Stellwerk Magazin

Essay Nacktheit als radikale Kostümierung in "Der Streik"

Vorwort

Den in den USA mitunter erfolgreichsten Roman Atlas Shrugged von Ayn Rand aus dem Jahr 1957 inszenierte Stefan Bachmann unter dem 2012 neu aufgelegten Titel DER STREIK für das Schauspiel Köln. Was Ayn Rand hier in einer Mischung aus Politik und Science Fiction entwirft, ist eine Philosophie des Objektivismus, deren Anhänger sich nach einem Kapitalismus ohne Grenzen sehnen.

Ein allgemeines Raunen geht durch den Saal, als sich die zwei Protagonisten des Dramas DER STREIK, Dagny Taggart und Hank Rearden, wie selbstverständlich während eines Dialogs entblößen, um anschließend in einem Lieferwagen wilden Sex zu haben. Die Unruhe im Publikum wird noch hörbarer, als sich Dagnys Bruder James einige Szenen später entkleidet, sich mit gespreizten Beinen auf die Eisenbahnschienen legt, und während seines langen Monologs sein Glied dem Publikum zuwendet. All das wirkt nicht mehr ästhetisch, es strengt an, man wünscht sich sogar als Zuschauer nicht mehr hinschauen zu müssen. Was hatte der Regisseur Stefan Bachmann im Sinn, als er den Roman Atlas Shrugged von Ayn Rand (1957) für das Schauspiel Köln auf diese Weise umsetzte? Wollte er bloß provozieren und Aufmerksamkeit erwecken oder steckt mehr dahinter?

Fest steht, hier geht es nicht um eine ästhetische oder gar romantische Nacktheit. Im Gegenteil, die Reaktion des Publikums zeigt, dass es sich vielmehr um etwas Unangenehmes handelt, etwas, das man lieber nicht gesehen hätte. Dennoch behauptet Ulrike Traub, die sich in ihrer Dissertation Theater der Nacktheit mit der Bedeutung entblößter Körper auf der Bühne beschäftigt hat:

Die Nacktheit ist nichts Außergewöhnliches, sondern eine Kostümentscheidung, wie es ein elisabethanisches Kostüm oder ein Fußballdress gewesen sein könnte.1Traub: Theater der Nacktheit, S. 319.

Und tatsächlich lassen sich bei einem genauen Blick auf die Thematik des Stückes durchaus Gründe für eine nackte Dagny und einen nackten Hank finden. Die Zwei, erfolgreiche Eisenbahnunternehmerin und innovativer Stahlhersteller, stehen für einen von staatlichen Regulierungen freien Kapitalismus ein und wenden sich damit klar von Verfechtern einer Wohlfahrtsgesellschaft ab. "Immer wenn die gesellschaftlichen Institutionen fragwürdig geworden zu sein scheinen, bietet sich die Rückbesinnung auf eine scheinbar noch nicht entfremdete Natur an, in diesem Falle auf die Natur, die wir als Körper selbst sind." 2So der ehemalige ZEIT-Reporter Gero Randow, in: Wie viel Körper braucht der Mensch?, 10.

Hank und Dagny scheinen in einer solchen zweifelhaften Welt zu leben, in der nur sie selbst ihre eigenen Fähigkeiten zu schätzen und zu ehren wissen, einer Welt, in der Unternehmer spurlos von der Bildfläche verschwinden und individuelle Ideen und deren Gewinn von Plünderern aufgesaugt werden. Erst indem sie sich auf sich selbst zurückbesinnen und ihren Egoismus als Tugend kennenlernen, finden sie ihren Grund und ihre Berechtigung in dieser abstrus gewordenen Welt. Doch hier steht das Nacktsein nicht nur als Rückbesinnung auf die eigene Natur, als Auflehnung gegen den für Dagny und Hank fragwürdig erscheinenden Wohlfahrtsstaat. Vielmehr bietet Bachmanns Inszenierung auch Spielraum, die Berechtigung dieser kapitalistisch denkenden Personen und deren Handeln in Frage zu stellen. Letztendlich zeigt die radikale Nacktheit und der – hier zumindest verdeckt dargestellte – Geschlechtsverkehr auf der Bühne auch, wie radikal und pervers Dagnys und Hanks Ansichten und Wünsche eigentlich sind. Laut Traub ist der Körper in der Gegenwart immer mehr zu einem Konsumobjekt geworden, das bei der Durchsetzung ökonomischer Interessen hilft.3Vgl. Traub: Theater der Nacktheit, S. 300. Und auch bei Dagny und Hank kann vielmehr von Konsum als von Liebe die Rede sein. Solange es in ihrem Interesse ist und der individuellen Lust entspricht, nutzen sie den jeweils anderen, konsumieren ihn. Beide nehmen sich das, dessen sie gerade bedürfen ohne Rücksicht auf Verluste oder Folgen, sei es Geld, Macht oder ein anderer nackter Körper. Der Körper ist hier eine Ware, die man wegwirft sobald sich etwas Besseres ergibt. So verliert Dagny das Interesse an Hank, als sie den bekannten John Galt kennenlernt. Im Bezug auf Jürgen Gosch, der sich aufgrund anrüchiger Nacktszenen in seiner Macbeth-Inszenierung viel Kritik anhören musste, zeigt Traub, dass entblößte Körper zum einen Ausdruck von Unangepasstheit, so wie bei Dagny und Hank, zum anderen aber auch von Verletzlichkeit und Gefährdung sein können.

Das Stilmittel, worauf der Regisseur setzt, ist der nackte Körper, und dieser wird zum höchsten Ausdruck von Echtheit, weil die hier präsentierten Körper nicht geschönt oder manipuliert sind [...]. Der elementare Körper zeigt die elementaren Themen Macht und Gewalt.4Traub: Theater der Nacktheit, S. 322 f.

Dies erklärt auch, warum Dagnys Bruder James, ein Freund des staatlich regulierten Kapitalismus, sich über weite Strecken nackt über die Bühne bewegt. Dabei geht, stolpert und fällt er über die Bühne, seine Hose stets hinter sich her schleifend und sein Glied für allermann sichtbar. Spätestens hier sollten auch die Zuschauer der letzten Reihe bemerkt haben, dass es Bachmann nicht um Ästhetik, sondern vielmehr um das Provozieren durch Ekel und Perversion geht. Natürlich zeigt diese Szene James' Verletzlichkeit und seinen Mangel an Macht. Die meisten erfolgreichen Unternehmer sind bereits verschwunden und er sieht die Wohlfahrtsgesellschaft, von der er profitiert und geschöpft hat, in Gefahr. Die Gesellschaft, die bisher für ihn arbeitete, hat ihn entblößt, seinen Mangel an eigener Leistung offenbart. Passend dazu stellt Traub fest:

Die gewachsene gesellschaftliche Liberalität führt zu einer gefühlten Entwurzelung, welcher alleine der eigene Körper als einzig verlässliches Moment noch entgegenstellt.5Ebd., S. 302.

Doch die Tatsache, dass diese Entblößung des Nicht-Leistungsfähigen auf eine solch dreckige und peinliche Art und Weise dargestellt wird, zeigt doch schon wie pervers auch die kapitalistische Welt arbeitet. Aufgedeckt wird hier also einerseits die schuldige und ganz und gar gewollte Nacktheit der Kapitalisten, Hank und Dagny, und gleichzeitig die abstoßende und vielleicht auch ungewollte Nacktheit der Gegner, denen bewusst wird, dass sie nur mithilfe ebendieser, im Eigeninteresse handelnden Personen in Wohlstand leben können. Nacktheit steht in dieser Aufführung somit nicht nur für Macht und Mangel an Macht in einer kapitalistischen Gesellschaft, sondern deckt auf, wie fatal die Folgen dieser von Ayn Rand imaginierten Welt sein können.

RANDOW, Gero von; GOLIN, Simon; MEYER, Matthias. Wie viel Körper braucht der Mensch? Standpunkte zur Debatte; für den Deutschen Studienpreis. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2001.

TRAUB, Ulrike. Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900. Bielefeld: transcript Verlag, 2010.

Foto: David Baltzer | Schauspiel Köln

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