Stellwerk Magazin

Essay Jeder Künstler ist ein Mensch

Vorwort

„Das Leben ist ein Sturm aus Scheiße und die Kunst ist der einzige Regenschirm dagegen.“ Mario Vargas Llosa

Was aber, wenn die Kunst mein Leben ist? Welcher Schirm schützt mich dann? Die Vorlesung „Medienwirkung“ von Prof. Dr. Nicolas Pethes an der Universität zu Köln reflektiert, welche Auswirkungen, Süchte und Abhängigkeiten Medien auf ihre Rezipienten ausüben. Da ich als Schauspielerin arbeite und somit selbst Reflextionsmaterial biete, stellte sich mir die Frage, wo denn die Kunstschaffenden in der Medienwirkungsdebatte eingeordnet werden können.

In „Faust“ lässt Goethe den Theaterdirektor im Vorspiel auf dem Theater fragen:

„Wie machen wir's, daß alles frisch und neu Und mit Bedeutung auch gefällig sei? Denn freilich mag ich gern die Menge sehen, Wenn sich der Strom nach unsrer Bude drängt, Und mit gewaltig wiederholten Wehen Sich durch die enge Gnadenpforte zwängt“1Goethe: Faust. Stuttgart: Reclam 1971, S. 4

Auch heute fragen sich Intendantinnen und Intendanten: „Wie machen wir es, dass jemand kommt?“ Das Schauspiel Köln wirbt aktuell, in wirtschaftlich unsicheren und von Singlehaushalten überquellenden Zeiten, mit dem ironischen Slogan: „Lust auf was Festes?“ Witzig. Witzig, wenn man bedenkt, dass die Künstler unter befristeten Jahresverträgen arbeiten. Aber dazu später mehr. Nach Artaud ist das Theater „der Zustand, der Ort, die Stelle, wo die menschliche Anatomie begriffen und durch diese das Leben geheilt und regiert werden kann. […] Dort ließ sich der Mensch und das Leben von Zeit zu Zeit erneuern.“2Artaud: Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater. München: Matthes & Seitz 2002, S. 77 Das klingt doch traumhaft. Ein Ort der Regeneration. Alles wird neu und schön und schöner. Aber: Ich habe ein Problem! Ich liebe das Theater und ich hasse es – gleichzeitig! Ich liebe es, Vorstellungen im Theater anzuschauen. Ich hasse es, Vorstellungen im Theater anzuschauen. Es gibt so viele großartige Inszenierungen. Es gibt so viel Schrott. Es gibt hervorragende Schauspielerinnen und Schauspieler. Es gibt furchtbare Künstlerinnen und Künstler auf den Bühnen. Was ist da los? Warum gebe ich dem Medium Theater immer wieder eine Chance? Warum dieser Überschwang an Hass und Liebe? Es ist eine Sucht! Ich bin abhängig. Ich brauche Hilfe. Nein - als eine Süchtige verweigere ich Hilfe und sehe darin auch keine Notwendigkeit. Auch Artaud macht es sich leicht in seinem Theater der Grausamkeiten: „Doch ich werde es ganz einfach vermeiden, krank zu werden, und mit mir eine ganze Welt, die alles ist, was ich kenne.“3Artaud: Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater. München: Matthes & Seitz 2002, S.38

Schadet es meinen Nerven, schlechte Theaterinszenierungen zu sehen?

In der Tragödie sehe ich, wie jemand scheitert. Endlich mal nicht nur ich selbst, die im Leben scheitert. Mehr davon! Nach Schiller unterscheidet das körperliche und sinnliche Leiden den Mensch vom Tier. Ach so. „Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein“, schreibt sein Kollege Goethe. Ich reflektiere. Nach Aristoteles ist die Tragödie eine Nachahmung einer guten, in sich geschlossenen Handlung, in anziehender Sprache. Anziehende Sprache? Aber der Schauspieler auf der Bühne nuschelt. Ich verstehe ihn nicht! Egal, weiter geht’s. Aristoteles sagt: Durch die Nachahmung wird ein „Jammern und Schaudern“ beim Publikum hervorgerufen. Ich „jammere und schaudere“, aber nicht wegen der nachgeahmten Handlung, sondern aufgrund der unmöglichen Nachahmenden. Sprich: der darstellenden Personen, die sich mit Glitzeroverall und Schweinemaske im blau-rot-grünen Flackerlicht mit Discokugelschimmer den Kehlkopf wund schreien. Oder muss das so sein? Artaud spricht ja auch von rhythmischem und ausgeprägtem Keuchen, das „das schimmernde Leben des Schauspielers in seinen tiefen Adern entblößt“. Ich muss einfach hinschauen. Es geht nicht anders. Ich bin ein Sadist. Oder eine Sadistin, ganz wie es Ihnen beliebt. Ich reflektiere Vernunftprinzipien in meinem Handeln.

Es ist ja nur Theater. Ich lerne doch was.

Theater. Was soll da schon schädlich sein? Ist doch ein staatlich subventioniertes Unternehmen, welches seine Angestellten ausbeutet und unter NV-Solo Verträgen knebelt. Nach Schiller soll die Kunst das höhere Vernunftvermögen beim Menschen ansprechen. Aber gerade die Kunstschaffenden lassen sich Grausamkeiten gefallen, um „der Kunst zu dienen“ - wie sie behaupten. Artauds Theater der Grausamkeiten wird gelebt. „Wir sind nicht frei. Und noch kann uns der Himmel auf den Kopf fallen“4Artraud: Das Theater und sein Double. Schluß mit den Meisterwerken. Frankfurt: Fischer 1969, S. 85. Und die Künstler retten sich auf die Bühne. Wir sind keine geistigen Wesen und die Dinge sind physikalisch und „Dinge“ sind es, von denen die Grausamkeiten ausgehen. Wir können uns dem nicht entziehen. Die Grausamkeit besteht in der Eroberung des Raumes. Das Theater zeigt Objekte. Es lebt durch die Interaktion von Körpern auf der Bühne. Es lehrt uns, dass wir nicht frei sind. Genau. Du Künstler - bist nicht frei. Ich kneble dich mit Proben am Wochenende und Proben bis in die Nacht hinein. Denke daran, dass dir da draußen der Himmel auf den Kopf fallen wird. Auch Roland Barthes schreibt in seinen Mythen des Alltags in „Zwei Mythen des Jungen Theaters“, dass sich der Schauspieler dem Dämon des Theaters ausliefert. „Er opfert sich, er läßt sich von innen durch die dargestellte Person aufzehren“5Barthes: Mythen des Alltags, Zwei Mythen des Jungen Theaters. Frankfurt: Suhrkamp 1964, S.21. So viel Hingabe. So viel Selbstaufopferung. Ist das nicht herrlich? Oder einfach nur Flucht? Ich reflektiere.

Ich bin süchtig, weil die Gewaltsamkeit der Welt auf mir lastet, weil sie so im Verfall ist. Ich will mich schützen. Die Medienwirkungsdebatte dreht sich darum, dass vergessen wird, dass es nicht „echt“ ist. Ach so. Aber das Theater gibt es doch wirklich. Da steht es doch in seinem Barockschick. Oder ist es Rokoko? Oder einfach nur von NANU-NANA? Egal. Die Süchtige ist begeistert und findet alles toll. Wie Barthes schreibt, schafft es ein weinender und schwitzender Schauspieler immer sein bürgerliches Publikum mitzureißen. Denn „Ich gebe dem Theater mein Geld, und dafür verlange ich eine gut sichtbare, nahezu berechenbare Leidenschaft!“ Ich erliege der Illusion des Theaters und freue mich! Was macht denn da der Brecht? Mit seinem V-Effekt? Seiner anti-aristotelischen Theatertheorie? Er spricht sich gegen ein Illusionstheater aus. Gegen das „Vergessen“, dass man im Theater sitzt. „Es wurde nicht angestrebt, das Publikum in Trance zu versetzten und ihm die Illusion zu geben, es wohne einem natürlichen, uneinstudierten Vorgang bei“6Brecht: Neue Technik der Schauspielkunst. Berlin: Aufbau Verlag 1981, S.287. Brecht wollte sein Publikum zu einer kritischen Haltung erziehen.

Ok, dann bin ich jetzt mal kleinstadttageszeitungs-kulturbeilagen-kritisch: „Die Schauspieler waren alle gut. Durch die Bank weg. Mimik und Gestik waren sehr überzeugend. Besonders schön anzuschauen waren die Kostüme und der Nebel und das Licht.“ Das Theater erzieht mich zu einem unzufriedenen Staatsbürger. Das Württembergische Pressegesetz von 1808, die Zensurpolizei, hat sich so bemüht meine Sittlichkeit im jugendlichen Alter zu prägen. Fail! Bin ich eine nützliche Staatsbürgerin? Eher nein. Ich bin dreißig und beziehe BAföG. Ich habe als Künstlerin am Theater gearbeitet und mich ausbeuten lassen. Hätte die Zensurpolizei lieber alle Theater geschlossen, dann hätte ich meine Jugend nicht in diesem Lustkerker verbracht und wäre jetzt eine steuerzahlende und berufstätige Mutter. Was ein Witz. Ganz in Kants Sinne: „Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“7Kant: Kritik der Urteilskraft, Kapitel 64. Stuttgart: Reclam 1963, § 54. Lachen muss man, wenn die Erwartung nicht erfüllt wird. Das Leben - ein einziger Witz! HA! Das Lachen birgt die Gefahr, verlacht zu werden. - Schnell! Rette sich wer kann. Am Besten ins Theater.

Oder warum nicht mal in die digitale Welt?

Da muss ich noch nicht einmal mein Bett verlassen. Laptop raus und los. Computerspiele zeigen der Welt, dass sie die Welt spektakulärer darstellen können als sie ist. Mein Avatar vollführt einen Handstand mitten im Kanonenhagel. Er springt mit einem dreifachen Salto über einen Abhang. Das müssen die Schauspieler erst mal nachmachen. Was so ein Avatar alles kann - da muss ein Schauspieler aber lange üben. Zwischen mir, der Spielenden und dem Avatar besteht ein Rückkopplungseffekt. Ich halte unbewusst den Atem an, wenn er ein schwieriges Hindernis überwindet. Ich rufe laute, fluchende Worte in den Raum, wenn mein Avatar stirbt. Ich spüre: emotionales Mitfühlen. Mein Avatar: Ich liebe dich. Du lässt dich erschießen und prügeln und stehst doch immer wieder auf, für mich. Kann ich noch einmal sehen, wie du dem Alien den Kopf abhackst? Das hatte so etwas Sinnliches. Die Leute schauen sich gern Furchteinflößendes und Unerfreuliches an. Wälzen sich mit Freude in ihren Tränen. Auch Schiller wusste: Der „große Haufen“ will special effects. „Ohne die Magie zu durchblicken, vermittelst welcher die Kunst diese Macht über ihn ausübte.“8Schiller: Theoretische Schriften, Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, Berlin: Hofenberg 2004, S.89 Sehr gut. Blut, Schweiß, Spucke, Kot ziehen immer. Also übergieße ich mich auf der Bühne literweise mit Kunstblut. Das kommt gut an. Problem: Der Saal ist leer. Keiner zwängt sich durch die enge Gnadenpforte oder bricht sich „wie in Hungersnot um Brot an Bäckertüren, um ein Billet sich fast die Hälse“9Goethe: Faust. Stuttgart: Reclam 1971, S. 4.

Es will einfach keiner sehen. Ich bin allein. Ich befinde mich in einem Zustand der psychologischen Empathie mit mir selbst. Lessing betritt den Raum und er schaudert und jammert nicht. Er hat Mitleid mit mir. Wir fürchten uns beide in diesem großen Theatersaal, mit seinen Scheinwerfern und seinem schwarzen Loch, dem Zuschauerraum. Lessing und ich gehen Arm in Arm in die Kantine und trinken ein Feierabendbier.

Headerbild: Claudia Mooz