Stellwerk Magazin

Ein Ort für einen anderen

Vorwort

“der wind geht, auffrischnd, fühlbar um die ohren, schmauchspuren über der stadt. die auf der hand liegt. die vor dem mund liegt, hautpartikel die von den lippn, den furchn sich lösn, wie palimpsest. wie eßpapier.”

(Kling, Thomas: Mandhattan Mundraum. In: Ders.: morsch. Gedichte. Frankfurt a. M. 1996, S. 11.)

Ruhrorter Straße 110

Ruhrorterstraße 110 – was sie verspricht, das hält sie auch: Gen Südwesten erstreckt sich Mülheim, in der Gegenrichtung liegt Duisburg. Der Koloss mit der Nummer 110 teilt die Verbindungslinie zwischen den beiden Städten an der Ruhr geradezu in der Mitte, von Nordosten ergänzt Oberhausen die Gerade noch zum Dreieck. Superlative prallen hier aufeinander: Der nahe Raffelbergpark mit einem ehemaligen Kurbad liegt direkt an der A40 – eine von Deutschlands Schnellstraßen mit dem höchsten Verkehrsaufkommen; Mülheim und Oberhausen sind derweil zwei der am meisten verschuldeten Städte im Bundesgebiet. Ein Golfclub und eine Pferderennbahn, ein Fitnessstudio und ein mongolisches Restaurant, ein Nebenarm des Flusses und der Industriehafen bilden die weitere Umgebung. Das Gebäude selbst zeigt sich davon wenig beeindruckt, gräulich hell und wuchtig steht es an der Straße. Seit Jahren klafft eine Leerstelle auf den meisten Ebenen, hinter den vielen Fenstern gibt es deshalb fast nichts zu sehen. Und doch ist Leben drin.

Der heute gut 14.000 m² Nutzfläche umfassende Gebäudekomplex wurde 1936 als Zentrale der Ladenkette Schätzlein errichtet und in den 1950er Jahren um Büro- und Depotflächen erweitert. Das Warenhaus Karstadt und die Stadt Mülheim nutzten die Immobilie in der Folge für Lager- und Verwaltungszwecke, bis sie 1990 einige Umbauten erfuhr. Ab dem 01.11. des Jahres nämlich dienten Teilbereiche des Hauses als Notunterkünfte für Spätaussiedler. "Übergangsheim für asylbegehrende Ausländer und ausländische Flüchtlinge"1http://ratsinfo.muelheim-ruhr.de/buerger/vo020.asp?VOLFDNR=5060&options=4#searchword (zuletzt abgerufen am 18. 04. 2014). lautete fünf Jahre später der offizielle Titel des Mietgegenstandes. Obwohl der Vertrag bis Ende 2005 Bestand haben sollte, beschloss der Rat der Stadt bereits am 10.07.2003 die vorzeitige Auflösung des Heims, da es nur eine geringfügige Auslastung zeigte – zu dieser Zeit lebten noch 35 Personen in den für 250 Menschen angelegten Wohnflächen. Nicht zuletzt trug die Auflösung auch den "unzulänglichen sozialen Umständen der Wohnsituation"2Ebd. Beispielsweise fällt darunter auch das Fehlen einer Spielmöglichkeit für Kinder; der Plan der Einrichtung einer Spielfläche im Innennhof des Gebäudes scheiterte am Veto des Vermieters (vgl. http://ratsinfo.muelheim-ruhr.de/buerger/to020.asp?TOLFDNR=650&options=4, zuletzt abgerufen am 18. 04. 2014). Rechnung; die übrigen Bewohner wurden auf andere Unterbringungsmöglichkeiten umverteilt. Bis auf das Theater an der Ruhr mit seiner Probebühne und dem Lager im Erdgeschoss sind die Räumlichkeiten der anderen fünf Etagen seither ungenutzt. Versuche, das Gebäude zu vermieten, schlugen fehl – trotz des Vorhabens einer Stärkung der 'Kreativen Klasse' im Zuge des Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010. Die Pläne der Architekten, den Bau für Ateliers zu nutzen, werden derzeit bei der Stadt Mülheim bearbeitet.

Für zwei Monate nun ist das Theater- und Kunstprojekt Ruhrorter in der 1. und 4. bzw. 5. Etage eingezogen. Das Projekt ist – sowohl der Zusammensetzung seiner Beteiligten als auch seinem Vorhaben nach – nichts Stetiges, sondern ein Prozess, ein sich entwickelndes Geschehen. Die Laienschauspieler der Gruppe haben allesamt einen Flüchtlingshintergrund, erst seit kurzem oder nur zeitweilig sind sie im Ruhrgebiet, in Deutschland. Seit Anfang des Jahres probt die Gruppe, die sich immer wieder ändert, wenn jemand Arbeit findet oder gar abgeschoben wird, auf ein Theaterstück hin. Im Mai wird "Zwei Himmel" in den oberen Stockwerken des Gebäudes Premiere feiern, daneben finden kleinere Interventionen im öffentlichen Raum unter dem Titel "15 Minuten" statt, um ein Bewusstsein für Zeitlichkeit zu schaffen – betrifft sie doch die Aufenthaltsdauer der Mitglieder genauso wie die gängige Kurzlebigkeit von Theaterproduktionen.3Vgl.: Flade, Kristin und Jonas Tinius: Performing Temporality and Refugee Theatre. A Conversation between Kristin Flade and Jonas Tinius. Abrufbar unter: http://www.applied-theatre.org/blog/performing-temporality-and-refugee-theatre (zuletzt abgerufen am 18. 04. 2014). Die Dokumentation des Arbeitsprozesses in der Lokalpresse und einem Weblog ist deshalb ein wichtiger Bestandteil des Projekts. Portraits der Teilnehmenden und wissenschaftliche Begleittexte machen auf die Prozesshaftigkeit aufmerksam, verhelfen ihr in der Stadtgesellschaft zu Sichtbarkeit. Parallel zu den Theateraufführungen wird schließlich eine Rauminstallation im 1. Obergeschoss des Hauses zu sehen sein, welche die An- und Abwesenheit von Körpern in den Fokus rückt, selbst ganz ohne Körper auskommt.

Ein Emblem für die Handhabe, Schauspiel und Kunst nicht ausschließlich an die ursprünglich für sie erbauten Theater und Museen zu binden, ist das Ruhrgebiet in ausnehmend virulenter Weise. Seit über einem Jahrzehnt dienen dem internationalen Festival Ruhrtriennale – hier nur als ein Beispiel unter vielen angebracht – Industriedenkmäler der Region als Schauplätze. Tanz, Konzert und Performance finden in Maschinen- und Gebläsehallen, entlang einer Hochofenstraße, auf einer Halde statt. "Kunst als Erfahrung"4Goebbels, Heiner: Editorial. In: Ruhrtriennale. International Festival of the Arts. Gelsenkirchen 2012, S. 7-11, hier S. 7. nennt Heiner Goebbels zu Beginn seiner Intendanz das Phänomen der Rezeption, das durch die Materialität des Aufführungsortes noch befeuert wird. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Industrie und (Hoch-)Kultur, Schmutz und Perfektion, Tradition und Moderne5Vgl. hierzu auch: Tinius, Jonas: Die schmutzige Kulturmetropole? In: Fensterplatz. Studentische Zeitschrift für Kulturforschung, Nr. 4 'Schmutz' (2012). Abrufbar unter: http://www.zeitschrift-fensterplatz.de/2012/09/die-schmutzige-kulturmetropole/ (zuletzt abgerufen am 18. 04. 2014). fordert die Kunst heraus, hat im 'Kohlenpott' aber schon längst durch das Kompositum der 'Industriekultur' seinen eigenen Ausdruck und Mythos gefunden.

Weitaus weniger institutionalisiert ist, was das Projekt Ruhrorter versucht. Das Gebäude, in dem sie filmen, proben, ausstellen und aufführen, ist nicht von vornherein für den Publikumskontakt ausgelegt. Geradezu unwirtlich erscheinen die Löcher in den Wänden, mit denen einst Handwerker die nicht tragenden Wände kennzeichneten. Genauso deplatziert wirken die neonfarben gesprühten Schriftzüge 'Bleibt!' an eben den tragenden Wänden. Doch ist die Wahl auf die Ruhrorterstraße 110 selbstredend ganz bewusst gefallen. Zum einen ist da der Zusammenhang mit dem nahe gelegenen Theater an der Ruhr, in diesem Falle gar der Nachbar im Hause, das sich neben der Projektförderung durch das Land NRW und die Stadt Mülheim für die Begleitung des Unterfangens verantwortlich zeigt. Die drei Köpfe der Projektleitung – Adem Köstereli (Regie), Jonas Tinius (Dokumentation) und Wanja van Suntum (Installation) – weisen allesamt eine Verbindung zum Theaterbetrieb vor Ort auf: durch Assistenzen, durch wiederholte Produktionen, durch wissenschaftliche Begleitarbeit.

Zum anderen aber, und hierauf liegt wohl das größere Gewicht, ist es die Geschichte des Gebäudes, die als Aufführungsort dem Theaterstück und der Installation unumgänglich eingeschrieben ist. "Hier hat Geschichte immer schon stattgefunden und ihre Zeichen in Form von Spuren, Relikten, Resten, Kerben, Narben, Wunden zurückgelassen."6Assmann, Aleida: Geschichte findet Stadt. In: Moritz Czáky und Christoph Leitgeb (Hrsg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem "Spatial Turn". Bielefeld 2009, S. 13-27, hier S. 16. Für den Namen der Rauminstallation hält deshalb der philologische Terminus des Palimpsests her, steht er doch für "Erscheinungen der kulturellen Überschreibung, der untergründigen Präsenz, der Vielschichtigkeit [...]."7Kany, Roland: Palimpsest. Konjunkturen einer Edelmetapher. In: Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und Dirk Werle (Hrsg.): Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 2009, S. 177-203, hier S. 177. Das ursprüngliche Ziel einer Palimpsestierung – nämlich das Löschen eines Codex, um Platz für eine neue Nutzung zu schaffen, nicht aber, um eine alte Schrift sichtbar zu machen – wird in der gängigen Verwendung des Begriffs oft außen vor gelassen.8Kany, Roland: Palimpsest. Konjunkturen einer Edelmetapher. In: Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und Dirk Werle (Hrsg.): Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 2009, S. 177-203, hier S. 179. "Die heutige Metapher 'Palimpsest' steht für die Kopräsenz des Ungleichzeitigen, für Kopräsenz überhaupt, für Rationalität und Relativität."9Kany, Roland: Palimpsest. Konjunkturen einer Edelmetapher. In: Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und Dirk Werle (Hrsg.): Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 2009, S. 177-203, hier S. 202.

Termine /// ZWEI HIMMEL 19.30 Uhr /// PALIMPSEST ab 21.00 Uhr //// 13. / 14. / 16. / 17. Mai

Die Installation stellt in diesem Sinne die mehrfache und dabei durchaus divergente Nutzung des Gebäudekomplexes heraus, welche je eine Bedeutungsaufladung nach sich zieht, und fügt ihr zusätzliche Spuren hinzu. Das diachrone und heterogene Nacheinander ist synchron ablesbar: An einer Tür sind über den abgekratzten Buchstaben zur Kenntlichmachung des Konferenzzimmers Herzen mit Namen eingeritzt – vermutlich jugendliche Liebesbekundungen oder Beleidigungen von den letzten Bewohnern Anfang der 2000er Jahre. Vom langgestreckten Flur der Etage gehen links und rechts Zimmer um Zimmer ab, fast alle sind gleich groß. Darin gibt jeder noch so anonyme Fußabdruck, jede noch so einsame Weihnachtsdekoration den Blick auf Geschichten frei, die im Anschauenden selbst entstehen und nicht besser hätten erzählt werden können. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen "hat damit gewissermaßen den Raum selbst erfasst, der nun nicht mehr im Singular, sondern nur noch im Plural zu denken ist."10Schroer, Markus: "Bringing space back in" – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie. In: Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hrsg.): Das Raumparadigma. Zur Standortbestimmung des Spatial turn. Bielefeld 2007, S. 125-148, hier S. 131. Unbewusst hat sich ein Archiv von Zeit angesammelt, auf das die Installation hinweist und zu dessen spielerischer Ertastung sie den Zuschauer einlädt.

Gleiches gilt für die Inszenierung des Theaterstücks. Sie begibt sich auf Spurensuche nach dem Zusammenhang von Flucht und Identität, widmet sich realen wie fiktiven Erinnerungen und deren Bedeutung für die Bestimmung eines Selbst. Die Erfahrung des Raumes, in dem solche Lebensbilder womöglich tatsächlich stattgefunden haben, kann als Ausgangspunkt für die Gestaltung der Aufführung ebenfalls nur schwerlich übergangen werden, schließlich "lassen sich Raum und wie immer gearteter Inhalt des Raumes nicht voneinander trennen. Raum und körperliche Objekte sind vielmehr untrennbar aufeinander bezogen."11Schroer, Markus: "Bringing space back in" – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie. In: Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hrsg.): Das Raumparadigma. Zur Standortbestimmung des Spatial turn. Bielefeld 2007, S. 125-148, hier S. 135. Die Schauspieler, die gleichzeitig Flüchtlinge sind, agieren nicht an einem neutralen Ort, sondern setzen das Vorgeführte, das bereits in besonderer Relation zu ihren eigenen Erfahrungen steht, auch noch in ein Wechselverhältnis zu ihrer unmittelbaren Umgebung. Die Zuschauer produzieren dann Erinnerungen an etwas, was sie im Prinzip nicht selbst erinnern, sondern lediglich imaginieren können, obschon sie konkret daran teilhaben. Ihre Körper stehen damit auf der Grenze zwischen gestern und heute, hier und dort und verschieben diese Trennlinie durch die Rezeption ständig.12Vgl.: Siegmund, Gerald: In die Geschichte eintreten. Performatives Erinnern bei Rimini Protokoll und Klaus Michael Grüber. In: Moritz Czáky und Christoph Leitgeb (Hrsg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem "Spatial Turn". Bielefeld 2009, S. 71-92, hier S. 83. Individuelles und kollektives Gedächtnis kreuzen sich, finden Berührungspunkte. So erhält "das kritische Potenzial ortsspezifischer Arbeiten [...] eine präzisere Bestimmung. Es sitzt nicht bereits objektiv in den Werken selbst, sondern öffnet sich erst in der 'verflochtenen Korrespondenz' (Derrida) zwischen Werk und Betrachter."13Rebentisch, Juliane: Ortsspezialisten – O’Doherty und Heidegger. In: Texte zur Kunst, Heft Nr. 47, September 2002 ‚Raum’, S. 140-141, hier S. 141.

Im "Zeitalter des Raumes"14Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2006, S. 317-329, hier S. 317. bildet die Ruhrorterstraße 110 so ein dreidimensionales Palimpsest, ist verräumlichte Geschichte,15Assmann, Aleida: Geschichte findet Stadt. In: Moritz Czáky und Christoph Leitgeb (Hrsg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem "Spatial Turn". Bielefeld 2009, S. 13-27, hier S. 18-20. öffnet sich Auslegungen, Möglichkeiten, Virtualitäten. Ganz im Sinne von Gérard Genette fordert der Hypertext – das Theaterstück, die Installation – den Zuschauer dann zu einer relationalen Lektüre zum Hypotext – zur Historie des Gebäudes und den Geschichten der Akteure, der ausgestellten Objekte – heraus: "Die Mehrheit der Ebenen wird zum Symbol einer nicht mehr hierarchisierbaren Vielheit, zum Emblem der Durchkreuzung jedes Absolutheitsanspruchs durch die Entdeckung, dass unter jeder Schrift eine weitere liege."16Kany, Roland: Palimpsest. Konjunkturen einer Edelmetapher. In: Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und Dirk Werle (Hrsg.): Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 2009, S. 177-203, hier S. 201.

Fotos: privat

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