Stellwerk Magazin

Rezension Mori no Kokyu - Das Atmen des Waldes

Vorwort

Das freie Regiekollektiv vorschlag: hammer ist seit der Spielzeit 2012/13 im Rahmen des Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes Artist in Residence am Düsseldorfer Schauspielhaus. Dort entstand unter anderem im April 2013 STALKER. Mit der Inszenierung MORI NO KOKYU - DAS ATMEN DES WALDES endet ihre Zeit in Düsseldorf.

“Es ist Zeit sich auszuliefern” und “Mit dem Fremden intim werden”: Diese beiden Statements tauchen in MORI NO KOKYU - DAS ATMEN DES WALDES immer wieder auf und ziehen sich auch gedanklich durch die Inszenierung des Japan-Projektes, das von dem jungen Regiekollektiv vorschlag: hammer realisiert wurde. STELLWERK hat bereits über das Trio und ihr Vorhaben berichtet und war am 24.5. bei der zweiten Aufführung in Düsseldorf dabei. Wie weit die drei Freunde Gesine Hohmann, Kristofer Gudmundsson und Stephan Stock tatsächlich dabei gehen würden, als sie von abgewandelten Japan-Bildern und Raumkonstellationen sprachen, konnte wohl keiner ahnen.

Die Gäste warten gespannt im Vorraum und freuen sich auf die bequemen Polsterstühle, die sie gleich im Saal erwarten werden. Doch weit gefehlt: Die Haupttüren bleiben zunächst verschlossen. Stattdessen werden sie durch eine seitliche Tür auf einen Korridor zu einem Wasserspender geführt. Der Wasserspender spricht zu ihnen, erzählt, dass er im Gegensatz zu uns Menschen aus 100 Prozent Wasser bestünde und bittet sie schließlich, sich einer anderen Tür zuzuwenden:

"Die Tür in eine neue Welt öffnet sich jetzt",

verkündet er und gluckert ein letztes Mal. Was sich dem Zuschauer dort eröffnet, ist ein ganz schmaler Raum, der Assoziationen an eine Karaokebar irgendwo in einer japanischen Großstadt erweckt, ob in Ōsaka oder Kyōto. Ausgestattet mit zwei Klappstuhlreihen bietet er gerade genug Platz für die etwa 50 Zuschauer, die sich unweit der singenden Schauspielerin Gesine Hohmann befinden. Diese empfängt den Zuschauer mit ihrem mittelmäßigen japanischen Gesang in knallbunten Leggins und altem Strickpullover. Auf einer japanischen Shoji-Wand hinter ihr findet derweil ein imponierendes Spiel mit Licht und Qualm statt: Regale, die bis unter die Decke reichen, japanische Schriftzeichen oder die Schatten der Schauspieler (Kristofer Gudmundsson, Stephan Stock, Martin Schnippa, Khosrou Mahmoudi oder Moritz Brunchen), die sich geordnet hintereinandergereiht in einem bedächtigen Schritt fortbewegen. Neben Gesang und einem unannehmbaren Blockflötenspiel werden ein paar vereinzelte Sätze an das Publikum gerichtet. "Wir haben sehr, sehr viel gesammelt [...]. Wir sammeln keine Ideen, sondern Gegenstände." Hier deutet Hohmann schon auf die anschließende collagenartige Verknüpfung unterschiedlichster Szenerien an, die tatsächlich wie zufällig herausgegriffen oder gefunden wirken und an Roland Barthes Das Reich der Zeichen, erinnern, das dem jungen Regiekollektiv als Grundlage diente.

"Ich kann auch ohne jeden Anspruch, eine Realität darzustellen oder zu analysieren (gerade dies tut der westliche Diskurs mit Vorliebe), irgendwo in der Welt (dort) eine gewisse Anzahl von Zügen (ein Wort mit graphischem und sprachlichem Bezug) aufnehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System bilden. Und dieses System werde ich Japan nennen." 1Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M. 1981, S. 13.

Die Schauspieler sind überladen mit solchen Gegenständen, langen Perücken, bunten Wollmasken, Goldleggins und Glöckchen und alles zusammen ergibt ein bewegliches und beliebiges System ganz im Sinne Barthes. "Der Raum vor mir gespickt mit Erwartung", wirft Schauspieler Stephan Stock schließlich ein und gibt zu verstehen, dass man gleich in die nächste Jahreszeit übergehe. In der Tat hat jeder Zuschauer eigene Vorstellungen, was er oder sie von einem Japan-Stück zu erwarten habe, doch in MORI NO KOKYU geht es offenbar nicht darum, bestimmte Erwartungen zu bedienen.

Dann öffnet sich ein Spalt in der Shoji-Wand. Nacheinander werden die Zuschauer zum Übertritt aufgefordert. Ein Schritt in die nächste Jahreszeit, in einen neuen Raum. Vorher wird ihnen von Schauspieler Stephan Stock nahegelegt, in dieser neuen Welt einfach leer zu werden, zu atmen, alle Gedanken und alles Unverständnis abzulegen. Was sich dort nun jedem Einzelnen darbietet, ist der wohl überwältigendste Moment der Inszenierung. Zwei der Schauspieler öffnen langsam die Schiebetür und der Zuschauer tritt hinein, eine Bewegung, die jedes Mal von dem gleichen, lauten Ton begleitet wird. Der Eintretende verschwindet sogleich aus dem Sichtfeld des restlichen Publikums und damit auch der hinter der Wand verborgende Raum. Die Spannung im Vorraum steigt, während jeder Zuschauer, der einsam den großen Saal betritt, einen Moment lang Zeit hat, die imposante Kulisse auf sich wirken zu lassen, sie mit allen Sinnen aufzunehmen. Der Boden lässt unter den Füßen nach, denn der gesamte Saal ist mit etwas ausgelegt, das aussieht wie Kohlebrocken, sich aber als Korkschutt herausstellt. Links wird ein leise plätschernder Teich wahrgenommen, der durch ein von der Decke herabhängendes Bambusrohr nach und nach Wassertropfen aufnimmt. Die Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Wir sind im Land der aufgehenden Sonne gelandet. Die alles dominierende, überragende Lichtquelle stellt eine Sonne am Ende des Raumes dar. Bestehend aus Neonröhren wirft sie ein grelles, zuweilen flackerndes Licht über die ganze Szenerie. Von jedem Eintretenden wird diese Atmosphäre zunächst aufgesogen, bevor leise ein Kissen zur Hand und mitten im Raum Platz genommen wird. Denn hier gibt es weder einen festgelegten Bühnenbereich noch fixierte Zuschauerplätze, jeder ist mittendrin, Beobachtender und Beobachteter zugleich. Schnell wird klar, dass das Nicht-Verstehen zum Stück gehört, vielleicht sogar notwendig ist, um diese Inszenierung erleben zu können. Mehr noch werden wir dabei Teil dieser Installation.

Zu Beginn hüpft einer der Schauspieler, ein kleiner Mann mit Kopfschmuck und Shorts, unentwegt zwischen den Zuschauern hin und her und lässt sich hier und da flach auf den Boden fallen. Ob und was er damit vermitteln will, bleibt unklar. Doch dies ist nur die erste von einer Reihe von Fragen. Warum tragen Männer Frauenkleider und warum werden Kostüme auf der Bühne getauscht? Warum macht die Figur im Kartoffelkostüm (oder ist es gar ein Maskottchen) aus seiner Gesichtshöhle heraus Fotos von einigen Zuschauern? Wer sind wir und wer die anderen, sind wir Betrachter oder Betrachtete? Warum wird so gut wie gar nicht gesprochen und warum essen auf einmal alle Wassereis? Hiervon hätte der ein oder andere übrigens sicher auch gerne eins bekommen. Irgendwann wird klar: es geht nicht um Gefallen oder Verstehen, sondern darum, sich dem Fremden auszuliefern, etwas, was uns schon im Vorraum von einer der Figuren nahegelegt wurde.

Kleingartensiedlungen

Nach diesen teilweise sehr langatmigen Szenen voller Stille und Bewegung ist der abschließende Monolog von Gesine Hohmann regelrecht erfrischend. Zuvor wird ihr von den anderen noch der Kimono abgeknöpft, der so ausladend ist, dass er sie beinahe wie einen Sumoringer (oder etwa doch ein Samurai?) aussehen lässt. Dann spricht sie von Kleingartensiedlungen. Gärten, die durch Zäune abgetrennt sind, obwohl sie sich doch alle irgendwie ähneln. Hier setzt die Befremdung kurz aus. Hier haben wir es wieder mit etwas Bekanntem zu tun, etwas, wobei die meisten amüsante Szenerien deutscher Spießigkeit im Kopf haben. Bekanntes, das dennoch befremdet. Sie spricht von Gartenzwergen, Mallorca-Souvenirs und Kuchen, bevor sie schließlich fragt: "Warum ist es nicht ein großer Garten?"

"Der Garten ist ein Teppich, auf dem die ganze Welt zu symbolischer Vollkommenheit gelangt, und zugleich ist er ein Garten, der sich durch den Raum bewegen kann." 2Michel Foucault: Heterotopien. Berlin 2005, S. 15.

Das Programmheft lässt erahnen, dass es an dieser Stelle nicht nur um Kleingärten im eigentlichen Sinne geht, denn hier wird unter anderem Foucault zitiert. Die arrangierten, aber dennoch beweglichen Handlungsblöcke der Aufführung, die gemeinsam einen bunten Teppich ergeben, findet man auch in dem Programmheft wieder. Wahllos aneinander gereihte Emails, Ideen, Symbole und Konzepte verraten weder etwas über die Figuren noch über einen potenziellen Handlungsstrang, eröffnen aber dennoch individuelle Sinnangebote. Wer sich auf einen konventionellen Theatergang mit erkennbarer Handlung und einer klaren Figurenkonstellation gefreut hat, wird hier sicher enttäuscht. All diejenigen, die mit etwas völlig Fremdem intim werden wollen, nicht vorhaben, alles zu verstehen und zulassen, verstanden Geglaubtes wieder loszulassen, sind hier genau richtig aufgehoben. Zeit, Raum, Kostüme und Licht schaffen eine radikal andere, zum Teil beeindruckende, zum Teil aber auch einfach nur überspannte und verstörende Atmosphäre, auf die man sich definitiv einlassen muss, um aus MORI NO KOKYU etwas mitzunehmen.

Foto: Sebastian Hoppe

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