Stellwerk Magazin

Interview mit Nina Rühmeier Über Brecht und Puppen

Vorwort

DER GUTE MENSCH VON SEZUAN ist die vom Publikum begeistert aufgenommene erste Inszenierung des neuen Hausregisseurs Moritz Sostmann am Schauspiel Köln. Die für ihn typische Arbeit mit verschiedenen Puppenfiguren, ist eines der zentralen inszenatorischen Mittel, welches dem Brechtschen Stoff Einiges von seiner kritischen Schwere nimmt. Mit der Dramaturgin des Stücks, Nina Rühmeier, habe ich über ihre ästhetische Theaterkonzeption hinter der Inszenierung gesprochen und darüber hinaus Einblicke in den Probenprozess, die bisherigen Kritiken und die Situation der Gegenwartsdramatik erhalten.

Wie aktuell ist für Sie DER GUTE MENSCH VON SEZUAN noch?

Ich glaube, es ist die Frage danach, wie solidarisch man in einer Gemeinschaft noch sein kann. Für mich ist der Kernsatz des Stückes: Wie kann ich gut sein zu Anderen und zu mir selbst? Es ist dieser Konflikt, in dem wir selbst auch permanent stehen: Wie kann ich meine eigenen Interessen wahren und trotzdem als soziales Wesen in einer Gemeinschaft funktionieren und den Anderen eben nicht schaden, sondern im Gegenteil, produktiv etwas zur Gemeinschaft beitragen?

Haben Sie eine Antwort auf diese zentrale Frage im Stück gefunden?

Für mich ist es ein Stück, das immer nur neue Fragen aufwirft. Und das ist ja auch das Fazit des Stückes: Suche dir deinen Schluss, suche dir deine Antwort. Ich habe die Antwort auch noch nicht gefunden. Es ist schließlich eine Antwort nach der jeder jeden Tag wieder sucht, wenn auch nicht bewusst. Viele kleine Entscheidungen, die wir treffen, hängen mit diesem Konflikt zwischen eigenen und fremden Interessen zusammen und wir versuchen immer wieder eine Balance zu finden.

Sollte das Publikum also das Theater mit Fragen verlassen?

Ich kann da nur für mich sprechen. Ich arbeite gerne am Theater, weil ich hoffe, dass man etwas Produktives schafft, was man nicht nur im Moment der Aufführung mit anderen Leuten teilt, sondern ihnen auch mitgeben kann. Ein paar neue Gedanken, sodass man verändert aus einem Abend hinausgeht. Das wünsche ich mir auch für mich, wenn ich ins Theater gehe, dass ich anders rausgehe, als ich reingegangen bin, dass ich eine Weile einen anderen Blick auf die Welt bekomme, dass ich anfange, Fragen zu stellen, eine Art Bewusstwerdung durchlaufe.

Sehen Ihre Kollegen das genauso?

Im Team haben wir darüber diskutiert, ob wir auf die Frage des Stücks selbst Antworten haben, aber auch darüber, was für Antworten es bisher gab. Wenn man sich mit Brecht beschäftigt, stößt man ganz automatisch auch auf die Antworten der jüngeren Menschheitsgeschichte. Sind diese alten Theorien noch in die Gegenwart übertragbar? Ist es für uns noch interessant? Noch relevant? Für unser Team ist dabei herausgekommen, dass wir mögliche Antworten in der Inszenierung nicht so deutlich zeigen möchten. Wir haben Brecht dort ernster genommen, wenn es darum geht, dass man eine Mischung aus Unterhaltung und Inhalt schafft. Eigentlich kann man diese beiden Seiten ja auch gar nicht voneinander trennen, denn man kann Inhalte nur vermitteln, wenn man es den Zuschauern kurzweilig gestaltet und bei Brecht ist das auch genau so angelegt. Im Stück stecken verschiedene Genres und es hat neben den kritischen Inhalten auch diese komischen Momente, die an Boulevardkomödie erinnern. Der politische Input ist ohnehin so stark im Text enthalten, dass man diesen eigentlich auch gar nicht mehr so stark in der Inszenierung betonen muss. Man kann daher überlegen, wo steckt die Poesie der Sprache? Wo kann man die komischen Momente finden?

Sollte das Publikum durch die Verfremdung mit den Puppen eher zum Nachdenken angeregt werden, oder war Ihnen die Erregung des Mitleids wichtig?

Ich hoffe, dass sich die Qualität des Abends auf keinem dieser extremen Pole bewegt, sondern dass wir eine Balance gefunden haben, ohne dass es sich um einem faulen Kompromiss handelt. Ich glaube, dass man Beides gut zusammenbringen kann. Die politischen Fragen stellen sich durch den Text ja schon sehr stark, und zugleich hoffe ich, dass man auch in einigen Momenten Mitgefühl für einzelne, eigentlich sogar für alle Figuren haben kann. Das hängt auch gar nicht von den verschiedenen Puppen ab, denn sowohl die Menschenpuppen, als auch die Puppets haben Momente, in denen man stark mit ihnen empfinden kann. Ich finde es erstaunlich, dass ich auf einmal die Texte auch wieder an mich heranlassen kann, durch diese anderen Körper, durch die die Texte gesprochen werden. Darin liegt eine große Qualität der Puppen, dass es einerseits eine Distanzierung vom Schauspieler und andererseits ein Näherrücken an den Zuschauer ist. Diese Wirkung fand ich erstaunlich, aber auch sehr schön.

Inwiefern hat das chinesische Theater als Inspiration gedient?

Aus ihm haben wir eher den groben Überbau für das Stück gewonnen. Es gibt auch einen Essay von Brecht selbst über den Verfremdungseffekt im chinesischen Theater, das war unsere primäre Referenz. Wir haben uns vor allem über Bildmaterialien mit dem chinesischen Theater beschäftigt: Wie sehen diese Inszenierungen, wie die Kostüme aus? Wie schminken sich die Schauspieler?

Sind die Menschenpuppen dieser Theaterrichtung nachempfunden?

Ja, es ist eine Mischung aus chinesischem Theater und den chinesischen Gesichtszügen, die Puppen sind ja nicht so typisch stark geschminkt, wie das im chinesischen Theater üblich ist, z.B. mit Schminkmasken, die Referenz nehmen eher die Farben der Kostüme und des Bühnenbildes auf. Aber da haben natürlich auch andere Einflüsse mit reingespielt, wie z.B. Filme von Wong Kar-Wai. Dabei lesen wir als Dramaturgie nicht nur Brecht, sondern auch Zeitungsartikel, die etwas mit den Themen des Stückes zu tun haben. Und auch die Kostüm- und Bühnenbildner arbeiten viel mit Assoziationen über Bücher und Bildmaterial.

Ist Ihre Inszenierung noch mit dem Brechtschen Theater vergleichbar, oder entsteht durch die Verwendung der Puppen etwas komplett Neues?

Im Gegenteil, ich finde, dass wir mit den Puppen und ihrem Verfremdungseffekt sehr dicht an Brechts Theatertheorie dran sind. Und das war in gewisser Weise auch Ziel der Inszenierung.

Ist dieser Verfremdungseffekt im heutigen Theater überhaupt noch notwendig?

Ich glaube schon, dass es heute einfach alltäglich ist und wir Verfremdungen oft auch gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Bei den Schauspielern gibt es da schon eher verschiedene Verfechter: Diejenigen, die sich sehr stark einfühlen in ihre Rollen, und diejenigen, die nach Brechtscher Manier arbeiten und die Figuren weiter von sich weghalten, indem sie sie eher zeigen, als sie 'zu sein'. Wir haben diese Trennung von Schauspieler und Figur zum einen durch das Spiel mit den Puppen, zum anderen aber auch durch die Sprechweisen mit den Mikrophonen und den direkten Publikumsansprachen realisiert. Für die Spieler herrscht immer das Bewusstsein auf einer Bühne zu stehen und etwas zu verkörpern. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch Brecht gerne in einer solchen alten Industriehalle mit seinen Schauspielern gearbeitet hätte.

Wie haben Sie die Proben in der neuen Spielstätte empfunden?

Für uns war es so, dass wir das Gelände erst erobern mussten. Mich hat es sehr berührt, als am Premierenabend zum ersten Mal Publikum in dem Raum saß, in dem dann Theater gespielt wurde. Man spürt in diesen Hallen noch, dass dort früher schwere körperliche Arbeit geleistet wurde. Also eigentlich ist die Halle nicht unbedingt für das Theater geschaffen. Wir hatten insbesondere akustische Probleme, die für die Technik eine große Herausforderung darstellten. Ich bewundere die Geduld der Techniker, wie sie stets an weiteren Verbesserungen des Tons arbeiten. So erobert man sich Neuland. Die letzten Tage vor der Premiere waren auch sehr fiebrig, so wurde etwa noch im Garten gearbeitet und die Spannung lag über dem ganzen Haus.

Was macht die Arbeit mit Puppen so besonders?

Also für mich haben die Unterschiede bereits mit der ersten Probe angefangen. Bei der Leseprobe, wo sich alle das erste Mal gemeinsam in der Konstellation treffen, war es in diesem Fall so, dass durch die Puppen, die zu diesem Zeitpunkt schon da waren, so ein Gefühl von Kindergeburtstag entstanden ist. Man kann quasi nochmal neue Ensemblemitglieder begrüßen. Es war interessant zu sehen, dass die Schauspieler den Umgang mit diesen neuen Körpern erst einmal kennenlernen mussten. Von den Puppenbauer erfuhren sie, was mit den Puppen, ihren Gelenken, ihren Gesichtszügen usw. überhaupt möglich ist. Das verändert natürlich auch den Probenprozess, denn man muss etwas technischer proben. Man hat kleinteiligere Vorgänge, weil die Schauspieler nicht nur mit ihren eigenen Körpern umgehen müssen, sondern zusätzliche Körper vor sich haben, die sie erst noch beleben müssen. Die sechs Schauspieler sind alle zum Glück sehr schnell, auch wenn es sicherlich eine Anstrengung abverlangt.

Wie haben Sie entscheiden, wann welche Figur als Puppe oder als Schauspieler auftritt?

Es waren in erster Linie emotionale Momente, die die Veränderung der Besetzung ausgelöst haben. Man kann es bei Shen Te etwa an der Geschichte mit dem Piloten festmachen: Nachdem die Hochzeit scheitert wird sie wieder zur Puppe. Der Moment, in dem sie ihn kennenlernt und sich entscheidet, mit ihm durchs Leben zu gehen, ist ihr großer Glücksmoment, der den Wechsel zur Schauspielerin ausmacht. Und das Scheitern der Verbindung lässt das Glück wieder in sich zusammenfallen. Es ist eine Mischung aus inhaltlichen und pragmatischen Entscheidungen gewesen. Die eigenen Vorstellungen müssen dann im Probenprozess natürlich noch einmal praktisch hinterfragt werden, primär müssen die inszenatorischen Entscheidungen jedoch inhaltlich reflektiert getroffen werden.

Haben Sie eine Lieblingsfigur?

Eigentlich habe ich alle Figuren lieb gewonnen. Ich liebe die Puppets sehr, insbesondere den Schreiner. Das hängt wohl mit seiner Puppe zusammen, aber auch mit seinem Schicksal, da er als Nebenfigur immer wieder versucht aufzustehen und immer wieder vollkommen schuldlos tiefer ins Elend gerät. Ähnlich geht es ja auch Shen Te, die beim ersten (Wieder-)Lesen auf jeden Fall die stärkste Identifikationsfigur war. Die Familie, die wir als Schmarotzer erleben, steht im Gegensatz zum Schreiner, denn dieser fordert ja nur ein, was ihm auch wirklich zusteht, da er eine naive Figur ist, während die Familie aus der Tonne Shen Te berechnend ausnutzt.

Hätte Brecht das Stück heute vielleicht auch so inszeniert?

Ich muss zugeben, dass ich mir diese Frage, was der Autor eigentlich mit dem Text gewollt hat, eigentlich nie stelle. Wenn ich einen Text lese, versuche ich herauszufinden, welche verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten man hat: Was erzählt mir ein nicht gegenwärtiges Stück heute noch? Was kann es unserer Zeit noch sagen? So scheitert man auch, wenn man sich fragt, was das Publikum sehen will, weil es eine stets sehr heterogene Masse ist und man ohnehin nicht allen gerecht werden kann. Man selbst begreift sich ja auch als Teil des Publikums, auch ich bin immer wieder Zuschauer in den Produktionen, auch in jenen, an denen ich selbst mitarbeite. Wichtig ist, dass ich jeden einzelnen Zuschauer genauso ernst nehme, wie ich auch mich ernst nehme. Das kann ich aber auch, indem ich ihn zum Widerspruch herausfordere.

Haben Sie mit dem Erfolg der Inszenierung gerechnet?

Naja, man hofft natürlich immer, dass es ein Abend wird, mit dem man selbst zufrieden ist, hinter dem auch die Schauspieler wirklich stehen können. Letzteres finde ich zunächst am wichtigsten, weil die Schauspieler diejenigen sind, die mit dem Stück rausgehen müssen. Manchmal schafft man es auch aufgrund des Titels einfach nicht, die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erzeugen, die man eigentlich gerne erreichen würde.

Wie schätzen Sie allgemeine Trends im Gegenwartstheater ein?

Es gibt einfach eine bestimmte Anzahl von Regisseuren, die für die Theaterlandschaft sehr prägend ist. Diese Regisseure sind für viele eine Referenz was die Inszenierungen betrifft, gerade in Bezug auf eine Ästhetik, an der sich viele orientieren können. In den letzten 20 Jahren war das z.B. Frank Castorf (Volksbühne). Allgemein sind es sicherlich die großen Regisseure, die Trends setzen. Aber eigentlich sind das gar keine Trends, sondern viel mehr persönliche Regiehandschriften, die sich über die Jahre verfestigt haben, an denen sich viele orientieren. Andere Beispiele wären Michael Thalheimer, seit einigen Jahren auch der jüngere Regisseur Antú Romero Nunes, aber sicher gehört auch Stefan Bachmann dazu, oder Karin Beier. Jeder von ihnen hat eine eigene Handschrift. Solche Theorien, wie die von Brecht, lassen sich darin bestimmt wiederfinden, ohne dass man sagen könnte, jemand inszeniert in diesem oder jenen bestimmten Stil. Theatergeschichte ist auch etwas, das sich immer im Prozess befindet und dadurch, dass sie ein relativ geschlossenes System ist, gibt es sehr viele bewusste, aber auch unbewusste Bezugnahmen aufeinander. Vor allem im deutschsprachigen Raum, mittlerweile aber auch verstärkt international, verschwimmen die Grenzen zwischen den Genres zunehmend. Und auch das Puppentheater ist etwas, das immer mehr hoffähig wird. Man kann noch von keiner Masse an Puppeninszenierungen sprechen, aber die Akzeptanz steigt. Das Puppenspiel wird nicht mehr so sehr in die Ecke des Kindertheaters gedrängt. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Unmittelbarkeit zwischen Publikum und Bühne eine größere Akzeptanz für neue Formen ermöglicht. Man fragt sich immer, welche Stoffe und Formen sind für uns noch interessant und wo kann man auch in älteren Texten Gegenwartsbezüge finden?

Foto: Annika Schilling, Anna Lena Schlott, Mohamed Achour (v.l.n.r.) (Klaus Lefebvre | Schauspiel Köln)

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