Stellwerk Magazin

Rezension Tanz um eine leere Mitte?

Vorwort

Moritz Sostmann hat am Schauspiel Köln Virginie Despentes’ Romantrilogie „Das Leben des Vernon Subutex 1-3“ inszeniert und lässt uns teilhaben am Verfall und der Wiederauferstehung seines Protagonisten.

Besetzung:

Es spielen: Johannes Benecke, Sebastian Fortak, Nicola Gründel, Benjamin Höppner, Anna Menzel, Madga Lena Schlott, Katharina Schmalenberg, Aram Tafreshian, Ines Marie Westernströer Regie: Moritz Sostmann Bühnenfassung: Petschinka Bühne: Christian Beck Kostüme: Elke von Sivers Puppen: Hagen Tilp Dramaturgie: Anne Rietschel

Der Zuschauersaal des Depot 1 ist nicht sehr voll an diesem Sonntagnachmittag. Es wird angeboten, die reservierten Plätze zu verlassen und sich näher an die Bühne zu setzen. Etwas zögerlich sortieren sich die ZuschauerInnen auf ihre neuen Sitzplätze. Und bald darauf: ein Pfiff. Die neun DarstellerInnen erstürmen vom Saal aus die Bühne. Figuren und Kostüme erinnern auf den ersten Blick an den Film „Trainspotting“, die Musik verbreitet zum Auftakt zusätzlichen Neunzigerjahre-Flair. „Das Leben des Vernon Subutex 1-3“ ist die Theaterfassung zur gleichnamigen Romantrilogie der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes. Seit Erscheinen des ersten Buchs 2015 wird sie zu den „wichtigsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur“ 1Encke, Julia: Schreibend mit Paris verschmelzen. Treffen mit Virginie Despentes. In: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/virginie-despentes-ueber-ihren-roman-vernon-subutex-julia-encke-15148485.html (19.11.2019). gezählt. Auf allen drei Covern der deutschen Übersetzung von Claudia Steinitz klebt ein „Spiegel-Bestseller“-Sticker – die Romanreihe findet über die Grenzen Frankreichs hinaus viel Anklang. Worum es in den Büchern geht? Um Menschen. Menschen in allen Lebenslagen. Um ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Darum, wie sie ihr Leben gestalten, welche Ansichten sie vertreten und um Musik. Vor allem aber geht es um jene Menschen, denen die Titelfigur Vernon Subutex im Laufe der Jahre begegnet: Filmproduzenten, Journalistinnen, Ex-Pornostars, Clochards – und darum, wie diese Begegnungen ihr Leben beeinflussen. Denn aufgrund einer Verkettung unglücklicher Ereignisse wird der fünfzigjährige Subutex aus der liebgewonnenen Einsamkeit seiner Pariser Junggesellenbude geworfen. Er muss seine Komfortzone aus Onlineflirts und Pornos verlassen und ist plötzlich auf seine Mitmenschen angewiesen. Zunächst kommt er bei FreundInnen unter, die er noch aus seiner Zeit als Plattenverkäufer kennt und über Facebook kontaktiert. Mit der Zeit kommen immer mehr Figuren hinzu und die Handlungsstränge verdichten sich, denn Subutex ist im Besitz von brisantem Videomaterial... Aber wer ist dieser ominöse Vernon Subutex? Ein Loser? Ein Normalo? Ein Rocker? Laut Programmheft ist er ein „stiller Beobachter“. Im Stück selbst wird er zunächst als „elegant und gleichgültig“, dann „edel, sanft, empfindlich“ und schließlich sogar als „eine Art Jesus“ beschrieben. Und hier, in der Inszenierung des Kölner Hausregisseurs Moritz Sostmann, wird er von einer Theaterpuppe mit langem Haar und eher schlaffer Statur verkörpert. Wie so oft in seinen Stücken, lässt der ausgebildete Puppenspieler Sostmann auch hier die Grenze zwischen SchauspielerInnen und Puppen verschwimmen. Mal leiht Magda Lena Schlott Subutex ihre Hände, mal bewegt Anna Menzel seinen Kopf, oft spricht er mit Aram Tafreshians Stimme. Somit kreist das Ensemble um eine aus sich selbst heraus unbewegliche Mitte. Um ein Geschöpf, das zwar das Handeln aller beeinflusst, aber selbstständig überhaupt nichts bewirken kann.

Das Stück, das Schriftsteller Eberhard Petschinka für die Bühne adaptiert hat, ist unterhaltsam und machtkritisch. Zu Beginn des Abends reagiert man im Saal noch unsicher auf die provokante Offenheit und Despentes’ teils vulgäre Sprache. „Ist doch kein Wunder, dass die keiner leiden kann“, schnauzt Sebastian Fortak für die Puppe des Xavier Fardin über AusländerInnen – und im Publikum bleibt ein lautes Fragezeichen stehen: „Darf der das sagen?“. Auch als Ines Marie Westernströer in der Rolle der Olga feststellt: „Weicher Schwanz in gammeliger Möse, das ist das Problem von heute!“, halten einige die Luft an. Doch der Pausenwein wirkt: In der zweiten Hälfte scheint (nicht nur) das Publikum gelöster. Es wird anerkennend und ertappt mitgelacht, während Puppen und SchauspielerInnen sich mit dem Aussprechen teils unangenehmer Wahrheiten gegenseitig übertrumpfen („Du schlägst deine Frau doch nicht, weil sie was falsch gemacht hat, sondern weil du gewalttätig bist“). Das Bühnenbild wirkt nach dem Pausenumbau weitläufiger und lässt die ZuschauerInnen im Weitwinkel auf das inszenierte Geschehen blicken. Und auch die Handlung nimmt Fahrt auf: Subutex wird zum DJ, woraufhin bald seine Anhängerschaft zu einer Art Sekte heranwächst; einer weltweiten Subkultur, die Schallplatten anbetet und sich zu geheimen, „Convergences“ genannten Tanzveranstaltungen trifft. Allmählich kristallisiert sich so auch das zentrale Thema der Inszenierung heraus: Sostmann geht es nicht nur um eine humorvolle Darstellung großstädtischer Existenzen, sondern besonders um deren Wiederaneignung verloren geglaubter Handlungsmacht im Zusammenkommen auf den selbstorganisierten Partys. Den Protagonisten nicht mit einem Menschen zu besetzen, sondern als Gemeinschaftsprodukt der SpielerInnen anzulegen, wird in dieser Perspektive zum zentralen Clou seiner Inszenierung. So macht es vor allem Spaß, das engagierte Ensemble bei der Zusammenarbeit zu beobachten und es fällt leichter zu verzeihen, dass nicht immer alle Einzelheiten der Geschichte nachvollziehbar erzählt werden. Am Ende des Abends verlässt man den Saal zwar ohne Vernon Subutex wirklich kennengelernt zu haben, dafür aber mit dem lebhaften Eindruck eines Kollektivs, das durch gemeinsames Handeln einer Leerstelle Bedeutung verliehen hat.

Headerbild: © Thomas Aurin

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Hier findet ihr aktuelle Spieltermine von "Das Leben des Vernon Subutex 1-3" auf der Website des Schauspiel Köln