Stellwerk Magazin

Rezension "Die Toten"

Vorwort

Christian Krachts lang erwarteter neuer Roman DIE TOTEN ist am 08. September 2016 bei Kiepenheuer&Witsch erschienen. Virtuos verknüpft der Handwerker Kracht hier wieder einmal Fiktion und Fakten und erzählt in cineastischen Bildern von der Weimarer Republik, dem japanischen No-Theater und der Metapyhsik der Gegenwart.

Cover: Kiepenheuer&Witsch

Christian Krachts neuer Roman "Die Toten" beginnt mit einem Selbstmord. Der Leser, in diesem Fall auch Voyeur des Geschehens, beobachtet sowohl den japanischen Offizier, der sich die Bauchdecke aufschlitzt, er weiß aber auch um die westliche Filmkamera, die das Gemetzel einfängt. Es ist nicht das letzte Mal in diesem Roman, das Kracht mit dem Blick des Lesers spielt, ihm grausame Bilder vorführt, die unmissverständlich scheinen. Ihn zum Beobachter, aber auch Dokumentar des Geschehenen macht. Denn sprachlich hält sich Kracht in der Bewertung des Geschehens ganz zurück, konzentriert sich vollkommen auf die Beschreibung der Stoffe, der Haut, der Bewegung, der Blicke, der Falten, des Blutes und der Farbe. Ganz so als wären wir Blinde und Kracht beschreibe einen Film für uns.

"Oje, wenn das mal nicht symbolisch ist."

Für die Leser von Kracht ist das natürlich nichts Neues. Aber das offensichtlich cineastische seiner Bilder trat noch nie so stark zu Tage wie jetzt, da die Thematik aber auch gegeben, die Methode somit offensichtlich wird. "Die Toten“ erzählt von dem Leben zweier Männer, dem Schweizer Regisseur Emil Nägeli und dem japanischen Kulturbeamten Masahiko Amakasu. Wir befinden uns in den frühen 1930er Jahren, Deutschland und Japan versuchen sich ideologisch zu verbünden, ob des Kampfes, der bevorsteht. Masahiko Amakasu will diese ideologische Verbrüderung mit einer "zelluloidenen Achse" stärken und schickt den Selbstmordstreifen an die Deutschen, genauer an Alfred Hugenberg, Chef der UFA. Er möge doch einen deutschen Regisseur nach Japan schicken, dessen Werke dem auch in Japan sich auf dem Vormarsch befindlichem amerikanischen Kulturimperialismus Einhalt gebieten können.

Wir erfahren von Emils Vater, der verstorben ist und dessen letztes Wort ein "Hah!" war, das in Emils Kopf noch lange nachhallt. Aber auch von seiner Kindheit und der Verachtung, die er für seine Familie verspürt, erzählt Kracht. Wir erfahren von Amakasus Hochbegabtheit, die ihn als Kind seinen Eltern zutiefst unheimlich machte. Diese schickten ihn aufs Internat, wo er die Gewaltfantasien, die ihn von klein auf in Tagträumereien begleiteten, auch in die Tat umsetzte. Aber auch von einer Begegnung mit dem weiblichen Dämon Hannya – einer traditionellen Figur aus dem No-Theater – die Amakasu seitdem in Visionen begleitet. Es ist eine traumhafte, schattige, von Geistern bewohnte Welt, die Kracht uns zeigt. Und wir dürfen nur soweit in sie hineinblicken wie unser Auge reicht. Die Beschreibungen Krachts sind aber so detailreich, dass es viel zu entdecken gibt, wenn man genauer hinschauen mag.

Das Jo-Ha-Kyu-Spiel

Kracht baut in diesem ersten Teil des Romans eine kaum erträgliche Spannung auf, je weiter er dem Betrachter der Protagonisten ihre Vergangenheit zeigt. Am Ende des ersten Teiles kann man es kaum noch erwarten, dass Kracht uns endlich loslässt, damit wir die biedere Gegenwart des Plots durchstoßen können, um endlich zu sehen, wo es hingehen soll. Die Struktur des Romans ist angelehnt an eine traditionelle Ästhetik der Bewegung, die die japanische Kultur durchzieht, seien es Teezeremonien, Kampfkünste, oder das Theater. Das Jo-Ha-Kyu, lose übersetzt: Anfang – Bruch – Schnell. Es fordert, dass alles langsam beginnen möge, sich dann rasant beschleunigt und ein abruptes Ende hat.

Das Spiel mit Fakt und Fiktion ist auch in diesem Roman Krachts ein großer Bestandteil der Faszination. So wie es auch einer der großen Disziplinen des Kinos ist. Veränderungen der Zeitgeschichte oder Charaktere können symbolträchtige oder ideologische Kniffe, sie können aber auch der Handlung geschuldet sein, Entscheidungen der Produktion, des Autors, die dem Endprodukt dienlich sein sollen.

Hand-Werk

All die Symbole, die Kracht im Roman verwoben hat, sie sind nur Teil der Beschreibung dessen, was sowieso schon tief in der Kultur Japans verwurzelt ist. Um alles lesen, verstehen oder interpretieren zu können, muss man sich mit dieser Kultur ein Stück weit auskennen. Aber auch hier ist es wie mit dem Film, es ist wichtig, dass die Produktion ihre Arbeit macht. Der Betrachter muss nicht wissen, wie sich die Leute dann und dann gekleidet haben, was sie beschäftigt hat, was sie gegessen haben, wie sie gelebt haben, der Betrachter muss dies auch nicht überprüfen, es reicht vollkommen, dass der Produzent das weiß, damit ein authentisches Bild gezeichnet wird.

Und wiederkehrende Symbole, die es wert sind, gedeutet zu werden, gibt es einige. Das ständige Nägelkauen aller Protagonisten, die Farbakzente in einer ansonsten schattigen und nebligen Geisterwelt, oder der böse weibliche Dämon Hannya aus dem No-Theater, der Amakasu verfolgt. Sei es das Fi-Di-Bus, das ausnahmslos alle Vögel in Krachts Roman hervorstoßen. Oder das "Hah", das Nägelis Vater vor dem Tode hervorstößt und immer wieder auch von Ida, Nägelis Verlobten, gehört wird. Es könne für Handwerk stehen, schlägt Ijoma Mangold von der ZEIT vor.

Kracht gefällt diese Idee, offensichtlich, da es sein Handwerk und seine Handschrift ist. Das Symbol ist natürlich immer da, wo es sein muss, wo es seinen traditionellen Platz hat und seine Wirkung voll entfalten kann. Kracht, der Handwerker, weiß das. Das "Hah" des Vaters, es könnte aber auch das "Ha" des Jo-Ha-Kyu sein. Der Bruch, hier mit der Realität, der sich durch den Roman zieht, da Kracht eben auch Künstler ist und mit der Tradition brechen kann, wo er das will.

Und dann gibt es da auch noch den violetten Bleistift, den Nägeli findet. Violett, das in diesem Roman nur diesem Bleistift vorenthalten ist, die Farbe der Geistlichkeit, die Farbe des Mystikers. Sie bedeutet Übergang und Eintritt in das Metaphysische. Und der Bleistift ist Kracht selbst, der sich als Dokumentar Nägeli selbst in die Handlung eingewoben hat und unter all den an reale Figuren angelehnte Charaktere als Einziger gänzlich fiktiv ist. Nägeli selbst formuliert schließlich auch das Ziel des Romans, das zugleich auch das Ziel des Films sein soll, den er nun in Japan dreht und sich mit dem Roman den Titel teilt.

"Es wäre immer noch ein Schauerfilm, nur könne man das Unheimliche nur schablonenhaft zeigen, wie es ihm dieser gräßliche Hugenberg in seinem gläsernen Angeberbüro in Deutschland vorformuliert hat. Und es werde keine Vampire geben, keine verdorbenen, degenerierten Asiaten und erst recht keine jungen deutschen Frauen, die sich korrumpieren lassen. Nägeli müsse es statt dessen schaffen, eine Metaphysik der Gegenwart zu gestalten, in all ihren Facetten, vom Inneren der Zeit heraus."1Christian Kracht, Die Toten, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1. Auflage 2016, S.154, Z.4-16

"Oje, wenn das mal nicht symbolisch ist.", stößt schließlich auch Nägeli gegen Ende des Romans hervor. "Nein, ‚Die Toten’ von Christian Kracht ist weder für die Literatur das, was der Ton für den Film ist, noch eine Anbetung dunkler Mächte, sondern ein Werk, das sich messen lassen kann mit den Romanen des großen, ebenfalls oft missverstandenen Humanisten Michel Houellebecq, ein Werk, das uns nur deshalb ins Dunkle führt, damit wir umso klarer sehen, wo das Licht herkommt.", so schreibt Jan Drees vom Deutschlandfunk.

Das Licht kommt aus dem Vorführraum.

Foto: © Frauke Finsterwalder 2016