Stellwerk Magazin

POETICA 6 Die Poesie ist klüger als ihr Autor

Vorwort

Zum dritten Abend der Poetica 6, dem jährlich in Köln stattfindenden Festival für Weltliteratur, waren drei AutorInnen aus drei verschiedenen Kontinenten und Sprachräumen im Literaturhaus Köln geladen. Allen vermeintlichen Sprachbarrieren zum Trotz wurde lebhaft über den gemeinsamen Gegenstand verhandelt, der alle und alles verbindet: die Poesie. Was treibt Tadeusz Dąbrowski, Agi Mishol und Xi Chuan zum Schreiben? Und wie verstehen, leben und vor allem schreiben sie Widerstand?

Xi Chuan Xi Chuan © Ben Knabe

Es ist ein unangenehmer Winterabend im Januar. Dennoch haben viele Gäste ihren widerständigen Beitrag bereits geleistet, Nieselregen und Nebelwetter die Stirn geboten, und sich im Kölner Literaturhaus eingefunden. Es herrscht eine angeregte, erwartungsvolle Stimmung. In den gut gefüllten Stuhlreihen kann man bereits vor Beginn der Lesung Gesprächen über die AutorInnen sowie Berichten über bereits besuchte Poetica-Veranstaltungen lauschen.

„Die größten Fische kommen, wenn du eigentlich schon nichts mehr erwartest.“

Der diesjährige Poetica-Kurator Jan Wagner eröffnet den Abend und bittet als ersten Autor den aus Polen stammenden Tadeusz Dąbrowski auf die Bühne. Dąbrowski spricht Deutsch zu den BesucherInnen und leitet seine Gedichte damit ein, dass er nun auf eine sentimentale Reise gehen werde, denn beim Lesen seiner eigenen Texte trete er mit allen Ichs seiner Vergangenheit in Kontakt. Das Spannende hierbei, so Dąbrowski, man wisse nie, ob und wie dies gelinge. Der Autor liest auf Polnisch und obwohl vermutlich die meisten Gäste im Publikum dieser Sprache nicht mächtig sind, gelingt es ihm durch sein lebhaftes Artikulieren und sein charmantes Auftreten, die BesucherInnen in den Bann zu ziehen. Jan Wagner liest die deutsche Übersetzung von „Bis es wirkt“: „1. / Dichtung ist / wenn du’s spürst / dieses / Etwas / spürst du’s? / 2. / (wenn nicht / lies das Gedicht / noch mal).“ Das diesjährige Thema der Poetica „Widerstand. The Art of Resistance“ unterwandert hier schelmisch grinsend die gewohnten Lese- und Hörgewohnheiten. Lyrik gibt sich nicht dem einfachen Eins-zu-eins-Verständnis hin, als LeserIn muss man sich mit ihr, mit sich selbst und der Welt auseinandersetzten. Dąbrowski erklärt, dass Gedichte viel mehr erzählen können, als der Autor zu sagen vermag: „auch ich lerne immer neu von meinen Gedichten. Sie sind klüger als Tadeusz Dąbrowski.“ Jan Wagner schlägt den Bogen zu Dąbrowskis zweiter Leidenschaft, dem Angeln, und fragt, ob für ihn zwischen dem Angeln und dem Schreiben eine Beziehung bestehe. Dąbrowski beißt an: „Die größten Fische kommen, wenn du eigentlich nichts mehr erwartest“ und so sei es auch mit der Dichtung. Sie kommt unerwartet, ist nicht planbar, sie kommt durch die Sprache aus dem Dichter heraus aufs Papier. Die Schattenseite? „Du weißt nie, ob du am nächsten Tag wieder als Dichter aufwachst.“ Die Lyrik ist nicht nur im Versuch sie zu ergründen ein unermüdlich widerständiges Etwas – es ist ihr ganzes Wesen.

„Poetry can train the people to rethink and -see the world.”

Der zweite Autor, der an diesem Abend zur Lesung auf die Bühne gebeten wird, ist der Chinese Xi Chuan. Er tritt zusammen mit seiner Übersetzerin Lea Schneider auf. Die von Xi Chuans Betonung und dem Klang der Originalsprache gestiftete Atmosphäre im Raum wird durch die gekonnte Interpretation Lea Schneiders komplettiert. Dabei wird schnell deutlich: Chuans Lyrik fordert eine/n aufmerksame/n, wache/n ZuhörerIn, um den ironischen und klugen Wendungen nicht auf den Leim zu gehen. Bei „A Song of the Corner“ werden beispielsweise Tiere und Menschen erst in die Ecke gedrängt und schließlich doch verschont. Die Strophen enden mit einer absurden, oft lustigen Brechung. Es bleibt trotzdem ein unbehaglicher Beigeschmack, denn die eigene Fantasie vervollständigt den alternativen Ausgang der Strophe. In dem Gedicht „Commandments“, inspiriert durch die buddhistischen Gebote, die Chuan in Indien kennenlernte, unterläuft das lyrische Ich die gesellschaftlichen und religiösen Vorgaben geschickt, um am Ende wieder „ein untadeliger Teil der schweigenden Mehrheit zu sein.“ Im Gespräch wird deutlich, dass Xi Chuan ein humorvoller Dichter ist, der seine Ironie bewusst einsetzt, um nicht in Klischees zu verfallen; der sich den einfachen Antworten stets widersetzt und das Absurde der Dinge schätzt. Zugleich deutet er in seiner Dichtung nebeneinander existierende Bedeutungsebenen an. „Resistance is never that easy with language, there is always a second or third layer.” „I try to control the words, but all the characters are flying, buzzing.” Auch für Xi Chuan ist die Poesie oft schlauer als ihr Schöpfer und er glaubt daran: „Poetry can train people to rethink and -see the world.“

„The poetry of the reality is at work here“

Zuletzt wird die in Ungarn geborene und in Israel aufgewachsene Autorin Agi Mishol auf die Bühne gebeten. Ihre Gedichte sind geprägt vom Alltag der israelischen Lebenswelt, dem Gewöhnlichen, ebenso wie dem Dunklen und Abseitigen, das sie mit gleichsam wachsamem Auge beobachtet. Für Mishol ist es dabei natürlich, dass die politische Realität Israels mit einfließt, „the poetry of the reality is at work here“. So ist zum Beispiel ihr Gedicht „Woman Martyr“, das auf ein Selbstmordattentat in Bethlehem Bezug nimmt, inspiriert durch den Nachnamen der Attentäterin, den Mishol im Radio hörte: „Takatka – it is an onomatopoeia for the ticking of a bomb“. Agi Mishol liest auf Hebräisch, sie atmet die Wörter aus, ihre Hände unterstreichen dabei die Melodien. Eindrucksvoll füllt sich der Saal mit dem Nachhall ihrer Stimme. Sie behält recht. Man hört förmlich das Ticken der Bombe und die Namen der Opfer des Attentats bleiben wie Grabsteine aus Klang im Raum stehen. Politische Kritik und Widerstand gehen hier Hand in Hand mit menschlicher Klage und Mitgefühl. Sie konstatiert, dass es gerade in Israel den DichterInnen darum ginge, direkt mit der Welt, „with what is happening now“, in Kontakt zu treten und dies in ihren Gedichten zu kommunizieren. Ihr großes Vorbild Yehuda Amichai sprach von sich immer als „citizen“, also Bürger, nicht als Poet. Diesem Selbstbild scheint auch Mishol nicht fern zu sein.

Am Ende der Lesung wird deutlich, wie berechtigt Agi Mishols Dank an die ÜbersetzerInnen ist. Ohne sie, die in ihrem Inneren freigiebig einem zweiten Dichter bzw. einer Dichterin Platz einräumen, wäre ein Format wie die Poetica für das Publikum nicht erfahrbar. Zurecht nennt Mishol ÜbersetzerInnen darum die Meridiane der Poesie. Sprachbarrieren überwinden, um gemeinsam Lyrik zu rezipieren und ein größeres Weltverständnis zu schaffen – auch dies ist also eine Form des Widerstands.

Headerbild: Jan Wagner und Agi Mishol im Gespräch © Ben Knabe

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