Stellwerk Magazin

Ein literarisches Duett Offene Fragen über Houellebecq

Vorwort

Ein literarisches Duett. Offene Fragen über Houellebecq. Ein fiktives Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über Houellebecqs jüngst veröffentlichten Roman “Unterwerfung”.

Nathan: Herr Reich-Ranicki, wie geht es Ihnen?

Marcel Reich-Ranicki: Ja, Kinder! Was soll denn die Frage? Wie soll es mir schon gehen? Ich bin tot! Nein, lassen Sie uns doch bitte zur Sache kommen. Ich habe mein Leben der Literatur gewidmet und das soll in meinem Nachleben auch nicht anders sein. Houellebecq!

Nathan: Bitte um Pardon. Kommen wir zum Thema. Vor ungefähr 15 Jahren haben Sie im Literarischen Quartett einen Roman von Houellebecq besprochen. Damals war es "Elementarteilchen". Ihr Urteil war das Niederschmetterndste in der Runde. Der Autor hätte von Liebe keine Ahnung, das Thema sei billig, abgegriffen und die Sprache sei schlecht. Würden Sie heute den Autor anders bewerten?

Marcel Reich-Ranicki: Augenblick mal. Zunächst einmal haben wir im Quartett zuvor noch ein ganz anders Buch von Houellebecq diskutiert. "Ausweitung der Kampfzone". Wenn Sie sich da an die Sendung erinnern, werden Sie feststellen, dass ich ein hohes Lob für den Autor ausgesprochen hatte. Ganz im Gegenteil zu meinen literarischen Mitstreitern. Sie werden sich fragen, warum. In seinem Debutroman hat Houellebecq zweifelsohne gezeigt, dass er die Stimme unserer Zeit wiederzugeben vermag. Seine Romane spielen in Großstädten, seine Protagonisten sind Antihelden, seine Leitmotive sind Sex und Selbstmord. Ich lese ja ungern die Klappentexte von Verlagen vor, jedoch ist der Dumont-Verlag nicht auf dem Holzweg, wenn der erste Satz lautet: "Welches Buch könnte besser in unsere Zeit passen als dieses?" Jedoch kommt der Verlag mit dieser Offenbarung 15 Jahre zu spät, denn das habe ich bereits gesagt.

Nathan: Das heißt, Sie distanzieren sich von Ihrem anfänglichen Urteil?

Marcel Reich-Ranicki: Oh nein, ganz und gar nicht! Ich war in beiden Sendungen aus einem ganz bestimmten Grund unterschiedlicher Meinung. Meine Urteile bezogen sich ja auf zwei völlig unterschiedliche Romane. Dennoch ist bei diesem Autor eine Besonderheit festzustellen. Houellebecq gehört sicher nicht zu den erlesensten Autoren Frankreichs, aber ganz bestimmt zu den meist umstrittenen. Wenn ein Autor eine so große Palette an Gefühlen und Meinungen ganz unterschiedlicher Natur hervorrufen kann, dann muss das etwas bedeuten! Noch etwas. Da Sie jetzt auf die Sendungen des Literarischen Quartetts zu sprechen kommen; ich hoffe doch sehr, dass man mich nicht nur auf mein Schaffen im Fernsehen reduziert. Ich habe diesen so genannten Fernsehpreis nicht zum Spaß abgelehnt. Meine Lebensleistung ist das deutsche Feuilleton sowie meine Bücher, die ich publiziert habe. Sicher habe ich durch das Fernsehen eine größere Masse erreichen können, aber meine Liebe galt immer vorerst der Literatur, dann der Musik und erst dann dem Fernsehen, wenn man hier von Liebe sprechen kann.

Nathan: Kommen wir zum neuesten Roman von Houellebecq: "Unterwerfung". Es handelt sich um einen Zukunftsroman, welcher um das Jahr 2022 spielt. Der Protagonist, François, ein französischer Literaturwissenschaftler in Paris, erlebt die Machtergreifung einer islamischen Partei und die damit folgende allmähliche Islamisierung Frankreichs. Die Partei der Sozialisten schließt sich mit den Muslimbrüdern zu einer Union, damit sie bei der Präsidentschaftswahl eine klare Mehrheit gegenüber der radikal konservativen Front National haben. Nach dem Wahlsieg wird Ben Abbes, ein charismatischer Kandidat der Muslimbrüder, Frankreichs neuer Präsident. Abbes schafft die Verfassung ab, führt das Patriarchat ein und entlässt alle Frauen aus dem Berufsstand. Wäre das Buch ein deutsches Buch, dann würden wir es nicht in der Belletristik, sondern im Sachbuchbereich finden: Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab". Sarrazin hat am Ende seines Buches einen essayistischen Schlussteil, in dem er – genau wie Houellebecq - ein islamisiertes Deutschland prognostiziert. Diese Texte sind bei vielen Leserinnen und Lesern gefragt und deuten implizit auf eine Angst vor einem erfolgreichen Islam hin. Muss sich Europa einem drohenden Islamismus unterwerfen?

Marcel Reich-Ranicki: Wäre das Buch von Sarrazin, dann würden wir es hier nicht besprechen! Ich habe diese Frage, die Sie stellen, nie gestellt. Sie interessiert mich nicht. Die Aufgabe eines jeden Kritikers ist es, ein literarisches Werk eines Autors und nicht die Politik im Land zu rezensieren. Dennoch haben Sie nicht Unrecht, wenn Sie auf die politische Natur des Buches verweisen. Eine Besonderheit entgeht Ihnen allerdings! Die Verschleierung, das Berufsverbot für Frauen, die Herausstellung der Großfamilie in der Gesellschaft und all die Dinge, die Sie bereits gesagt haben, treten ein, aber mit einem entscheidenden Unterschied zu Sarrazin: Der Islam ist in Europa angekommen, aber alles wird besser, zumindest für unseren Protagonisten.

Dies vorangestellt, ergibt sich für mich keine politische Frage, sondern eine literarische: Taugt das Buch etwas? Meine Antwort: Ja und nein! Oder ganz nach Goethe: "Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust". Warum diese Zweigeteiltheit, werden Sie mich fragen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Ich habe in der Literaturgeschichte zwei große Helden. Zum einen ist es der Faust von Goethe und der Hamlet von Shakespeare. Es handelt sich um intelligente Figuren, mit denen ich mich identifizieren möchte. Ich will mit ihnen mitdenken, mitfühlen und mitsprechen. Die Idioten in der Literatur interessieren mich gar nicht! Langweilig sind sie und manche Autoren verstecken sich hinter ihnen, um ihren schlichten Stil und ihre Einfallslosigkeit zu kaschieren. Dafür ist die Literatur nicht da. Ich erwarte etwas anderes von den Autoren! Wenn also ein Autor wie Houellebecq, der gewiss zur intellektuellen Elite Frankreichs gezählt werden darf, einen intellektuellen Antihelden entwirft, in diesem Fall sogar einen Literaturprofessor, dann darf man zu recht etwas erwarten!

Und meine Erwartungen wurden enttäuscht. Ich lese Seite für Seite, dass François ein brillanter und unterforderter Literaturwissenschaftler ist. Dann möchte ich doch bitte vom Autor wissen, warum das so ist. Denn ich lese keine beeindruckenden Gedankengänge, keine neuen Perspektiven auf die Hauptthemen des Romans. Was denkt die Figur in der Position des Außenseiters? Wie fühlt er sich, wenn er jedes Semester Geschlechtsverkehr mit wechselnden Studentinnen hat und nicht fähig ist eine langfristige Beziehung einzugehen? Was bedeutet es für ihn, wenn sich seine eigene Heimat Stück für Stück entfremdet? Nein, hier wurden entscheidende Schlüsselfragen verspielt! Die wenigen Dinge, die mir deutlich machen sollen, dass es sich um einen klugen Kopf handelt, sind seine Kollegen, die genau dieses über ihn behaupten und seine wiederkehrenden Thesen über den Autor Joris-Karl Huysmans, zu dem François promoviert hat.

Mein Lieber, Grass hatte ja auch einmal versucht eine intellektuelle Figur einzuführen. Sie erinnern sich an "Ein weites Feld". Die Hauptfigur Theo Wuttke ein Protagonist angelehnt an den bedeutendsten Autor des Realismus: Theodor Fontane. Dieser wird von Wuttke pausenlos zitiert, ähnlich wie bei "Unterwerfung". Nein, so geht das nicht! Das weite Feld liegt kahl und brach. Die Unterwerfung wird zum bescheidenen Knicks. Was denken sich diese Autoren, verstorbene Größen der Literaturlandschaft für ihre Zwecke zu missbrauchen?

Michel Houellebecq

Nathan: Ja, das sehe ich auch kritisch. Aber zurück zu Ihrem anfänglichem Statement. "Ja und nein", heißt das, dass Sie dem Buch dennoch etwas abgewinnen können?

Marcel Reich-Ranicki: Was mich an der Literatur interessiert, ist eine Sache. Die großen Autoren, die Nobelpreisträger und die Weltliteratur sprechen hier mit vereinter Stimme. Es geht immer um eines: Ein Mensch versucht sein Leben zu leben, doch die Welt in ihrer Gesamtheit ist so beschaffen, dass sie dieses eine Leben nicht zulassen will und nicht zulassen kann. Das ist die Tragödie, die wir bei Romeo und Julia finden, hier mündet das Schicksal des Woyzeck.

Dieser Roman lebt nicht durch seinen Figuren, nicht von der Sprache, vielleicht noch vom Inhalt. Aber ganz sicher von einem, dem Autor selbst. Houellebecq schafft es Leser aus zwei verschiedenen Lagern zusammenzubringen. Linke Intellektuelle und islamfeindliche Rechte lassen sich gleichermaßen für den Roman begeistern. Warum, frage ich Sie? Ich denke es liegt daran, dass es ihm gelingt islamische Werte so radikal umzusetzen, dass die Grenze zwischen den rechten und linken Lesern weichgezeichnet wird. Im Roman spielt sich das als Karikatur ab.

Abbes, der neue Präsident, kündigt allen Frauen ihre Berufsausübung. Und was passiert: Es entstehen mehr Arbeitsplätze und die Kinder werden daheim betreut. Große Not, die Scharia wird eingeführt. Dann sinkt die Kriminalität drastisch herunter. Frauen müssen zwar Burkas tragen, aber dafür sind bunte Strings und transparente BHs ausverkauft. Polygamie mit minderjährigen Mädchen wird eingeführt? Es kommt zur Völkerversöhnung über Ländergrenzen hinweg: Denn die Belgier sind begeistert!

Ein klarer Fall! Dieser Mann hat Humor! Houellebeqcs "Unterwerfung" hat in der Tat keine poetische Sprache und keinen Charme, aber gerade dadurch wird der Roman wahrhaftig und passt ganz genau in unsere Zeit. "Unterwerfung" ist nicht einfach ein Zukunftsentwurf, keine bloße Vision einer Dystopie, sondern eine Karikatur unserer Zeit.

Nathan: Sicher spielen Sie hier auch auf die Anschläge auf Charlie Hebdo an, die zufällig am Tag der deutschen Buchveröffentlichung verübt wurden. Hintergrund der Anschläge waren Mohammed-Karikaturen. Offensichtlich hat Houellebecq diese Ereignisse nicht voraussehen können, dennoch wird der Roman im Schatten der Anschläge in Paris gelesen. Darf man über Religion und Gott lachen?

Marcel Reich-Ranicki: Die gesamte Kritik ist ein Teufelswerk! Es geht ja um ein altes Lied, das Älteste. Die Schöpfung, die ihr Schöpfer für gut befunden hat, in Frage zu stellen. Nun ist der Kritiker nicht einfach der Geist, der stets verneint, sondern er hat eine Aufgabe. Literatur ist eine unbändige Kraft, die nicht allein vom Autor ausgeht, sondern vom Leser, vom Verleger und selbstverständlich auch vom Kritiker. Alle diese Akteure formen unsere Literatur. Das Schreiben und das Lesen sind grundlegend, doch in beiden steckt das Kritisieren. Mein Lieber, dies über alles: Allein mit der Kritik kann man einem literarischen Werk gerecht werden und es berühren. Nur mit dem Urteil können Sie es erfassen.

Und doch ist es eine überaus gefährliche Sache! Kritiker haben es nicht leicht, wissen Sie. Die Meinung, die die Öffentlichkeit gegenüber der Literaturkritik hat, hat sich seit Lessing nicht geändert. Eine Kritik sei in der Regel weniger Wert als das jeweilige Werk, über das sie ihr Urteil treffen möchte. Viele zeitgenössische Autoren möchten sogar, dass Kritiken nicht bewerten, sondern nur Empfehlungen aussprechen. Mit Verlaub, Goebbels wollte das auch. Nein, so geht das nicht! Kritiken können schlecht geschrieben sein, sie mögen ungerechtfertigt sein oder gar verletzend. Eines sind sie jedoch zweifelsfrei: notwendig. Die Satire ist in diesem Rahmen der Literaturkritik sehr verwandt. Beide müssen es verstehen, in kleinem Raum die Vorzüge und die Fehler einer Sache gut gebündelt und wertend wiederzugeben. Grade ein Verriss kommt der Karikatur sehr nahe. Tucholsky fragte mal: "Was darf die Satire?" Seine Antwort: "Alles." Und das gilt für die Karikatur, wie auch für die Literaturkritik. Ob Prophet oder Papst, das ist vollkommen egal! Wem das nicht passt, soll sie nicht lesen. Dieser Roman mag schlechte Literatur sein, aber er ist notwendige Literatur. Und für diejenigen, die unsere Zeit verstehen möchten, ist er vor allem eines: lesenswert.

Nathan: Herr Reich-Ranicki, zum Abschluss hätte ich noch eine persönliche Frage.

Marcel Reich-Ranicki: Ja.

Nathan: Sagen Sie, wir sprechen hier über Religion und Glauben. Können Sie uns nicht einen Blick hinter die Kulissen gewähren? Wie sieht es eigentlich auf der anderen Seite so aus? Haben Sie sich mittlerweile mit Herrn Grass versöhnt?

Marcel Reich-Ranicki: Mein Lieber, für manche Themen gibt es immer nur dieselben alten Antworten: Und so sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Headerbild: © Philippe Matsas | Fotos s/w: © Barbara d’Allesandri / Flammarion