Stellwerk Magazin

POETICA 5 Literatur als Herzensangelegenheit

Vorwort

Wozu dient Literatur, wenn sie nicht das Herz der LeserInnen erreicht? Unter dieser Leitfrage stand der vorletzte Abend des Literaturfestivals Poetica. Vor der Abschlussveranstaltung mit allen AutorInnen im Schauspiel Köln widmete sich das Festival dem Werk seines Kurators, dem schwedischen Autor und Übersetzer Aris Fioretos. In der atmosphärischen Location des Sancta-Clara-Kellers sprach Fioretos mit dem Literaturkritiker Denis Scheck über „diesen wilden Muskel“ – genauer: Literatur als Herzensangelegenheit.

„Literatur ist wie Geschlechtsverkehr“

Fünf Tage lang haben sich Kurator Aris Fioretos und seine eingeladenen AutorInnen auf die Suche nach dem Rausch in der Literatur begeben. Das reichte vom Wortrausch bei Oswald Egger über den Rausch im Rhythmus bei Lebogang Mashile, Extremerfahrungen in den Werken von Christian Kracht bis hin zum Verlust der Gravitation bei Mircea Cărtărescu. Fioretos schlägt im Gespräch mit Literaturkritiker Denis Scheck („Druckfrisch“ in der ARD) nun einen anderen Weg ein: Wann führt Literatur zu körperlichen Reaktionen, und – wie kann der/die AutorIn diese evozieren? Genähert wird sich der Frage über Auszüge aus Edgar Allan Poes Erzählung Das verräterische Herz, die von Schauspieler Philipp Pleßmann gelesen werden, der auch die überaus gelungene musikalische Begleitung des Abends übernimmt. Aris Fioretos entdeckte diesen Text als Zehnjähriger und machte erstmalig die Erfahrung, dass ein Text eine körperliche Reaktion in ihm auslöst – Gänsehaut, Erschütterung, eine magische Anziehungskraft. Beim Lesen stelle sich ein Zustand des Zeitvergessens ein. Scheck lenkt ein, als „Zocker“ kenne er das eher vom Kartenspielen. Gelächter im Publikum. Die Moderation durch den Fernseh-Literaturkritiker Scheck tut dem Abend gut. Durch kleine, humorvolle Einschübe lockert er die Stimmung auf und nimmt gleichzeitig den Ausführungen von Fioretos nie den Raum. Von Beginn an genießt Fioretos, der bislang bei jeder Veranstaltung der Poetica auch als Moderator tätig war, das Gast-Sein – und erzählt anregend und distanzlos. Auf die Frage Schecks, wie ein Autor denn diesen Leserausch erzeugen könnte, antwortet Fioretos ohne zu zögern: „Um ehrlich zu sein, es ist ein wenig wie beim Geschlechtsverkehr. Es sollte nicht direkt zur Sache gehen, zunächst müssen die erogenen Zonen erweckt werden.“

Schreiben als Verhaltensstörung

Als Leitmotiv gilt Fioretos ein Bild des großen russischen Autors Vladimir Nabokov, dessen Werke er ins Schwedische übersetzte: gute, „wahre“ Literatur rufe ein Kribbeln im Rücken hervor. Wenn sich dieser Zustand nicht einstelle, sollte man besser das Buch wechseln, kokettiert Fioretos. Gleichzeitig legt der Autor als Ziel für seine eigene Literatur fest, eine Balance zu schaffen, wenn es zur Faszination des Herzens kommt: den Zustand der Erregung ebenso hervorzurufen wie eine kritische Distanz. Diese Ambivalenz greift Scheck durch eine Aussage W.G. Sebalds auf, laut dem das Schreiben auch immer eine Verhaltensstörung sei. Lachend gibt Fioretos zu: „Die meisten Autoren sind schon ein wenig gestört!“ Die Frage sei jedoch, wie man damit umgehe. Für den schwedischen Autor selbst sei Schreiben immer ein Ventil zwischen Innen und Außen gewesen. Als Kind österreichisch-griechischer Eltern in Schweden ging es ihm in seiner Jugend immer darum, das Nebeneinander der schwedischen Kultur kennenzulernen und mit der Andersartigkeit in seiner Familie klarzukommen. Anschaulich wird dies für die ZuhörerInnen an einer Anekdote aus seiner Kindheit: So habe er sich zu seinem zehnten Geburtstag von seinen Eltern gewünscht, dass diese die schwedische Nationalhymne singen.

„Als hätte jemand das Licht angemacht“

Nach rund einer Stunde anregenden Gesprächs liest Aris Fioretos dann endlich selbst aus seinen Werken. In diesen suche er immer wieder nach Fremderfahrungen und wolle herausfinden, was er selbst noch nicht weiß. Einen kleinen Seitenhieb auf den norwegischen Schriftsteller-Kollegen Karl Ove Knausgard kann er sich dabei nicht verkneifen: einige AutorInnen erzählten in endlosen Schlaufen nur von sich selbst (Knausgard schrieb einen sechsteiligen, autobiographischen Romanzyklus). In seinem Roman Mary (Hanser, 2015) beschäftigte Fioretos sich mit dem griechischen Studierendenaufstand von 1973 gegen die Militärdiktatur. Im Mittelpunkt steht jedoch die Schwangerschaft der Protagonistin Mary. Als Mann habe er in sozialen Medien auch viel Kritik dafür einstecken müssen, über Schwangerschaften zu schreiben, erzählt Fioretos. Doch ihm gehe es darum, sich in fremde Situationen zu versetzen und diese zu ergründen. Dies gelingt ihm mit einer Mischung aus Leichtigkeit und Schwere. Im gelesenen Romanauszug wird in gefühlvoller, wie reduzierter Sprache von Marys Schwangerschaft berichtet. Das Bild des kleinen Astronauten in ihrem Körper, auf den die Schwerkraft nicht wirkt, dürfte vielen ZuhörerInnen noch lange im Gedächtnis bleiben. Denis Scheck spricht den Autor darauf an, dass dieser beim Schreiben des Romans eine Begegnung mit dem „existenziell Höchsten“ gehabt habe. Im Sinne Roger Willemsens erläutert Aris Fioretos, sichtlich gerührt, den einen Knacks, nachdem man nicht mehr so schreibe, wie zuvor. Alles sei zugleich ernster wie leichter geworden, als habe jemand das Licht angeknipst. Als Autor fühle er sich angekommen und möchte diese Art zu Schreiben beibehalten.

Liebeserklärung an Fräulein Uhr

Dies wird auch an einem Auszug aus seinem neusten Roman Nelly B.s hjärta (Nelly B.s Herz, 2018) deutlich, den Fioretos im Anschluss liest. Angelehnt an das Leben einer deutschen Flugpionierin wagt Fioretos sich an das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe zwischen Frauen. Gelesen wird ein Auszug, der unmittelbar nach der ersten Liebesnacht der Frauen spielt. Wie schon bei Mary kann man sich als Zuschauer in den nuancierten und gekonnt komponierten Erzählungen Fioretos‘ verlieren. Und sich gleichzeitig darüber freuen, dass sich hier kein abgedroschenes Wort, kein überladenes Bild über die Liebe findet. Zum Abschluss des Abends liest Aris Fioretos, wie könnte es anders sein, eine Liebeserklärung. Adressatin ist „Fräulein Uhr“, die Stimme der ehemaligen telefonischen Zeitansage in Schweden. Bei einem Blick auf eben jene Uhr wird klar: dieser Abend war eine Liebeserklärung an die Literatur selbst – wie sonst wäre die Zeit wie im Rausch vergangen.

Fotos: © Silviu Guiman