Stellwerk Magazin

POETICA 6 Ein Abend für die junge Lyrik Europas

Vorwort

Im Alten Pfandhaus in Köln traf am Freitagabend die Poetica auf die „Grand Tour“ und begeisterte das Publikum mit Lyrik aus unterschiedlichen Teilen Europas.

Die LyrikerInnen der Grand Tour v.l.n.r.: Jan Wagner, Luljeta Lleshanaku, Helen Mort, Serhij Zhadan, Erik Lindner, Tadeusz Dąbrowski und Federico Italiano © Silviu Guiman

„Wir sind hier, weil wir an Europa glauben“, sagt Federico Italiano ins Mikrofon. „Und wir hoffen, dass dieses lyrische Europa auch irgendwann politische Realität werden kann.“ Der italienische Dichter sitzt im Saal des Alten Pfandhauses in Köln, einem Raum, der wirkt wie ein kleines Amphitheater. Die aufsteigenden Ränge um die Bühne herum sind bis auf den letzten Platz gefüllt, weitere ZuschauerInnen sitzen auf dem Boden, manche stehen sogar. Die Deckenbeleuchtung hüllt den Raum in dämmriges, rötliches Licht. Nur die Mitte, auf die alle Augen gerichtet sind, ist hell erleuchtet: Dort sitzen die ProtagonistInnen des Abends: sieben DichterInnen aus verschiedenen Ländern Europas – und darüber hinaus. Es ist Freitagabend und es werden Gedichte gelesen; im Rahmen der Poetica, des Festivals für Weltliteratur, das nun schon zum sechsten Mal vom internationalen Kolleg Morphomata und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Köln ausgerichtet wird.

Neben Italiano sitzt Tadeusz Dᶏbrowski, Lyriker und Essayist aus Polen. Einen Platz weiter der niederländische Dichter und Herausgeber Erik Lindner. Dann Serhij Zhadan, gefeierter Schriftsteller und Aktivist aus der Ukraine. Die britische Poetin und Langstreckenläuferin Helen Mort und Luljeta Lleshanaku, eine der einflussreichsten Dichterinnen Albaniens. Und schließlich der Deutsche Jan Wagner, der die Veranstaltung mit Italiano zusammen moderiert. Die beiden sind die Herausgeber der Anthologie „Grand Tour – Eine Reise durch die junge Lyrik Europas“ und zugleich Veranstalter einer europaweiten Lesetournee mit den beteiligten DichterInnen. Die Lesung in Köln im Rahmen der Poetica ist bereits die zehnte von zwölf Veranstaltungen.

Nach Italianos Begrüßungsworten sprechen er und Wagner reihum mit jedem der geladenen Lyrikerinnen und Lyriker über einige Aspekte ihres Schaffens, bevor diese vorne ans Mikrofon treten, um ihre Gedichte vorzutragen. Bei diesen Gesprächen muss das Publikum immer wieder schmunzeln, so manches Mal auch laut auflachen. Vor allem Dᶏbrowski sorgt mit seinem selbstironischen Humor für viel Erheiterung, so zum Beispiel mit seiner trockenen Antwort auf die Frage, warum Spiegel in seiner Dichtung eine so große Rolle spielten: „Weil ich – wie viele Künstler – ein Narzisst bin.“ Doch er zeigt ebenso seine ernste und nachdenkliche Seite, als er darüber spricht, wie die Frage von Identität in seinen Gedichten verhandelt wird. „Das Gedicht ist der Raum, in dem sich alle meine Identitäten treffen können“, erklärt er. In fast allen Texten, die an diesem Abend zu hören sind, werden Identitäten verhandelt, stehen Menschen im Mittelpunkt. Erik Lindner hat zwei seiner Gedichte sogar ganz bestimmten Menschen gewidmet: Das eine seiner ehemaligen Übersetzerin, das andere einem unbekannten Toten, für dessen Beerdigung das Gedicht im Rahmen eines Projektes entstanden ist. Serhij Zhadans Gedichte dagegen stellen einen ganz anderen Bezug zur Realität her. Sie sind geprägt von der Lebenswirklichkeit des Krieges in der Ukraine, entsprechend der eigenen Aussage des Dichters, er lege Wert auf Realismus, „aber nur Realismus ist langweilig.“ So klingen seine Gedichte wie eine realistische und doch zeitlose Illustration einer seiner Verse: „Die Welt kommt im Leben ganz und gar nicht zurecht.“ Helen Morts Texte weisen dagegen eine starke persönliche Note auf und verhandeln vor allem Fragen weiblicher Identität. Zuletzt liest Luljeta Lleshanaku, deren berührende Gedichte über ihre Kindheit unter dem kommunistischen Regime in ihrer Intimität schon Gebeten gleichkommen, wie sie selbst sagt. Alle DichterInnen tragen zunächst in ihrer Muttersprache vor, die Übersetzung wird im Anschluss von Jan Wagner gelesen. Zum Schluss der Veranstaltung richtet dieser die Frage an das Publikum, ob sie noch Lust auf eine Abschlussrunde hätten. Die Antwort ist – trotz fortgeschrittener Stunde – ein eindeutiges „Ja“. So lesen alle sieben LyrikerInnen noch ein weiteres Gedicht aus der Anthologie von einem anderen Dichter oder einer anderen Dichterin in ihrer jeweiligen Muttersprache. Es ist diese sprachliche, klangliche und kulturelle Vielfalt, die den Abend auszeichnet, ebenso wie die Poetica insgesamt. Im Rahmen des Festivals haben die internationalen AutorInnnen bereits die ganze Woche miteinander verbracht und an verschiedenen Lesungen und Diskussionen teilgenommen.

Das Festival steht in diesem Jahr unter dem Motto „Widerstand – The Art of Resistance“ und allen TeilnehmerInnen ist gemeinsam, dass in ihren Werken auch eine politische Botschaft steckt. Die Botschaft an diesem besonderen Abend lautet: Europa lebt. Schade, dass am Ende keine Zeit mehr bleibt für eine Diskussion, mit der normalerweise jede „Grand Tour“-Lesung beschlossen wird. So ist es dem Publikum selbst überlassen, diesen Abend als das zu verstehen, was er war: Ein Zeichen für ein lebendiges, offenes Europa.

Headerbild: Helen Mort © Silviu Guiman

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