Stellwerk Magazin

Rezension Tödliche Seifenoper

Vorwort

In seinem jüngsten Roman “Die Tagesordnung” entreißt Éric Vuillard den Nazi-Größen des Dritten Reichs erfolgreich ihre Maskerade.

Éric Vuillard: Die Tagesordnung. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 118 Seiten, 18 €.

Nicht auf strahlenden Bühnen, sondern in schummrigen Hinterzimmern wird Geschichte gemacht. Da werden Hände geschüttelt, wird Smalltalk geführt und diniert, während mit ein paar beiläufigen Unterschriften die Zukunft gestaltet wird. Der französische Autor Éric Vuillard versteht sich darauf, diese dunklen Winkel der Weltgeschichte auszuleuchten und zugespitzt wiederzugeben. In seinem neuen Buch richtet er seinen literarischen Scheinwerfer auf die Zeit ab der Machtergreifung Hitlers bis hin zum „Anschluss“ Österreichs 1938. Im klaren Schein von Vuillards Sprache erkennt man die politischen Figuren von damals schließlich als das, was sie sind: schlechte Schauspieler auf der einen, und schwächliche Zuschauer auf der anderen Seite. Zusammen zeigen sie: „Die Welt gehorcht dem Bluff“.1Vuillard, Éric: Die Tagesordnung. Dritte Auflage. Berlin: Matthes und Seitz 2018. S. 92.

Zum ersten Mal angeknipst wird das Licht bei einem Treffen von Wirtschaft und Politik am 20. Februar 1933 im Reichstagspalais in Berlin. Die Herren Krupp, Siemens, Opel und die anderen Wirtschafsgrößen des Deutschen Reiches lassen sich hier nicht lange bitten, um nach kurzer Ansprache von Göring und Hitler die klammen Wahlkampfkassen der NSDAP wieder aufzufüllen. Schnell „kommt ein hübsches Sümmchen zusammen“,2Ebd.: S. 18. die Naziherrschaft ist vorerst gesichert. Vuillard macht mit dieser Szene sofort klar, worum es ihm geht: Er möchte Geschichte begreifbar machen, indem er zeigt, was wirklich hinter den Fassaden steckt. Die Spenden sind zwar „ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis“3Ebd. aber für die Wirtschaftselite „nicht mehr als eine alltägliche Episode des Geschäftslebens, ein banales Fundraising.“4 Ebd.

„Die großen Katastrophen kommen oft auf leisen Sohlen“5Ebd.: S. 65

Der Stil des kürzlich mit dem Prix-Goncourt ausgezeichneten Autors ist nicht bloß literarische Geschichtsnacherzählung wie etwa in Zweigs Sternstunden der Menschheit, sondern eher eine Mischform aus Literatur und Geschichtsbericht. Daher beschreibt der französische Gattungsbegriff „récit“ schon eher, worum es sich bei dem Werk handelt. „Réciter“ heißt zu Deutsch „aufsagen“, „wieder berichten“. Doch Vuillard begnügt sich nicht damit, bloß zu berichten, er greift aktiv ein und kommentiert, scheut sich nicht, „ich“ zu sagen.
Der Autor sucht sich dafür gezielt historische Momente heraus und arrangiert sie wie bei einer Filmmontage. Vuillard, der selbst lange Filmemacher war, zeigt durch dieses geschickte Arrangement, dass dem lauten Knall meistens schon viele kleine Störgeräusche vorausgegangen sind.

Neuinszenierung der Geschichte

Der Schriftsteller möchte unseren Blick auf Geschichte weg von den altbekannten Bildern hin zu den Szenen ihrer Vorgeschichte lenken. Wenn er vom „Anschluss“ berichtet, steht deswegen nicht Hitlers Ansprache auf dem Wiener Heldenplatz im Vordergrund. Vuillard „lupft die hässlichen Lumpen der Geschichte“6Ebd.: S. 99 und zeigt, dass diesem historischen Moment eine peinliche Panne vorangegangen ist. Durch liegengebliebene Panzer der deutschen Fabelarmee entsteht kurz hinter der österreichischen Grenze ein riesiger Stau. Aus dem glorreichen Einmarsch wird eine lächerliche Farce: „Ach, fast wie eine Slapstickkomödie: ein wutschnaubender Führer, Mechaniker, die über die Fahrbahn hetzen, hastig gebrüllte Befehle in der rauen, überreizten Sprache des Dritten Reichs. Angesichts einer Armee, die über einen hereinbricht und mit fünfunddreißig Stundenkilometern unter der strahlenden Sonne anrollt, bleibt einem die Spucke weg. Aber eine steckengebliebene Armee ist gleich Null. Eine steckengebliebene Armee ist der Inbegriff von Lächerlichkeit.“7Ebd.: S. 86. Vuillard nimmt so den Bildern, die „für die Ewigkeit von Joseph Goebbels inszeniert wurden“8Ebd.: S. 100. und die unser Geschichtsbild bis heute prägen, auf eindrucksvolle Weise die Deutungshoheit.

In Hollywood war man besser vorbereitet als in Europa

Der französische Autor zeigt mit seiner Szenenauswahl, wie die europäischen Großmächte in den Dreißigern wissentlich wegschauten: Die Engländer sind zu sehr gefangen in ihrem alten Kolonialdenken, sie sind unfähig, in Deutschland eine Gefahr zu sehen. Lord Halifax, der „wie die vierundzwanzig Hohepriester der deutschen Industrie hinlänglich über Göring Bescheid“9Ebd.: S. 22. wusste, sieht „nichts Komisches an diesem exaltierten und extravaganten Typen“ dem „notorischen, mit Orden behängten Antisemiten.“10Ebd. Und auch in Frankreich ist der Präsident Lebrun am Tag des „Anschlusses“ viel zu sehr mit ‚wichtigeren‘ Dingen beschäftigt: der Herkunftsbezeichnung von Wein und dem Budget der Lotterie.

Besser vorbereit auf das nahende Unheil ist hingegen das professionelle Schauspiel in Hollywood. In einer der ironischsten Passagen des Textes schildert Vuillard, dass man in den amerikanischen Filmstudios schon vor Kriegsbeginn perfekt für diesen gerüstet war: „Ja, lange bevor der Krieg überhaupt begann, während Lebrun, blind und taub, seine Dekrete zur Lotterie verabschiedete, während Halifax sich kameradschaftlich gab, das entrückte österreichische Volk in der Silhouette eines Verrückten sein Schicksal zu erkennen meinte, waren Nazikostüme im Requisitenlager bereits konserviert.“11Ebd.: S. 97-98.

Geschichtsunterricht und Warnung für heute

Auch wenn der Autor sich gelegentlich in nicht ganz nachvollziehbaren Geschichten, wie der des Malers Louis Sutter, verliert oder seine sonst so konzisen Gedankengänge durch hohle Formulierungen wie „Seit Anbeginn der Zeit sind die wahren Gedanken stets geheim“12Ebd.: S. 108. an Überzeugung nimmt, bleibt das mit 118 Seiten kurze Buch extrem überzeugend und unterhaltsam. Indem Vuillard historische Momente wie Rückenwirbel aneinanderreiht und schließlich einrenkt, wird dem Leser ein neuer Blick auf die Geschichte des Dritten Reichs ermöglicht, durch den Vuillard gleichzeitig eine Warnung für heute ausspricht: „Man stürzt nicht zweimal in denselben Abgrund. Aber man stürzt immer auf dieselbe Weise, in einer Mischung aus Lächerlichkeit und Entsetzen.“13Ebd.: S. 118