Stellwerk Magazin

POETICA 6 Widerstehen und Abwarten

Vorwort

Es ist Bergfest bei der Poetica 6: Am vierten Abend lädt das Literaturfestival in die Zentralbibliothek der Stadtbibliothek Köln ein. Unter dem Motto „Widerstehen und Abwarten“ spricht Moderator Jan Wagner mit Luljeta Lleshanaku, Sergio Raimondi und Serhij Zhadan. Angesichts der komplexen politischen Zusammenhänge unserer Zeit stellt sich an dem Abend die Frage: Was kann Dichtung dieser Tage für einen selbst und für eine Gesellschaft leisten?

Sergio Raimondi Sergio Raimondi © Ben Knabe

Eine große Lichtsäule ragt in der Mitte der Stuhlreihen auf und taucht den Raum ist buntes Licht. Die Poetica, das Festival für Weltliteratur in Köln, hat nun bereits die Halbzeit der diesjährigen Veranstaltungswoche erreicht. „Es geht doch immer schneller rum, als man es für möglich gehalten hätte.“ Kurator und Moderator Jan Wagner lässt vergangene Veranstaltungen Revue passieren und läutet den heutigen Abend ein: „Widerstehen und Abwarten“ ist das Motto, unter dem die Lesung mit drei AutorInnen der Poetica 6 stattfinden wird. Durch den mehrsprachigen Abend mit Luljeta Lleshanaku, Sergio Raimondi und Serhij Zhadan wird Wagner heute mit anregenden Gesprächen führen. Denn es schwebt eine Frage in der Luft: womit befasst sich Lyrik heute?

„Life had another dimension.“

So beschreibt Luljeta Lleshanaku die Momente ihres Lebens, die ihr Schreiben maßgeblich beeinflusst haben. Sie trägt einige Gedichte in ihrer Muttersprache Albanisch vor. „Metaphern, die vollkommen verstörend sind und gleichzeitig wirken, als könnte es gar nicht anders sein.“ Jan Wagner fasst treffend zusammen, was das zentralste Motiv in Lleshanakus Poesie bleibt: die Metapher. Sie umhüllt sprachlich die Emotionen der Autorin, in welche sie tiefe, sehr persönliche Einblicke gewährt. Gedichte wie „Old News“ oder „Marked“ sind autobiografisch und greifen Lleshanakus Verhältnis zur kommunistischen Diktatur in Albanien auf. Eigene traumatische Erfahrungen spielen darin ebenso eine Rolle, wie solche, die sich durch Generationen ihrer Familie hindurchziehen. Im totalitären Regime Albaniens sei nichts privat oder persönlich gewesen, alles fand im Kollektiv statt. In der Lyrik habe sie emotionalen Schutz gefunden: „Würde ich nicht Gedichte schreiben, würde ich meine Trauer womöglich in Alkohol ertränken“.

„It’s infinite, but you need to start somewhere.“

Sergio Raimondi, argentinischer Autor und Literaturdozent, arbeitet bereits seit Langem an einem intensiven Projekt: ein kommentiertes Wörterbuch. Die Publikation sei in Sicht, aber so wirklich fertig wird das Buch niemals sein. Für ihn ist es ein persönliches Anliegen, ein Versuch, der vielleicht zum Scheitern verurteilt ist – vielleicht aber auch nicht. „Mich interessiert, es überhaupt zu versuchen; nicht unbedingt Erfolg zu haben“. Wagner hält fest, dass Raimondi das Talent habe, Wissen aus verschiedensten Bereichen in seiner Lyrik zu verarbeiten. Der Autor bestätigt: er mache „Civil Poetry“, also Dichtung, die nah an allen Menschen sei. Er mag keine politische Lyrik, aber er mag es, in seiner Lyrik mit politischem Material umzugehen. „Was an der Universität passiert hat nichts mit dem Großteil der Menschen zu tun, die ebenfalls in meiner Heimatstadt leben“, erzählt Raimondi und nimmt damit Bezug auf Bahía Blanca. Er reflektiert das Leben dort und den Clash, den er als Teil der Bildungselite erlebt, sobald er seine Blase verlässt. Werke wie „Silenus im Bahnhof“ verbildlichen dies und lassen das Publikum teils schmunzelnd, teils lachend zurück.

„Verlass’ uns nicht, Hoffnung!“

Serhij Zhadan Serhij Zhadan im Gespräch mit Jan Wagner © Ben Knabe

Serhij Zhadan schreibt über Krieg. In der Stadtbibliothek liest er u. a. sein Gedicht „Leben heißt sterben“, in dem der Tod Pfefferminzbonbons an Kinder verteilt. Ein mehrdeutiges, vielleicht sogar zynisches Bild, das Zhadans Schreiben zusammenfasst: Dem Leben und dem Tod – zentrale Motive seiner Dichtung – ist er nicht vollständig hoffnungslos ausgesetzt. Er spricht mit SoldatInnen und anderen Betroffenen des Krieges, der zwischen der Ukraine und Russland herrscht. Diese Erfahrungen übernimmt er direkt in seine Dichtung, betrachtet diese als Therapie. Besonders seit 2014 sei der nationale Konflikt in der Ostukraine allgegenwärtig, aber das Verhältnis dazu ist zwiegespalten. Ja, es gebe ein „Wir gegen Sie“, und Zhadan wisse nicht, wann der Zeitpunkt kommen wird, an dem ukrainische AutorInnen in ihren Texten wieder zu größerer Leichtigkeit zurückfinden werden. Was jedoch feststeht: es findet eine Wende statt, vor allem in der Literatur. Und Zhadan ist mittendrin. Sich selbst und seinen ZuhörerInnen gibt er ein Gefühl von Hoffnung, sowohl durch Dichtung, als auch durch Musik. Zhadan spielt in zwei Bands, für die er auch Texte schreibt. Er mag Literaturfestivals, aber die Atmosphäre bei einem großen Konzert sei ganz anders. Wenn die Leute anfangen zu seiner Lyrik Pogo zu tanzen, setze das unglaubliche Energien frei, erzählt er mit einem Lächeln auf den Lippen.

Albanien, Argentinien, Ukraine – augenscheinlich weit voneinander entfernt, sind ihnen doch einige Dinge gleich. Denn das kollektive Aufarbeiten komplexer politischer Zusammenhänge schlägt sich in der Lyrik aller drei AutorInnen nieder. Das Wechselspiel, in dem sie sich mit dem Selbst und der Gesellschaft befinden, die Wirkung, die dies auf das eigene Schreiben hat – Widerstand ist überall erkennbar. Ob politischer oder persönlicher Natur. Das haben Lleshanaku, Raimondi und Zhadan an diesem Abend eindrücklich veranschaulicht.

Headerbild: © Ben Knabe

Die Redaktion empfiehlt passend zu diesem Artikel:

Hier geht es zum vollständigen Programm der Poetica 6