Stellwerk Magazin

Poetica 5

Vorwort

Dieses Jahr fand die Poetica, das Kölner Festival für Weltliteratur, zum fünften Mal statt. Es wurde 2014 von Günter Blamberger und Heinrich Detering gegründet. Kennzeichnend für die Festivalform der Poetica ist die Verbindung von Literatur, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Lesungen und Gesprächen. Ein Kurator setzt ein Leitthema und wählt Autoren aus, mit denen er die Landkarten der Weltliteratur neu vermisst. Der Kurator ist dabei gleichzeitig Fellow am Internationalen Kolleg Morphomata der Universität zu Köln, das das Festival veranstaltet, in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Kultureinrichtungen der Stadt Köln wie dem Schauspiel, dem Literaturhaus, der Stadtbibliothek et al.

Die Poetica 5, vom schwedischen Autor Aris Fioretos kuratiert, trug den Titel „Rausch. States of Euphoria“. Eingeladen waren Mircea Cărtărescu (Rumänien), Oswald Egger (Österreich), Christian Kracht (Schweiz, USA), Mara Lee (Schweden), Lebogang Mashile (Südafrika), Agi Mishol (Israel), Marion Poschmann (Deutschland) und Jo Shapcott (England). Agi Mishol konnte leider nicht teilnehmen, da sie sich den Arm gebrochen hatte.

In den Lesungen und Interviews der Auftaktveranstaltung in der Aula II der Universität zeigten sich die verschiedenen Temperamente, mit denen Autoren auf das Thema Rausch reagieren, auf die Fragen des Kurators, wie denn eine Sprache des Kontrollverlustes aussehen könne? Ob es sie wirklich gäbe: die künstlichen Paradiese? Ob es für die Entstehung von Texten Rauschmittel brauche oder Texte selbst Rauschmittel für den Leser sein könnten? Die Gedichte der Autoren waren sowohl in der jeweiligen Muttersprache zu hören wie in der deutschen Übersetzung, vorgetragen von den Schauspielern Nicola Gründel und Philipp Pleßmann. Die Virtuosität der Performanz wurde so gedoppelt und es entfaltete sich das ganze, kulturell so unterschiedliche Potential des Sprachklangs, der ein rauschhaftes „außer sich“-Sein jenseits der diskursiv-begrifflichen Sprache hervorrufen kann, beim Dichter wie seinem Publikum. Zwischen den Lesungen gab es einen Vortrag von Günter Blamberger zu ‚Minima Ecstatica‘, zum Zusammenhang von Rausch und Poesie in seinen literaturgeschichtlichen Facetten vom Musenenthusiasmus bis zu den Drogenexperimenten der Avantgarde, zur Ambivalenz ekstatischer Gefühle im Ästhetischen wie im Politischen, wie zur Frage, was von der schöpferischen Kraft der Ekstase heute noch zu halten sei.

In extremis

In der nächsten Veranstaltung am Dienstag, dem Gespräch „In Extremis“ zwischen Aris Fioretos und dem schweizerischen Autor Christian Kracht wurde deutlich, dass die konventionelle Vorstellung eines engen Zusammenhangs zwischen Rauschzuständen des Autors und seinen Texten nur vielfach gebrochen erscheinen kann. Im Gespräch wies Fioretos darauf hin, dass Alkohol und Drogen in Texten wie Faserland und 1979 eine wichtige Rolle spielen. Aber Kracht machte deutlich, dass er sich als Regisseur seiner Figuren versteht und damit klare Distanz schafft. Kracht, der Virtuose des Spiels mit seiner Autorenidentität, lieferte keine einfachen Antworten. Fragte Fioretos ihn nach der auffälligen Codierung des Buchstaben H in Krachts Roman Die Toten und bot ihm eine anspruchsvolle Interpretation dieser Überdetermination an, so reagierte dieser mit einem handwerklichen Argument: Er nutze solche Techniken, um das Interesse der Leser nicht zu verlieren. Als Antwort auf Fragen nach der Deutung seiner Texte war es Kracht am liebsten, so schien es, diese einfach vorzulesen und für sich sprechen zu lassen.

Angeregte Zustände

Abends war Kracht zusammen mit dem rumänischen Autor Mircea Cărtărescu in der Zentralbibliothek der Stadtbibliothek Köln unter dem Thema „Angeregte Zustände“ zu hören. Cărtărescu entwickelte eine Poetik der Poesie jenseits der Verse: Für ihn ist Poesie sogar häufiger gerade nicht in Gedichten zu finden, vielmehr ist sie eine Welthaltung, ein besonderer, neugieriger, kindlicher, offener Blick auf die Welt, der überall zu finden ist. Im Gespräch erläuterte er außerdem sein Schreibverfahren: Wenn er literarisch schreibt, korrigiert er seinem Bekunden nach nie. Wichtiger noch als das literarische Schreiben seien ihm seine Tagebücher. Von Cărtărescus geradezu kosmologischem Gedicht Die Liebe zeigte sich Christian Kracht so beeindruckt, dass er andeutete, aus Demut die Bühne verlassen zu müssen. Der Autor trat sehr authentisch auf und erzählte sogar von einer persönlichen Schreibszene. Zwischen Lesungen aus Die Toten und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten erläuterte er im Gespräch mit Fioretos seine poetologischen Strategien, die sich durch die Adaption filmischer Verfahren und einen hochgradig reflektierten Ästhetizismus auszeichnen.

Orte der Sehnsucht

Der folgende Abend war der deutschen Autorin Marion Poschmann und dem österreichischen Autor Oswald Egger im Kölner Literaturhaus unter dem Motto „Orte der Sehnsucht“ gewidmet. Poschmann las aus ihrem Gedichtzyklus Coney Island Lunapark, in dem über die durch den Hurrikan Sandy zerstörten Attraktionen eine Dialektik von Kultur und Natur erzeugt wird. Im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Barbara Naumann wurde deutlich, dass dies keine eigentlichen Sehnsuchtsorte seien. Auf melancholische Weise trifft das paradoxerweise eher auf die Orte zu, zu denen die Protagonisten ihres Romans Die Kieferninseln reisen: zu den im Complete Manual of Suicide beschriebenen japanischen Orten des Selbstmordes, wie zu den titelgebenden Kieferinseln. Der von Oswald Egger vorgetragene Auszug aus seinem Buch Val di Non zeigte einmal mehr, dass es sich bei Eggers Gedichtlesungen eigentlich um eine eigene multimediale Gattung handelt, für die die gedruckten Texte nur die Partitur liefern. Über die semantische Ebene legen sich die durch Klangähnlichkeiten, Häufung gleichklingender konsonantischer Anlaute, Akkumulationen bestimmter Vokale in aufeinanderfolgenden Wörtern erzeugten Ebenen, die der Autor mit kontrollierter Virtuosität zum Klingen bringt. Das Suggestive der Logik seiner Sprache – sein bei der Auftaktveranstaltung gelesener Text So gesehen beginnt mit der Frage „Sehe ich den Sinn?“ – führte er auch im Gespräch mit Aris Fioretos weiter, dessen intellektuell-präzise Fragen Egger immer wieder durch alogische Gedankenketten ins Eigentümliche seines Sprachdenkens überführte.

Auswertung der Flugdaten

„Auswertung der Flugdaten“ hieß der – von Thomas Kling geliehene – Titel einer Diskussion in der Bibliothek des Internationalen Kollegs Morphomata, die von einem Impulsvortrag Barbara Naumanns eingeleitet wurde und sich um die Schwebezustände des Rausches, um Fragen der levitas und gravitas von Literatur drehte, um Fragen der Körperlichkeit, des In-Sich-Seins oder Außer-Sich Seins wie um Incitamente des Schreibens. Mircea Cărtărescu meinte launig, dass Publikum wolle doch nur wissen, ob die Dichter Drogen nähmen. Er brauche keine. Mara Lee bezeichnete Fitnesstraining als ihre Droge, Oswald Egger erzählte davon, wie er in seiner Kindheit Weinkäufern den Wein beschrieben habe, ohne selbst davon getrunken zu haben.

Das ist Poesie

Abends waren Mara Lee, Lebogang Mashile und Jo Shapcott zum Thema „Das ist Poesie“ im Amphitheater des Alten Pfandhauses zu hören. Mara Lees Gedicht Der Hass und die Liebe schloss mit einem Vers über die „Würgeleine, die man Liebe nennt“, ein für Lees Gedichte in ihrer Ambivalenz, in ihrer – wie sie offen bekannte – Schaffenskraft aus der Negativität heraus sehr bezeichnender Vers. Im Kontrast dazu füllte Lebogang Mashile als langjährige Performerin und Schauspielerin das Amphitheater mit ihrer beeindruckenden Bühnenpräsenz. Die deutlich postkoloniale, aktivistische Tendenz ihrer von starken Metaphern durchzogenen Lyrik gewinnt noch durch ihren eindringlichen Vortragsstil. In ihrem Gespräch mit Aris Fioretos wurde deutlich, dass sie eine Position der bewussten Andersartigkeit verfolgt, dass das Thema der otherness immer auch ein Thema ihres Künstlerdaseins sei. „Seek the answers in your own voice before you look to anyone else“, so heißt es ganz programmatisch in ihrem Gedicht I smoked a spliff with Jesus Christ. Mit Gedichten wie I Tell The Bees schloss Jo Shapcott den Abend. In diesem Gedicht wird die Protagonistin, nachdem sie von einem Imker verlassen wurde, selbst in Bienen verwandelt, sie erlernt selbst die komplizierten Tänze der Bienen – und in ihr bleibt auch nach der Rückverwandlung ein Rest der hexagonalen Waben übrig. Diese Transformation ist typisch für Shapcotts Technik des Aus-sich-Heraustretens in der Lyrik; gleichzeitig bekennt sie sich zu einer ekstatischen, euphorischen Haltung des Schreibens.

Dieser wilde Muskel

Am Freitagabend war im Sancta-Clara-Keller der Kurator selbst in einem Gespräch mit Denis Scheck unter dem Titel „Dieser wilde Muskel“ zu hören, musikalisch begleitet von Philipp Pleßmann. Die sehr stark auf die Gefühle des Autors beim Schreiben ausgerichteten Fragen Schecks nutzte Fioretos, um unter anderem seine eigene Lesesozialisation, seine literarischen Vorbilder und seine Schreibverfahren zu thematisieren. Ein Schlüsselerlebnis war für Fioretos als Kind die Lektüre von Edgar Allen Poes Telltale Heart, für ihn der „Glutkern“ einer ursprünglichen Leseerfahrung. Literatur versteht der schwedische Autor als „Retrospektive“ auf rauschartige Zustände, in der diese sprachlich geformt werden. Vladimir Nabokov, von dem er viele Romane ins Schwedische übersetzt hat, war lange Zeit für ihn eine wesentlich prägende Figur; für ihn selbst spielte das Aufwachsen zwischen den Sprachen Deutsch und Schwedisch eine wichtige Rolle. Höhepunkt des Abends waren die Lesungen aus seinem neuen, in deutscher Übersetzung noch nicht erschienen Roman Nelly B’s Herz.

Enthüllung/Verhüllung

Den großen Abschluss der Poetica 5 bildete am Samstagabend die szenische Installation „Rausch. States of Euphoria“ im Schauspiel Köln mit den Autorinnen und Autoren und den Schauspielern Yuri Englert, Nicola Gründel, Lola Klamroth, Justus Maier und Philipp Pleßmann, der auch die Regie führte. Der Charakter eines Literaturfestivals zwischen Enthüllung und Verhüllung war durch das Bühnenbild sehr gut eingefangen, das die Autorinnen und Autoren hinter einem gazeartigen, durchsichtigen Vorhang platzierte. Mit Hilfe von Live-Videoprojektionen der Szenerie auf den Vorhang wurde der Effekt einer gleichzeitig physischen und medialen Präsenz verstärkt. Ein rauschhaftes Highlight war die duettartige Performance des Gedichts Vulva Volcanoes durch Lebogang Mashile auf Englisch und Nicola Gründel auf Deutsch.

Das von Aris Fioretos und Günter Blamberger konzipierte und von Marta Dopieralski und dem Team der Morphomata-Mitarbeiter gut organisierte Festival erlebte vom Auftakt an, bei dem 700 Zuhörer auf den Einlass drängten, einen Publikumsansturm ohnegleichen. Die wichtigsten Texte des Festivals sind in der beim konkursbuch Verlag erschienenen Publikation poetica 5. Rausch. States of Euphoria. (hg. von Aris Fioretos, Günter Blamberger und Marta Dopieralski) nachzulesen. Jetzt heißt es warten auf die Poetica 6.

Fotos: © Silviu Guiman