Stellwerk Magazin

Rückschau Poetica 6

Vorwort

Vom 20.-25. Januar 2020 fand zum sechsten Mal die Poetica in Köln statt. Das Festival für Weltliteratur wurde 2014 von Günter Blamberger und Heinrich Detering gegründet. Kennzeichnend für die Poetica ist die Verbindung von Literatur, Wissenschaft und Öffentlichkeit in Lesungen und Gesprächen, die in Kooperation mit Kölner Kultureinrichtungen wie dem Schauspiel Köln, dem Literaturhaus Köln, der Stadtbibliothek und dem Alten Pfandhaus stattfinden. Jedes Jahr gibt ein/e KuratorIn ein Leitthema vor und lädt AutorInnen ein, mit denen gemeinsam die Landkarten der Weltliteratur neu vermessen werden sollen. Die KuratorInnen sind gleichzeitig als Fellows am Internationalen Kolleg Morphomata der Universität zu Köln assoziiert, welches das Festival in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung veranstaltet. „Widerstand. The Art of Resistance“ lautete der Titel der Poetica 6, die vom deutschen Lyriker, Essayisten und Übersetzer Jan Wagner kuratiert wurde. Eingeladen waren Tadeusz Dąbrowski (Polen), Erik Lindner (Niederlande), Luljeta Lleshanaku (Albanien), Agi Mishol (Israel), Helen Mort (Großbritannien), Herta Müller (Deutschland), Sergio Raimondi (Argentinien), Xi Chuan (China) und Serhij Zhadan (Ukraine).

© Silviu Guiman

„Widerstände“

Schon die Auftaktveranstaltung am Montagabend unter dem Titel „Widerstände“ fand großen Anklang; Aula I und II des Hauptgebäudes waren beinahe bis auf den letzten Platz besetzt. Jan Wagner führte als Moderator durch den Abend und stellte die internationalen AutorInnen einzeln vor. Diese präsentierten jeweils eines ihrer Gedichte in der Originalsprache und hatten anschließend in einem kurzen Gespräch mit Wagner die Gelegenheit, sich dem Publikum vorzustellen. Die SchauspielerInnen Philipp Plessmann, Yvon Jansen und Katharina Schmalenberg lasen die Übersetzungen der Texte und begleiteten außerdem den Abend musikalisch.

Günter Blamberger, Direktor des Internationalen Kollegs Morphomata, situierte in seinem Vortrag „Gegenworte. Über Dichtung und Widerstand – Notizen“ das Thema der Poetica 6 in einem literaturgeschichtlich weiten Kontext. Er betonte die aufklärerische Macht eines poetischen Denkens, „das in seiner Komplexität und Subtilität, in seinem Zweifel, in seiner Klage wie in seinem Insistieren auf Humanität Widerstand leistet gegen die herrschenden Narrative der Macht oder deren Schweigen“1Poetica 6. Widerstand. The Art of Resistance. Hg. v. Jan Wagner, Günter Blamberger und Marta Dopieralski. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2020, S. 149.. Der Präsident der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Ernst Osterkamp, trug über „Arbeit am Widerstehenden. Eine Reminiszenz“ vor. Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen mit der politischen Literatur der 68er-Generation mündete sein Vortrag in der Situierung des späten Goethe als „Vorbild einer Ästhetik des Widerstands“2Ebd., S. 19..

Die Positionen der AutorInnen selbst waren äußerst vielfältig. Tadeusz Dąbrowskis etwa distanzierte sich ironisch vom Politischen, während Herta Müller eine genaue Arbeit an der Sprache forderte, um gegen die Gewalt der Diktatur Widerstand zu leisten. Dazwischen erschloss sich ein weites Spektrum unterschiedlicher Sichtweisen. Die eigentlichen Gedichte, so wurde deutlich, bewegen sich immer im Raum eines Überschusses, der begrifflich nicht ganz zu fassen ist. Auch das macht die Poesie zum Medium des Widerstandes: dass sie selten auf eindeutige Positionen reduziert werden kann. Wie Jan Wagner in seinen einleitenden Überlegungen betonte: „man darf das Thema dieser Poetica, Widerstand, durchaus im Plural lesen: Widerstände.“3Ebd., S. 9.

„Poetry makes nothing happen“

Während der Diskussionsveranstaltung in der Kunsthochschule für Medien unter dem Titel „Poetry makes nothing happen“ wurde die Frage der Wirksamkeit von Poesie am Dienstagnachmittag weiter diskutiert. Ausgehend vom titelgebenden Diktum W. H. Audens eröffnete sich die Frage nach politischem Ge- und Missbrauch der Poesie. Deutlich wurden dabei auch länderspezifische Unterschiede: So werden in den Tageszeitungen in Agi Mishols Heimat Israel täglich Gedichte veröffentlicht, aber auch Sitzungen der Knesset mit einem Gedicht eingeleitet. In Bezug auf Südamerika zeichnete sich ab, dass die Epoche der großen politisch wirksamen Dichter wie Pablo Neruda oder Ernesto Cardenal vorbei ist und das Wirken der Dichtung nun eher im Stillen vor sich geht. Luljeta Lleshanaku hob den therapeutischen Wert der Poesie hervor, der gerade in Zeiten der Einschränkung von Meinungsfreiheit hoch anzusetzen sei. Insgesamt wurde deutlich, dass allen AutorInnen differenzierte und distanzierende Verhältnisbestimmungen von Politik und Poesie wichtig waren. Immer wieder kamen sie auf die Gefahr zu sprechen, dass eine politisch engagierte Lyrik ihren ästhetischen Wert verliert.

Herta Müller in der Kulturkirche Nippes © Ben Knabe Herta Müller und Ernest Wichner in der Kulturkirche Nippes © Ben Knabe

„Mein Vaterland war ein Apfelkern“

Am Abend las Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in der ausverkauften Kulturkirche in Nippes aus „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ und war im Gespräch mit Ernest Wichner zu hören. Bei den gelesenen Texten handelte es sich um gesprächsweise entwickelte Lebenserinnerungen Müllers in literarisierter Form. Dichte, realitätsnahe Beschreibungen führen sie in die Sprachreflexion hinein, die autobiografischen Erinnerungen sind stark geprägt von der Entwicklung des Verhältnisses zur Welt über die Sprache. Im Gespräch mit Wichner erzählte Müller noch mehr von ihrer Kindheit und ihrem Lebensweg. Ihre trocken-humorvollen Beschreibungen des autoritär-gewaltsamen Milieus, in dem sie aufwuchs, erzeugte ebenso Lachen wie Beklemmung. Deutlich wurde, wie sehr die kommunistische Diktatur in jeden Bereich ihres Lebens hineinwirkte und wie Literatur für Müller zum Medium des Widerstands gegen die Banalität vereindeutigender Ideologie wurde. Im zweiten Teil des Abends präsentierte Herta Müller eine Vielzahl ihrer Collagengedichte, die als Ergebnis einer akribischen Arbeit des Ausschneidens und Sortierens von Worten aus Zeitungen und anderen Textmedien eine besondere Form visuellen Dichtens darstellen.

„Notizen zum Mosquito“

Am Mittwochabend kamen im Kölner Literaturhaus Tadeusz Dąbrowski, Xi Chuan und Agi Mishol unter dem Motto „Notizen zum Mosquito“ zusammen. Jan Wagner trug die Übersetzungen der Gedichte von Dąbrowski und Mishol vor und führte mit ihnen Gespräche über ihre Poetik. Xi Chuans Texte wurde von seiner Übersetzerin Lea Schneider im Deutschen gelesen, die auch das Gespräch mit ihm führte. Dąbrowski beschrieb das erneute Vortragen seiner Poeme als sentimentale Reise durch die Ichs der Vergangenheit. In einem poetologischen Gedicht metaphorisierte er die Gegenwartslyrik als eine Fledermaus, die zuweilen herunterfällt, wenn man sie mit einem Stein trifft. Diese Art von postmodern-ironischem Schreiben ist charakteristisch für seine Lyrik. Xi Chuan las das Gedicht „anmerkungen zur mücke“, das in für ihn typischen überraschend witzigen Wendungen Mücken in die verschiedensten Kontexte stellt und ihr Fehlen in der Geschichtsschreibung dichterisch verarbeitet: „jeder kleine riss in der geschichte beinhaltet mindestens eine mücke“4Ebd., S. 61.. Im Gespräch hob er hervor, dass es ihm in seiner Dichtung und seinen Essays äußerst wichtig sei, die Klischees des kulturellen Mainstream zu dekonstruieren. Agi Mishol, Tochter ungarisch sprechender Ausschwitz-Überlebender in Rumänien, die 1950 nach Israel auswanderten, präsentierte mit einer Auswahl an Gedichten die gesamte Spannweite ihres Schaffens: Die von ihr gelesenen Texte reichten von einem eminent politischen Gedicht über eine Selbstmordattentäterin bis zur humoristischen Verspottung älterer Schwimmerinnen. Am Mittwoch fand zudem unter dem Titel „Vorbereitungen für die Levitation“ die literarische Werkstatt mit Jan Wagner statt, bei der ausgewählte Studierende der Universität zu Köln und der Kunsthochschule für Medien Gelegenheit hatten, ihre Texte zu präsentieren und gemeinsam mit dem Kurator daran zu arbeiten.

„Eine Verteidigung der Poesie“

Die Diskussion in der Morphomata-Bibliothek am Donnerstag verstand sich als „eine Verteidigung der Poesie“. Zunächst stellte Sergio Raimondi die in seiner Berliner Rede „Probleme beim Schreiben einer Ode an den Pazifischen Ozean“ entwickelte Poetologie vor. Er plädierte für eine Öffnung der Poesie in Richtung der Welt der Ökonomie, der Warenkreisläufe, der großen Zusammenhänge des Politischen. Dies bot einen guten Anlass zur dichtungstheoretischen Positionierung aller Poetica-AutorInnen. Die Spannbreite reichte dabei von einem Plädoyer für eine Poesie jenseits des Politischen (Dąbrowski) über eine spirituelle Dimension der Poesie (Mishol) bis zu einer Theorie von Gedichten als Prototypen des Denkens/Fühlens (Xuan).

„Widerstehen und Abwarten“

In der Zentralbibliothek der Stadtbibliothek Köln waren abends Sergio Raimondi, Serhij Zhadan und Luljeta Lleshanaku zu hören. Die Gespräche moderierte erneut Jan Wagner, der es gut verstand, den AutorInnen Raum für ihre Positionen zu geben. Luljeta Lleshanaku ist Direktorin des Instituts zur Aufarbeitung des kommunistischen Genozids in Albanien. Sie selbst kommt aus einer politischen Familie, stand während der Diktatur unter Hausarrest und unterlag einem Publikationsverbot. Die Welt des Religiösen, so erläuterte sie im Gespräch mit Jan Wagner, habe für sie in dieser Zeit den Reiz des Verbotenen gehabt. Gedichte wie „Vögel und Kohle“ machen deutlich, dass ihre Poesie davon lebt, die Erinnerung in kühnen poetischen Vergleichen heraufzubeschwören. Sergio Raimondi las unter anderem „Silenus im Bahnhof“, einen Text, der paradigmatisch für seine literarische Technik steht: Ein schlafender Betrunkener am Bahnhof wird als Silenus (in der griechischen Mythologie ein Trinker im Tross des Dionysos) beschrieben, der, wäre er in Marmor gemeißelt, als hellenistisches Kunstwerk im Museum ausgestellt würde. In weiteren Gedichten Raimondis aus seinem großen Projekt „Für ein kommentiertes Wörterbuch“ erschließen sich immer wieder globale wirtschaftliche Verflechtungen anhand konkreter Gegenstände, Tiere und Menschen. Die Welt der Schifffahrt spielt dabei eine besonders wichtige Rolle. In Serhij Zhadans Vortrag wurde die rhythmische Qualität von dessen Texten deutlich. In einem Gedicht wie „Eisenbahnkohle“ erschließt sich der thematische und formale Kern seines Schaffens: Die Prosa des Alltags verloren wirkender Protagonisten, der sich bei ihm oft an Bahnhöfen abspielt, erhält eine schwermütig-metaphysische Dimension. Im Gespräch mit Wagner erzählte er, dass sich sein literarisches Schaffen durch die Präsenz des Kriegs in der Ukraine massiv gewandelt habe. Er betonte, dass dies für die ukrainische Literatur insgesamt gelte: Ein postmoderner Zynismus sei einer neuen Art von Ernsthaftigkeit gewichen.

Das Podium der Grand Tour im Alten Pfandhaus © Silviu Guiman v.l.n.r.: Jan Wagner, Luljeta Lleshanaku, Helen Mort, Serhij Zhadan, Erik Lindner, Tadeusz Dąbrowski und Federico Italiano © Silviu Guiman

„Europa im Gedicht – Grand Tour“

Am Freitagabend erweiterte sich die Gruppe. Gemeinsam mit dem italienischen Lyriker Federico Italiano moderierte Jan Wagner im Alten Pfandhaus die Veranstaltung „Europa im Gedicht – Grand Tour“. Diese beruhte auf der von den beiden Dichtern initiierte europaweite Lesetournee und der damit verbundenen, von ihnen herausgegebenen Anthologie „Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas“, in dem hunderte von Gedichten aus ganz Europa versammelt sind. Zu Tadeusz Dᶏbrowski, Serhij Zhadan und Luljeta Lleshanaku gesellten sich noch Helen Mort und Erik Lindner. Dᶏbrowski präsentierte sich erneut als selbstironischer Humorist, der etwa mit einem Gedicht über einen während eines Leseabends eingeschlafenen Professor das Publikum sehr erheiterte. Erik Lindner stellte Gedichte voller Erinnerung und Sehnsucht vor, etwa das melancholische Warten auf Wind des Filmemachers Joris Ivens auf einem Stuhl in der Wüste. In Helen Morts „The Girl Next Door“ scheint ein Nachbarmädchen die Identität der Sprecherin schleichend zu übernehmen, bis sie ihr sogar den Namen nimmt. Die ausdrucksvolle metaphorische Sprache ihrer Gedichte ist häufig gekoppelt mit einem Unheimlichwerden des Alltags. Serhij Zhadan, der auch als Musiker in zwei Bands spielt, las unter anderem „Regimentstrommeln“, ein Gedicht voller Verlorenheit, voller Gewalt und Schmerz: „Versuchen wir es noch einmal: / Die Zeit kehrt in die alten Wohnungen zurück / und findet unsere Spuren nicht mehr.“5Ebd., S. 103. In Luljeta Lleshanakus „Das Geheimnis der Gebete“ schien erneut die metaphysisch-religiöse Dimension ihres Werkes auf. Schließlich lasen alle DichterInnen noch ein Gedicht ihrer Wahl, das nicht von ihnen selbst stammte und beschlossen damit den inspiriert-inspirierenden Abend.

„Anderer Leute Träume“

Zum Abschluss der Poetica-Woche traten die AutorInnen im Schauspiel Köln auf. Unter der Regie von Philipp Pleßmann, der auch selber auf der Bühne stand, wurden ausgewählte Texte von ihnen zusammen mit Lola Klamroth, Katharina Schmalenberg und Kristin Steffen gelesen und in Szene gesetzt. Das Bühnenbild bot eine Zusammenstellung verschiedener Requisiten, die zentrale Themen der Poetica-Texte aufgriffen: Eine Sitzreihe wie an einer Bushaltestelle zur Repräsentation des Reisens, zwei Schreibtische für die dichterische Arbeit, im Hintergrund ein riesiger Fisch, der hervorragend zur surrealen Dimension vieler der Gedichte passte. Die narrative Klammer bildete ein Text von Herta Müller, der einen guten Rahmen für die einzelnen Gedichte bot. Mit Xi Chuans „Lied von der Ecke“, Agi Mishols „Der Olivenbaum“, Tadeusz Dąbrowskis „Ich bin eine von zehn / Millionen Ratten in dieser Stadt […]“, Serhij Zhadans „Verurteilt, aber nicht besiegt“, Erik Lindners „Bis sich ein Flügel der Mühle dreht“, Luljeta Lleshanakus „Du bist eine von uns“, Helen Morts „Anderer Leute Träume“, Sergio Raimondis „Was ist das Meer“ wurde eine Revue besonders charakteristischer Gedichte der AutorInnen geboten. Schließlich kam der Kurator mit seinem humoristischen „Giersch“ auch selbst noch poetisch zu Wort. Der Abend im Schauspiel war der gelungene Abschluss einer facettenreichen, ganz der Poesie gewidmeten Woche. Man darf sich schon auf die Poetica 7 Anfang 2021 freuen.

Bis dahin sind die wichtigsten Texte des Festivals in der beim konkursbuch Verlag erschienenen Publikation poetica 6. Widerstand. The Art of Resistance (hg. von Jan Wagner, Günter Blamberger und Marta Dopieralski) nachzulesen.