Stellwerk Magazin

Rezension Fallstudie eines melancholischen Moralisten

Vorwort

Es ist sein bisher persönlichstes Buch: In „Kaffee und Zigaretten“ versammelt Ferdinand von Schirach autobiographische Erzählungen, Essays und Feuilletons. Mit leisen Tönen offenbart er sich als Moralist.

Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten. Luchterhand 2019, 190 Seiten.

Mit einem Selbstmordversuch fängt es an: Nach der Beerdigung seines Vaters beschließt der Fünfzehnjährige, sich das Leben zu nehmen. Er liest die Abschiedsbriefe Heinrich von Kleists, die dieser vor seinem Freitod am Wannsee verfasste und fängt an sich zu betrinken. Dann entwendet er eine Schrotflinte aus dem hauseigenen Waffenschrank im Keller. Am nächsten Morgen finden die Gärtner den Jungen in seinem Erbrochenen. Im Alkoholrausch hatte er vergessen eine Patrone einzulegen.

Schon die erste Sequenz aus „Kaffee und Zigaretten“, Ferdinand von Schirachs neuem Buch, konfrontiert seine Leser mit Vertrautheit und Erstaunen zugleich. Zunächst einmal ist da das Wohlbekannte der kühlen, distanzierten Erzählhaltung und all diese vielgerühmten lakonisch-schlanken Sätze, ausgebreitet auf einer hochprozentig destillierten Plotstruktur. Mit dieser Mischung aus Hard-Boiled und Hemingway erlang Schirach in der letzten Dekade internationale Berühmtheit („Verbrechen“, „Schuld“, „Der Fall Collini“). In seinen kriminalistischen Fallgeschichten erzählt er von Verbrechen und Strafe und hinterfragt die juristische Gerechtigkeit. Sujets, mit denen er durch seine jahrelange Arbeit als Strafverteidiger bestens vertraut ist. Das Erstaunliche an seinem neuen Buch ist nun, dass er diese Methode der literarischen Gerichtsverhandlung gegen sich selbst wendet. Die Geschichte des depressiven Jungen, dessen Selbstmordversuch scheitert, ist seine eigene. So ist „Kaffee und Zigaretten“ Schirachs persönlichstes Buch geworden. Der erste der insgesamt 48 im Buch versammelten Texte bildet den programmatischen Ausgangspunkt einer skizzenhaften Rekonstruktion des eigenen Lebens, das von Depressionen, der bewegten Familiengeschichte und kurzen Momenten des Glücks erzählt. Schirach verfällt dabei nie in das autobiographische Konfessionspathos eines Knausgård, bleibt sich selbst gegenüber wohltuend distanziert und kühl beobachtend.

Der Verfassungsstaat als „Sieg über uns selbst“

Den autobiographischen Skizzen sind immer wieder auch Reflexionen über Kunst und Philosophie, über Politik und Justiz zu Seite gestellt. Über den Regisseur Michael Haneke heißt es, seine Filme seien wie „Haikus. Sie sagen genau das, was sie sagen wollen, nichts anderes. Das Bild eines Haikus ist sofort da, es ist einfach, und es ist vollkommen. (…) Heidegger schrieb: ›Das Sichverständlichmachen ist der Selbstmord der Philosophie.‹ Das Komplizierte, so wird uns gesagt, sei das Wertvolle. Aber das ist Unsinn. In Wirklichkeit ist das Einfachste das Schwierigste.“1Von Schirach, Ferdinand: Kaffee und Zigaretten. München: Luchterhand 2019, S. 83.

Das lässt sich dann schon als programmatisches Bekenntnis lesen. Auch Schirach versucht in erster Linie zu erzählen und das Erzählte aus sich heraus sprechen zu lassen. Doch immer wieder bricht durch das hochkonzentrierte Arrangement der Erzählung die Suche nach dem Exemplarischen, der moralischen Parabel. Etwa, wenn er das Erbe der Aufklärung gegen die verbalen Entgleisungen des AfD Politikers Gauland verteidigt. Als „Siege über die Natur, Siege über uns selbst“2Ebd. S. 77. beschreibt Schirach die zivilisatorischen Errungenschaften wie Menschrechte und Verfassungsstaat, die heute wieder zur Disposition stehen. Dass das Buch dabei nicht ins moralinsaure abdriftet, liegt vor allem an dessen melancholischem Grundton, am demütigen Wissen um die Schwächen dieses „strahlenden, verzweifelten, geschundenen Menschen“3Ebd. S. 85., das die Geschichten umweht.

„Kaffee und Zigaretten“ wird so zur poetischen Lektion in melancholischer Moral. Eine demütige Kontemplation über den Kampf für das Menschliche. Oder wie Schirach es in Bezug auf Imre Kertész formuliert: „Sich selbst zu lieben, das ist zu viel verlangt. Aber die Form zu wahren, es ist unser letzter Halt.“4Ebd. S. 37.

Foto: © Niko Schmid Brugk / photoselection