körper sucht. Drei Körper, die sich immer wieder ein- und entfalten, um in dem sakralen Raum der Bühne eine Bewegungsmacht zu entwickeln, die dem Tod immer wieder zu entkommen scheint. Es wird auferstanden, gestorben und wiederbelebt.

ÜBER DIE KÜNSTLER ////////// Julian Rauter (geb. 1986 in Duisburg) studierte an der Kunsthochschule für Medien in Köln, war Artist in Residence der "Cité International des Arts Paris" und lebt in Leipzig. /////// Susanne Grau (geb. 1988 in Passau) studierte zeitgenössischen Tanz an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln. /////// Andrea Willmann (*1975 in Heidelberg) absolvierte nach einer Tischlerausbildung ein Studium der Architektur an der HCU Hamburg. Seit 2010 arbeitet sie freiberuflich (als Dipl.-Ing Architektur).

I'm senseless

Es werden Bewegungsstadien durchlaufen, die vom Zucken über das Zeigen hin zum Zerreißen Gesten und Motive der abendländischen Kultur abrufen, die aufgrund ihrer scheinbar willkürlichen Zusammensetzung ihrem Bedeutungskontext enthoben werden. "I’m senseless," so heißt es in dem einzigen, kurzen sprachlichen Monolog. Erst in Interaktion mit dem Anderen, im Kräfteaustausch scheint sich ein Sinn zu entwickeln, den es stets neu zu formieren gilt. Ein Traum, der beflügelt. Immer wieder ist es der Vogel, sein Flügelschlag, der die Gesten des Zeigens, Umarmens und Kämpfens unterbricht. Doch es ist ein Fliegen ohne zu Fliegen. Immer wieder wird gen Himmel geschaut, gezeigt, gefleht. Kräfte werden zusammengenommen, im Austausch in den Raum gejagt.

Traum einer Sache_Geschichte der Vögel

Ein maschinelles Naturspektakel

Der Vogel wird schließlich zur Ikone, wenn die drei Tänzer um die Adlerjacke kreisen, die im Wechsel von allen einmal getragen werden darf und dem Träger alleinige Macht verleiht. Doch Macht wofür? Plötzlich steigen die Tänzer von der Bühne, verharren am Rand. Sie schaffen Raum für ein maschinelles Naturspektakel. Eine Maschine pustet Nebel in den Bühnenraum, der seinen eigenen Kräften folgt und seinen eigenen Tanz vollführt. Ein Wolkenhimmel entsteht, in den die drei Tänzer hineinsteigen, um sich wieder an den Anfang zu stellen. Zusammengekauert, doch immer noch sehr stark, sind die Drei ineinandergefaltet, jeden Moment bereit dem Zuschauer entgegenzufliegen.

Performer: Maxwell McCarthy, Rocio Marano, Katrin Wiedemann

Fotos: Emma Eßbach

Die Redaktion empfiehlt passend zu diesem Artikel:

Julian Rauter
Susanne Grau