Stellwerk Magazin

Interview Im Gespräch mit Angelika Overath

Vorwort

Angelika Overath, geboren am 17. Juli 1957 in Karlsruhe, ist eine deutsche Schriftstellerin und Journalistin mit Wohnsitz in der Schweiz. Sie studierte Germanistik, Geschichte und Italianistik in Tübingen. Angelika Overath arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin für Kreatives Schreiben. Die Autorin ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Sie hat drei Romane veröffentlicht, zuletzt “Sie dreht sich um”. Einem breiteren Publikum bekannt wurde sie durch “Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch”.

overath

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über das kleine Dorf Sent im Engadin in der Schweiz zu schreiben?

Im Engadin gibt es das Magazin "Piz", das zweimal im Jahr erscheint. Nach unserem Umzug fragte mich die Redaktion, ob ich nicht für das Themenheft "Hinter den Kulissen" erzählen könne, wie der Wechsel für uns von der Universitätsstadt Tübingen in ein Bergdorf war. Das habe ich dann geschrieben. Das Magazin kam über meine Agentin in die Hände der Programmabteilung des Luchterhand-Verlags und die meinten dort: Mach doch ein Buch daraus! Aber ich fand das nicht so interessant. Wir waren ja keine Aussteiger. Wir waren keine Lehrer, die nach Arkadien gingen und dort Bienen züchteten. Wir haben nur den Wohnort gewechselt, nicht den Beruf. Ich habe mit meinem Lektor gesprochen und der meinte, ich solle das Thema ausweiten hin auf Integration und auf die Frage, was Heimat und Identität sei. Dafür bot sich die Form des Tagebuchs an, als die vielleicht freieste literarische Form.

Wie fühlten sich Ihre Nachbarn nach der Veröffentlichung Ihres Buches? Wussten sie Bescheid über den kommenden Text, der von ihrem Dorf erzählt?

Ich habe den Text als offenes Word-Dokument an zwölf Personen geschickt. Das Dorf hat insgesamt 900 Einwohner. Ich habe die Sache nie geheim gehalten. Im Gegenteil. Ich habe viele Interviews geführt. Und dann habe ich gesagt: Nehmt den Text, lest ihn, schreibt hinein, ruft mich an – gebt mir Feedback!

Kann man die Menschen aus dem Text im Dorf wiedererkennen?

Schon. Aber erzählte Personen sind Figuren. Sie sind aus literarischen Gründen verkürzt, holzschnittartig. Ich schreibe auch über meinen Mann, meine Kinder. Aber ihre Persönlichkeiten kann ich nicht in einen Text bringen. Ich erzähle nur von bestimmten Seiten, die für unser Leben im Dorf wichtig sind. Etwa dass mein Mann Trainer der Senter Fußballkinder war. Sicher gäbe es über ihn sehr viel mehr zu sagen. Aber das würde so ein Buch sprengen.

Hat sich Ihr Leben in der Schweiz verändert? Wenn ja, in welcher Form?

Wir haben beobachtet, dass wir, seitdem wir in der Schweiz lebten, in der Schweiz anders wahrgenommen wurden. Mein Mann hat begonnen, an der Universität Basel zu unterrichten; ich geben Kurse in Kreativem Schreiben an der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern. Und ich arbeite mehr als zuvor. Der Arbeitsprozess hier ist intensiver. Es gibt weniger Ablenkungen. Auch geht es mir als Autorin in der Schweiz finanziell besser; es gibt hier eine großzügige Literaturförderung.

Liegt in Sent gerade auch Schnee?

In Sent, im Dorf unten, liegt gerade kein Schnee, aber die Gipfel der Berge sind weiß. Und es gibt hier das Sprichwort "Kein Monat ohne Schnee", das heißt: Es kann in jedem Monat schneien.

Wo schreiben Sie am liebsten?

Mein Arbeitsplatz ist mein kleiner Laptop. Ich schreibe überall.

Brauchen Sie einen Brotberuf?

Ich war nie irgendwo fest angestellt. Ich habe immer frei geschrieben. Als die Kinder klein waren haben wir gesagt, Papa verdient das Geld und Mama verdient die Ferien. Heute sind wir beide frei und das geht auch. Man muss einfach ein wenig flexibel sein: Unterrichten, für den Rundfunk, für Zeitungen und Zeitschriften arbeiten, Lesungen machen; vom Verkauf der Bücher allein können nur wenig Autoren leben.

Was machen Sie lieber: Lesungen oder ein Buch schreiben?

"Es ist die Sprache, die den, der schreibt schützen muss. Ein Roman ist immer auch ein psychologisches Experiment mit sich selbst."

Ich mache Lesungen nicht so gerne, weil es mich psychisch immer aufregt. Wenn ich vor Publikum lese, bin ich ja nicht das Ich, das schreibt. Sondern ich bin dann das Ich, das wie eine Schauspielerin noch mal in den Text hineingehen muss. Aber das Schreiben ist mit Mühen und Selbstzweifeln verbunden. Thomas Mann hat mal gesagt: Schriftsteller seien Menschen, denen das Schreiben schwerfällt. Ich wollte gar keinen Roman schreiben, ich war davor ja eine relativ erfolgreiche Reporterin. Darf ich das sagen? Ich habe den Egon-Erwin-Kisch-Preis 1996 für meine Reportage "Bis ins Mark" bekommen. Ich konnte mir aussuchen, für welches Magazin ich schreibe. Und ich habe als Literaturkritikerin für die "Neue Züricher" gearbeitet. Da hatte ich manchmal ganz scheußliche Romane auf dem Tisch. Vielleicht war ich ein wenig arrogant; ich fand es viel schicker, Reporterin zu sein als Schriftstellerin.

Nach dem Tod meiner Eltern – sie starben innerhalb relativ kurzer Zeit – habe ich beobachtet, wie ich am Computer saß und eine Rezension schreiben sollte – aber ich tat es nicht. Ich öffnete ein neues Fenster und schrieb so kleine Erinnerungen auf, Erinnerungen an meine Kindheit, an unsere Familie. Mit der Zeit merkte ich, dass da ein Stoff ist, der erzählt werden möchte. Und zwar ein biographischer Stoff, eine Mutter-Tochter-Geschichte. Ich schrieb also. Und war unsicher. Ich weiß noch, wie ich das Manuskript einmal meiner Tochter gab, sie war damals ungefähr 17 Jahre alt. Und ich wusste, wenn sie das, was ich geschrieben habe, nicht gut findet, höre ich sofort auf. Immerhin ging es um ihre Mutter, um ihre Großmutter, auch wenn der Stoff aus literarischen Gründen verfremdet, verdichtet war. Doch dann kam mein Tochter aus ihrem Jugendzimmer und sagte: "Mama, das ist gut! Das ist ja gut! Mach weiter!"

Was wollten Sie früher einmal werden, bevor Sie als Reporterin angefangen haben?

Eigentlich wollte ich Malerin werden. Ich fand immer, ich könne besser malen als schreiben. Einmal habe ich mich auch bei einer Kunstakademie beworben, ohne Erfolg. Das Studium, das mir am nächsten am Schreiben schien, war Germanistik. Das habe ich dann studiert. Aber ich habe schon während des Studiums als freie Reporterin für das "Schwäbische Tagblatt" gearbeitet und für das von Hans Magnus Enzensberger gegründete Magazin "TransAtlantik". Mit meinem neuen Roman "Sie dreht sich um" bin ich wieder zu den Bildern zurückgekommen. Er handelt von weiblichen Rückenfiguren auf Gemälden.

Holen Sie sich Inspiration von anderen Schriftstellern?

Sicher. Wenn ich zum Beispiel gute Dialoge schreiben möchte, lese ich etwa Hemingway – der kann das. Ein Schauspieler sagte mir einmal Ich gebe Dir jetzt ein Beispiel für einen guten und einen schlechten Dialog: Schlechter Dialog: Person A: Wie spät ist es? / Person B: 15.00 Uhr. Guter Dialog: Person A: Wie spät ist es? / Person B: Du liebst mich nicht mehr. Vermutlich kommt es bei guten Dialogen darauf an, so viel wie möglich wegzulassen und ein wenig aneinander vorbeizureden. Ein guter Dialog braucht etwas Unvorhersehbares.

Gibt es noch etwas, dass Sie jungen Autoren mit auf den Weg geben möchten?

Schreiben hat etwas mit Mut zu tun. Es ist ein Wagnis. Wenn es gemütlich wird, wird es Kunstgewerbe und keine Kunst. Schreiben hat etwas damit zu tun, Reibung, Irritation, Schmerz zuzulassen. Bei "Nahe Tage", meinem ersten Roman dachte ich manchmal: Jetzt schreibst du das, was dir einfällt, einmal auf. Ohne zu zensieren. Und ob du es auch so veröffentlichst, entscheidest du später. Ich habe das Manuskript viele Male überarbeitet, aber nicht entschärft. Ich habe versucht, das Schlimme, das ich sage, durch die Sprache abzusichern. Es ist die Sprache, die den, der schreibt, schützen muss. Ein Roman ist immer auch ein psychologisches Experiment mit sich selbst.

Foto: Maria Frickenstein