Stellwerk Magazin

Wie ein Schmerz beschaffen ist

Vorwort

Alice James (1848-1892), Tagebuchautorin und Schwester der gefeierten Brüder Henry und William James, wuchs in den USA in einem intellektuellen Umfeld auf, das ihr als Frau in dieser Zeit jedoch zu großen Teilen verschlossen blieb. Dabei ruhte in ihrem zeitlebens durch Krankheiten geplagten Körper ein reflektierter und kritischer Geist. Simone Scharbert hat ihr nun mit ihrem Prosadebüt „du alice. eine anrufung“ ein Denkmal gesetzt und formt die Biografie der feministischen Ikone in ein fragiles Textgewebe. STELLWERK traf die Autorin zum Gespräch.

Simone Scharbert: „du, alice. eine anrufung“ edition AZUR: Dresden 2019. 20 Euro.

„Eigentlich war die Idee am Anfang, etwas ganz Kurzes zu machen. Dann dachte ich, darüber muss man mehr erzählen. Ich fand, alle müssen die Geschichte dieser Frau einmal lesen.“ Aus diesem Anliegen heraus entstand Simone Scharberts Prosadebüt „du, alice. eine anrufung“, in dem Scharbert sich mit Alice James beschäftigt, einer Tagebuchautorin und Ikone der amerikanischen Frauenbewegung aus dem 19. Jahrhundert. Was als Gedichtzyklus begann, wuchs unaufhaltsam: „Irgendwann war klar, dass ich doch ein erzählerisches Element brauche.“ So entstand ein Prosatext von etwas über hundert Seiten, in dem es Scharbert gelungen ist, ihrem lyrischen Schreibduktus konsequent treu zu bleiben.

Der Text beleuchtet chronologisch Jamesʾ Leben. „Es ist keine Biografie, die ich da erzähle, aber es hat etwas mit Biografie zu tun, auf alle Fälle.“ Dies liegt schon darin begründet, dass Scharberts kreativem Schreibprozess ausführliche Recherchen über die Titelfigur und ihre Zeit vorausgingen. Dieses wissenschaftliche Arbeiten ist der promovierten Politikwissenschaftlerin, die an der Universität zu Köln als Lehrbeauftragte für Neuere deutsche Literaturwissenschaft tätig ist, sehr vertraut. So schließt sich an den Text auch ein Quellenverzeichnis an, welches ermöglicht, die Herkunft der Fakten zu verorten, die uns Scharbert in poetischer Form vermittelt.

Ein Haushalt ohne Liebe

Am Anfang steht ein Prolog: Alice im Bett. So lautet auch der Titel des Theaterstücks, das Susan Sontag Alice James widmete. „das bett kennst du von klein auf. kennst seine größe, seine maße genau. nichts ändert sich. seit jahren. werden die abstände zum rand geringer, das bett selbst aber bleibt gleich.“1Scharbert, Simone: du, alice. eine anrufung. edition AZUR: Dresden 2019, S. 7. Mit diesen Sätzen leitet Scharbert ihren Text ein und verweist damit auf die Tatsache, dass ihre Titelheldin aufgrund psychischer und physischer Beschwerden Zeit ihres Lebens meist ans Bett gefesselt war. Insbesondere, nachdem bei ihr die Diagnose „Hysterie“ gestellt wurde – ein Schicksal, das James mit vielen Frauen ihrer und späterer Generationen teilt. Eine gängige Behandlungsmethode: Strenge Bettruhe. So verpasst Alice viel vom gesellschaftlichen Leben: „ein abschneiden von der welt, ein abgenabelt werden von allem, bevor überhaupt etwas angefangen hat.“2Ebd. S. 12.
Dabei spielt die Erziehung im intellektuellen Haushalt der Familie James eine große Rolle, die Scharbert als „seltsame Melange aus Reformpädagogik und sehr starken Restriktionen“ beschreibt. Henry James Sr., der seinen Söhnen – dem berühmten Romancier Henry James und dem Psychologen William James – viel ermöglicht, seine Tochter aber unterdrückt, tritt uns in Scharberts Bearbeitung als eine Art Antagonist entgegen: „vaters anwesenheit verringert die deine.“3Ebd. S. 14. Zwar gehen im Salon der Familie intellektuelle Größen der Zeit ein und aus, die junge Alice darf am gesellschaftlichen Leben jedoch nicht teilnehmen: „eure gespräche, euer täglicher umgang folgt einem fixen regelwerk, das dir zuwider ist, dir schwarze wut in die augen treibt, immer dann, wenn bei gesellschaften deine antworten wie krümel vom tisch gewischt werden, überreste deines denkens.“4Ebd. S. 15.

Von „kleinen Utopien“

Erst spät gelingt Alice eine Emanzipation, und auch diese nur in kleinen Schritten. So beginnt sie für die Society to Encourage Studies at Home, die als sogenannte „Silent University“ Frauen Wissen miteinander austauschen lässt, Aufsätze über amerikanische Geschichte zu schreiben, und per Post zu verschicken. Die Relevanz solcher Netzwerke schätzt Scharbert für die Frauenbewegung sehr hoch ein: „Ich glaube, dass Bildung der zentrale Schlüssel war. Deswegen ist das mit diesen Silent Universities so wichtig. Alles, was in der Frauenbewegung immer versucht wurde, hat ganz viel mit Bildungszirkeln zu tun.“ Vor diesem Hintergrund findet die Auseinandersetzung mit Alice Jamesʾ Geschichte auch in unserer Zeit noch enorme Relevanz – so sagt Scharbert, wäre aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit viel für die Zukunft des Kampfes für Gleichberechtigung zu lernen. „Alice Jamesʾ Leben ist eigentlich eine Geschichte des Scheiterns, die trotzdem ganz viel hinterlässt.“ Gerade deswegen ist die Entscheidung, den Stoff als Anrufung aufzubereiten und die Protagonistin als „du“ anzusprechen, clever. Damit wird James nicht zum wiederholten Male Objekt, über das gesprochen wird, sondern eine Gesprächspartnerin auf Augenhöhe.

Sich selbst einen Raum finden

Alice James bleibt Zeit ihres Lebens unverheiratet und kinderlos. Später lebt sie mit Katharine Loring zusammen. Die Verbundenheit zwischen den beiden gießt Scharbert auf eine sanfte Weise in Worte: „ihre anwesenheit lässt dich leicht werden, dich selbst vergessen, ein seltenes gefühl.“5Ebd. S. 57. Die Beziehung der beiden Frauen inspiriert Aliceʾ Bruder Henry zu dessen Roman „The Bostonians“. So entstand der Begriff der „Bostonehe“, welcher die Beziehung zweier lediger Frauen in einem Haushalt beschreibt. Diese Lebensform bietet im 19. Jahrhundert die Möglichkeit, außerhalb der weitgehenden Fremdbestimmung und Inbesitznahme eines Mannes zu leben. 1889 beginnt Alice James ihr heute gefeiertes Tagebuch, in dem sie sich mit der Gesellschaft ihrer Zeit auseinandersetzt. „Sie hat wirklich einfach mitskizziert, und es ist auch nicht immer freundlich, was sie da schreibt – auch über ihre Brüder nicht. Sie konnte ganz schön gemein sein.“ Das Tagebuch wird für James zu einem der wenigen Orte, an denen sie sich selbst verwirklichen kann: „an diesem ort beginnst du.“6Ebd. S. 90.

Wie ein Schmerz beschaffen ist

Zwei Jahre nach Beginn des Tagebuchs erkrankt James an Brustkrebs, eine Diagnose, die sie aber – unfassbarerweise – beglückt: „deine zufriedenheit, nach jahren, jahrzehnten der unklarheit nun endlich adressatin einer klar definierten krankheit zu sein.“7Ebd. S. 100. James sehnt sich nach dem Tod, den sie als ihr Lebensziel ansieht. Scharbert hat sich auch mit dem Krankheitsverlauf ihrer Heldin tiefgehend beschäftigt. Die Fragilität und Präzision der poetischen Bilder, mit denen sie die körperlichen Vorgänge einfängt, gehen beim Lesen direkt unter die Haut: „du schläfst nur noch auf dem rücken, heftest deine blicke, deine angst an die decke, heftest muster, versuchst deine brust zu entlasten, sie zu beruhigen, wiegst sie in den schlaf, eines deiner nichtgeborenen kinder, achtest auf jede deiner bewegungen. der knoten frisst sich weiter ins fleisch, durchbricht milchdrüsen und brustlappen, ein geflecht, das kein ende, keinen grund kennt.“8Ebd. S. 95.
Ein Jahr später stirbt die 43-Jährige in London. Sie wird im Grab ihrer Eltern in Cambridge beerdigt. „Nach langen Torturen und Verbannung fand sie diesen Frieden“, heißt es auf dem Epitaph, welches ihr Bruder William auswählt. Es ist ein Zitat aus Dantes „Göttlicher Komödie“. „Ich finde das so unfassbar traurig und dennoch so signifikant für ihr ganzes Leben, dass mit diesem Sterben eine Befreiung stattfindet. So absurd.“