Stellwerk Magazin

Rezension It’s politics, stupid!

Vorwort

In Kooperation mit dem Bonner Literaturmagazin KRITISCHE AUSGABE veröffentlicht das STELLWERK-Magazin in dialogischer Form die Lektüreeindrücke zum “Jahrbuch der Lyrik” 2017. Das Jahrbuch, das bereits dafür gelobt wurde, den “Nerv der Zeit” (Björn Hayer, BÜCHERmagazin) zu treffen und ein “poetisches Jetztzeitbild der Bundesrepublik” (Matthias Ehlers, WDR 5 Bücher) zu erstellen, wird nun im Austausch zwischen den beiden Literaturwissenschaftlern Maximilian Mengeringhaus (Berlin) und Michael Wetter (Bonn) noch einmal genauer unter die Lupe genommen.

Den Auftakt macht Maximilian Mengeringhaus mit einem Beitrag, den die kritische Frage nach der Kategorie einer politischen Lyrik umtreibt: “It’s politics, stupid!” Den Link zu der Rezension “Haltbar bis Ende?” von Michael Wetter in der KRITISCHEN AUSGABE findet ihr am Ende des Artikels.

Christoph Buchwald/Ulrike Almut Sandig (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2017. Schöffling & Co.: Frankfurt a. M. 2017. 232 Seiten. ISBN: 978-3-89561-680-8. 22,00 Euro.

„Poesie heißt, wer gewinnt, verliert“, schreibt Sartre, in einer Meditation über die Unvereinbarkeit von Lyrik und politischem Engagement, kurz nach dem Krieg in seinem missverstandenen wie auch -verständlichen Essay Was ist Literatur? Weiterhin heißt es an dieser Stelle:

„Der authentische Dichter wählt, zu verlieren bis zum Tod, um zu gewinnen. Ich wiederhole, daß es sich um die zeitgenössische Poesie handelt. Die Geschichte bietet andere Formen der Poesie. Es ist nicht mein Thema, ihre Verbindungen mit der unsern zu zeigen.“1Sartre. Jean Paul: Was ist Literatur? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 23.

Der Auftrag des Jahrbuchs der Lyrik ist es derweil, jene Verbindungen sichtbar zu machen, die die lyrische Produktion eines Jahres – nach dem Wechsel zu Schöffling & Co. wird die Turnusfrequenz wieder aufs jährliche Erscheinen hochgeschraubt – ausmacht: Welche Stoffe beschäftigen die auf Deutsch schreibenden – und neuerdings auch: ins Deutsche übersetzenden – Autoren (zumeist in Deutschland lebende; Schweizer, Österreicher, Luxemburger et al. bilden die Ausnahmen); welche Handhabung erfahren diese Themen, welche Formen und Vorbilder sind (wieder) im Kommen? Und so weiter.

Über Lyrik und Gesellschaft

Dem ständigen Herausgeber Christoph Buchwald zufolge, lassen sich von, durch und mit der Lyrik gar die ganz großen Zusammenhänge erkennen: „Wer wissen will, wie es um den derzeitigen mentalen Wasserstand im deutschen Sprachraum bestellt ist, sollte das Jahrbuch für Lyrik regelmäßig lesen. Welche Bilder von Geschichte, Gegenwart, Zukunft, Welt, Umwelt, Körper und Geist werden da entworfen? Welche Ideen von Glück, Leben und Gesellschaft treiben uns um? Wie und wohin haben sich die in den fast vierzig Jahren, die es das Jahrbuch jetzt gibt, verändert?“ (217)

Bei der Auswahl aus Pi mal Daumen 5000 Einsendungen gehe es, wie auch anders, schlichtweg um die jeweilige Qualität, die die Texte als Gedichte ausmacht. Einen Kriterienkatalog zur freiwilligen Selbstkontrolle liefert der Herausgeber gleich mit: „1. Formbewusstsein; 2. im Gedicht sollte mehr stehen, als die dazu verwendeten Wörter bezeichnen; 3. Kenntnis der Tradition; 4. Erkenntnisgewinn; 5. Sprachbewusstsein.“ (216) Gute Gedichte, so ließen sich die beiden Statements kurzschließen, sind demnach als formvollendete Paradestücke einer ästhetischen Theorie der Lyrik hochsensible Seismographen der Gegenwart (mitsamt allen in diese reinflackernden Zeitebenen). Der Klappentext,– nehmen wir die Ankündigung ernst, und sollten wir das nicht?, worüber soll man bei einer Anthologie sinnvollerweise denn sprechen, wenn nicht über deren Konzeption und Programmatik? – scheint die von Buchwald umrissene Poetologie der Zusammenstellung zu untermauern: „die besten zeitgenössischen Gedichte“ fänden sich versammelt, sortiert in „thematischen Kapiteln“. All diese Sektionen scheinen allerdings ein und dieselbe Frage aufzuwerfen, wie der Klappentext weiter verrät: „In welchem Maße ist die Gegenwartslyrik Echo und Spiegel unserer Zeit? Wie tief sitzt das Misstrauen gegen politische Ideologien und Rezepte? Offensichtlich ist: Die Sicht auf Geschichte und Gesellschaft ist nur mit subjektiver Herangehensweise glaubwürdig zu artikulieren, der persönliche Blick verweist auf das große Ganze.“

Politische Lyrik – Eine Gretchenfrage

Fragen über Fragen und schließlich ein Postulat. Die Beschäftigung mit der Politik, der Suche nach der Aussöhnung aller mit allen, wird zum Antipoden erkoren, wo der Universalismus der Überzeugungen in Gleichmacherei ende. Auf einmal ist das Gedicht wieder die letzte Bastion der Subjektivität; wer das Partikulare nicht als Besonderheit aufführt, der nimmt ihm sein Recht. Fürsprache ist Anmaßung, derweil der hermeneutische Zirkel zur Geraden gebogen wird: Vom Einzelnen zum Ganzen, heißt die Zauberformel zur Entzauberung ideologischer Scharlatanerie. Sartre würde sagen:

„Dichter sind Menschen, die sich weigern, die Sprache zu benutzen.“2Ebd., S. 16.

Die Wörter sind den Dichtern Gegenstände, während die zu politischem Engagement fähigen (Prosa-)Schriftsteller sie als Zeichen benutzen, als unbedingte Mittel zur Kommunikation. Der Schriftsteller soll wirken, wo noch etwas zu retten ist. Während der Dichter die vielfarbig funkelnde Schönheit des Scherbenhaufens schließlich nur noch dokumentiert. In gewisser Weise ist das nicht so weit weg von einer adornitischen Deutung des Kunstwerks als Stigma des Künstlers, das der Welt mit offenen, ansonsten leeren Händen vorgehalten wird. In anderer Hinsicht erinnert das Plädoyer für einen subjektiven Zugang zu den Minenfeldern Politik und Geschichte, schwer genug auseinanderzuhalten, verdächtig an jene ‚Neue Subjektivität‘ der 1970er und auch noch 80er Jahre, mit deren Eskapismus weder Christoph Buchwald („»Selbsterfahrungstexte« hießen die damals, o je“ (217)) noch die Mit-Herausgeberin Ulrike Almut Sandig viel am Hut haben: „Es wird wieder politisch gedichtet, aber unter neuen Vorzeichen: Die Dichter und Dichterinnen dieses Bandes versuchen gar nicht erst, es besser zu wissen als ihre Leserschaft. Es ist ein Schreiben auf Augenhöhe, und vielleicht ist es genau diese längst überfällige Emanzipation vom Geniedenken vergangener Epochen, die ein politisches Sprechen im Gedicht wieder möglich macht.“ (213)

Maximilian Mengeringhaus studierte deutsche Sprache und Literatur sowie Philosophie an der Universtät zu Köln und promoviert nach einem Zwischenstopp beim Suhrkamp Verlag von 2015 bis zum Sommer 2017 nun an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien in Berlin.

Man kann nur damit einverstanden sein, dass ein Lyriker als Ästhet von Hause aus, so er nicht eng sich an die Materie schmiegt und mit ihr arbeitet, keine Rechtfertigungsgrundlage hat, aus apollinischem Gottesgnadentum heraus grundsätzlich mehr von Politik zu verstehen, als ein Lottoladenbesitzer. Andererseits soll das Gedicht dem Leser doch etwas sagen, das er nicht ohnehin schon weiß. „[I]m Gedicht sollte mehr stehen, als die dazu verwendeten Wörter bezeichnen“, die Lektüre solle schließlich einen „Erkenntnisgewinn“ liefern, wie der weiter oben bereits angeführte Kriterienkatalog der Herausgeber konstatierte. Nicht das Genie soll dozieren, sondern das Subjekt kommentieren. Das klingt auf wünschenswerte Weise demokratisch. Politischer als das wird es aber auch nicht. Die Frage stellt sich, was Politik für die Lyrik und darüber hinaus, was politische Lyrik ist? Und warum steht diese überhaupt so im Fokus? Ist so etwas wie soziologische Lyrik denn nicht ebenso viel wert. Ist denn soziologische Lyrik überhaupt vorstellbar?

Nimmt man das 2. Kapitel unter der Überschrift „völkerball“ mit seinen 45 Gedichten, so mag ich guten Gewissens in das Lob vieler Rezensenten einstimmen, dass Dagmara Kraus mit „deutschyzno moja“ ein großer Wurf gelungen ist. Hier sehe ich tagespolitische Debatten aufgegriffen und mit den ästhetischen Mitteln der Literatur reflektiert, sodass die Bearbeitung mehr liefert, als das Ausgangsmaterial ohnehin bietet. Aus dem Kapitel gefallen mir weiterhin die Gedichte Gerald Fiebigs, Anne Dorns und Saskia Fischers nach mehrmaligem Lesen ziemlich gut; die enthaltenen Beobachtungen über die Vielfalt und Verlogenheit urbaner Lebensräume sind so konzis wie bissig, es ist beeindruckend wie viele Affekte bspw. Fischer in Verbindung mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch evozieren kann. Hervorheben möchte ich aus dem Rahmen des Kapitels außerdem Mara-Daria Cojocarus meditatives „Stück vom Himmel“: Als Journal über die Himmelsrichtungen wird protokolliert, wie die Wolken sich in Schale werfen, es entsteht ein einnehmendes Tagtraumtagebuch in nuce. Appliziert man jene Buchwaldschen Kriterien auf diese Texte, kann man hinter die meisten Punkte einen Haken setzen. Oder die Texte gefallen vom Sound her, was weiß ich. Aber politisch ist an diesen Texten doch nichts. Gesellschaftskritisch, okay, aber diese Kategorie ist aufgrund ihrer wischiwaschihaften Omnipräsenz berechtigterweise nicht der Rede wert, oder?

Eine autonome Szene

Ich frage mich, warum diese Texte nicht einfach Gedichte sein dürfen; Subjektivität verstanden als ‚jedem Gedicht sein Thema‘. Warum muss das Jahrbuch überhaupt in thematische Kapitel unterteilen? Natürlich lassen sich Bezüge erkennen und Verbindungen ziehen, aber ist das bei über 200 Seiten Texten nicht zwangsläufig der Fall? Warum ist das zweite Kapitel politischen Texten verschrieben, das dritte dann den Utopien – und wo ist eine sinnvolle Trennlinie zwischen beiden Konzepten aufzusuchen? Eine Agenda, wie sie Klappentexte und Nachworte nahelegen, hat die Auslese eigentlich nicht nötig. Die Herausgeber haben anregende Texte versammelt, man findet vieles, von dem man wusste, dass es einem gefallen würde, andere Neuerungen wie der Einbezug von Bildgedichten erscheinen ganz nett, aber nicht als Sensation, vieles ist vor allem aber kennenzulernen, darum geht’s. Im Kleinen lässt sich vielleicht darüber diskutieren, wer mit wie vielen Texten vertreten ist; schon bei der Frage jedoch, wer fehlt, wird es lächerlich – und anmaßend den Herausgebern gegenüber. Rein subjektiv gesehen haben mich in diesem Jahrbuch – neben den bereits genannten – Gedichte von Carl-Christian Elze, Özlem Özgül Dündar, Lars Reyer, Yevgeniy Breyger, Asmus Trautsch und Judith Hennemann – aus den unterschiedlichsten Gründen – am meisten gepackt; manche hat man in guter Erinnerung, andre haben einen überrascht. Die Lektüre dieses und eines jeden vorherigen wie weiteren Jahrbuchs für Lyrik kann ich bereits in Hinblick auf sicher zu erwartende Fundstücke nur empfehlen; ohne eigens eine Antwort parat zu haben, möchte ich darüber hinaus die Frage nach der politischen Lyrik weiter zur Diskussion gestellt, aber nicht zwingend als Gebrauchsanweisung einer auf Überblick zielenden Auswahl anheimgegeben sehen.

Diskutieren wir doch, gegen Sartre, die Frage, wie es um die Kommunikationsbereitschaft und -möglichkeit des Gedichts bestellt ist. Und debattieren wir – warum nicht mitunter auch polemisch – wie aktuell eine weitere Analyse Sartres nach 70 Jahren vielleicht auch für die gegenwärtige Lyrik noch sein kann:

„Ich sage, daß die Literatur einer bestimmten Epoche entfremdet ist, wenn sie nicht zum ausdrücklichen Bewußtsein ihrer Autonomie gelangt ist und sich den zeitlichen Mächten oder einer Ideologie unterwirft, mit einem Wort, wenn sie sich selbst als ein Mittel und nicht als einen unbedingten Zweck betrachtet. […] Ich sage, daß eine Literatur abstrakt ist, wenn sie noch nicht die volle Sicht ihres Wesens erlangt, wenn sie lediglich das Prinzip ihrer formalen Autonomie gesetzt hat und das Sujet des Werks für gleichgültig hält.“3Ebd., S. 117.

Zur Rezension von Michael Wetter unter dem Titel „Haltbar bis Ende?" in der KRITISCHEN AUSGABE geht's hier entlang!

Die Redaktion empfiehlt passend zu diesem Artikel:

Haltbar bis Ende? | KRITISCHE AUSGABE
Jahrbuch der Lyrik 2017