Stellwerk Magazin

Interview mit Julia Riedler Beruf: Schauspielerin

Vorwort

Julia Riedler, geboren 1990 in Salzburg, studierte an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Während ihres Studiums spielte sie in Produktionen auf Kampnagel Hamburg, am Maxim Gorki Theater Berlin und als Mitglied von cobratheater.cobra u. a. am Thalia Theater Hamburg. In der vergangenen Spielzeit am Schauspiel Köln war sie in DER KAUFMANN VON VENEDIG von Stefan Bachmann und BRAIN AND BEAUTY von Angela Richter und ganz aktuell in DIE ROTEN SCHUHE / EINE LIEBE. ZWEI MENSCHEN von Fritz Kater, unter der Regie von Charlotte Sprenger zu sehen.

Wie bist du zum Beruf der Schauspielerin gekommen?

Ich wollte nie Schauspielerin werden. Ich wollte immer Detektivin oder Tierärztin werden, dazwischen konnte ich mich nicht entscheiden. Aber ich habe schon in der Grundschule angefangen, Theater und Musical zu spielen. Eigentlich bin ich super unbegabt im Singen, aber als Kind fand ich das großartig. Die anderen in der Klasse haben immer gesagt, ich solle nicht so laut singen, weil ich so falsch singe, aber das hat mich nicht gestört. Und dann war ich in Jugendclubs und habe mit Freunden Theater gemacht. Das war immer meine große Leidenschaft. Die Erkenntnis, dass ich das professionell machen kann, die kam erst kurz vor meinem Abitur. Bis dahin hatte ich nie gedacht, dass Schauspielerei für mich ein Beruf sein könnte. Und auch jetzt habe ich noch ein gespaltenes Verhältnis zur Professionalität in dem Beruf, weil ich die Leidenschaft und den Dilettantismus dabei viel wichtiger finde.

Zu dem Stück BRAIN AND BEAUTY, das sich thematisch um den heutigen Schönheitswahn dreht, schrieb ich für das STELLWERK bereits die Rezension. Angela Richter verarbeitete hierfür Interviews mit Chirurgen und Patienten auf der ganzen Welt und fügte alles zu einem Stück zusammen, das sich mit Idealvorstellungen, Attraktivität, Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinandersetzt. In einem Kölner Café habe ich nun Julia Riedler getroffen, um mit ihr über ihre eigenen Idealvorstellungen zu sprechen und über ihren Umgang mit gesellschaftlichen Schönheitsentwürfen. In dem Gespräch erhielt ich außerdem Einblicke in ihre Arbeit mit Angela Richter, den Probenprozess und den Beruf als Schauspielerin.

Wieso schauspielerst du trotzdem professionell?

Die Frage stelle ich mir selbst immer wieder. Und ich werde mich in der Frage auch zukünftig immer wieder selbst überprüfen. Sobald ich keine dilettantische Leidenschaft mehr für die Schauspielerei verspüre, muss ich aufhören. Aber jetzt genieße ich es, für etwas bezahlt zu werden, das mein größtes Hobby ist.

Beschäftigt das viele deiner Schauspielerkollegen oder sind das deine persönlichen Gedanken?

Ich höre das nicht sehr oft von Anderen. Das sind meine persönlichen Gedanken, die sicher auch darauf beruhen, dass ich dieses Stadt- und Staatstheatersystem ständig hinterfrage und darin ganz viele Schwierigkeiten sehe.

Welche Schwierigkeiten sind das?

Vor ein paar Tagen habe ich die neue Doku von Dominik Graf gesehen. „Es werde Stadt – Zum Zustand des Fernsehens“. Darin gibt es Gedanken, die nicht nur auf das deutsche Fernsehen zutreffen, sondern meiner Meinung nach auch bei uns am Schauspiel Köln gültig sind. Er sagt zum Beispiel, die Utopie des Fernsehens sei nur möglich, wenn Popularität und Avantgarde zur selben Zeit stattfinden können und nicht das Eine zur Primetime und das Andere als Abendprogramm, kurz vor Mitternacht. Das finde ich eine ganz wichtige Aussage. Wenn man Repertoire-Theater macht, ist es eine große Herausforderung, nicht Fabrikarbeit zu machen, sondern immer wieder neu die Avantgarde im Pop zu suchen.

Gibt es für dich Alternativen zum Stadt- und Staatstheater?

Ich möchte die Alternative im System suchen und nicht außerhalb des Systems. Ich fordere mir jeden Tag ab, innerhalb eines Projektes, auch wenn es ein Klassiker ist, den unklassischen Weg zu gehen. Mich interessieren Abgründe von Geschichten, Figuren, Prinzipien. Mich interessiert die Radikalität eines Schauspielers. Mich interessiert, wenn ich mich selbst beim Proben überrasche. Diese Sachen sind schwieriger zu erreichen in einem strukturierten Stadttheater als in der freien Szene. Ich bin dankbar für den Luxus dieses Systems, welches mich schließlich auch bezahlt. Die Herausforderung dabei ist es aber, nicht in der Bequemlichkeit zu versinken.

Wie kann man sich den Arbeitsalltag vorstellen, wenn man Teil des Ensembles eines großen Theaterhauses wie dem Schauspiel Köln ist?

Sehr unterschiedlich. Als Anfänger arbeitest du auf jeden Fall mehr als 40 Stunden in der Woche. Du musst alles spielen und kannst nicht sagen, dass du nur zwei Stücke pro Jahr spielen möchtest. Schauspieler, die schon länger im Beruf sind, können das. Ich probe gerade für mein fünftes Stück. Danach beginnen dann die Vorproben für das nächste Stück. Das heißt, ich war in dieser Spielzeit in sechs Produktionen involviert und drehe in Frankfurt als weibliche Hauptrolle gerade noch den ARD Spielfilm "Verdacht". Ich hatte viele Filmangebote in diesem Jahr, die ich alle absagen musste. Ganz interessante Sachen und mit dem Gehalt, was mir dadurch entgangen ist, hätte ich zwei oder drei Jahre lang kein Theater machen müssen. Aber das Theater hat für mich gerade erste Priorität. Für den Film, den ich jetzt dennoch spiele, hat der Hessische Rundfunk extra den Drehzeitraum verschoben, damit ich darin mitspielen kann.

Kannst du Dir vorstellen, irgendwann verstärkt im Film tätig zu sein?

Ich möchte auf jeden Fall beides machen, Film und Theater. Das sind komplett unterschiedliche Arbeitsweisen für einen Schauspieler und beide interessieren mich sehr. Ich habe gar keine fertige Idee davon, wie meine Arbeit aussehen soll. Ich sage auch oft, dass ich gerne mal als Dramaturgin arbeiten würde beim Schauspiel Köln. Das nimmt zwar niemand ernst, aber ich meine es schon ernst! Ich kann es mir gut vorstellen, andere Funktionen am Theater auszuüben. Ich habe zwei Filme mit dem österreichischen Regisseur Julian Pölsler gedreht. Er ist mit "Die Wand" recht bekannt geworden. Mit ihm schreibe ich gerade ein Drehbuch. Die Arbeit des Drehbuchschreibens ist wieder eine ganz eigene, neue Herausforderung. Ich bin sehr glücklich darüber, dass es so viele unterschiedliche Herausforderungen für mich gibt und würde nicht sagen, dass ich mich nur auf eine beschränken will oder kann.

Wie bist du zum Schauspiel Köln gekommen?

Ich habe an der Hochschule in Hamburg studiert und in meinem letzten Studienjahr wurde ich an das Ensemble des Schauspielhauses Hamburg verpflichtet. Da war ich ein Jahr. Danach war ich in der selten glücklichen Situation, mir aussuchen zu können, ob ich bei Karin Beier in Hamburg bleibe, nach Dresden oder nach Köln gehe. Ich habe mich mit dem Intendanten von Dresden in Berlin zum Frühstück getroffen und wir hatten ein tolles Gespräch. Er hat mich gefragt, ob ich jetzt fix zusagen könne, dass ich nach Dresden komme. In dem Moment habe ich eine SMS von Stefan Bachmann bekommen, dass ich doch bei ihm in Köln vorsprechen solle. Das war ein unglaublicher Zufall, aber von da an habe ich begonnen, mich sehr für das Schauspiel Köln zu interessieren. Beim Vorsprechen habe ich gemerkt, dass sehr interessante und unheimlich sympathische Menschen dort arbeiten. Und dazu kam mein Bauchgefühl. Also, ich war sofort verliebt!

Was hat dich denn ursprünglich dazu bewogen Österreich zu verlassen, um in Hamburg zu studieren? Hast du dich speziell für die Schauspielschule in Hamburg interessiert oder warst du gezwungen, so weit weg zu studieren?

Es gibt etwa fünfzehn staatliche Schauspielschulen in Deutschland, und Hamburg ist sicher eine der besten. Für mich ist sie vielleicht sogar die beste Schauspielschule, weil sie sehr praktisch orientiert ist und man viel mit Regiestudenten arbeitet. Das wusste ich aber alles zunächst nicht und habe einfach begonnen, mich zu bewerben. Ich war in Wien, da hat es nicht geklappt, dann war die nächste Station einfach Hamburg. Ich weiß noch, wie ich auf dem Weg nach Hamburg mit meiner Mutter telefoniert habe und sagte: "Ja, nächstes Wochenende ist Hannover dran, da würde ich glaube ich lieber hin, Hannover ist eine tollere Stadt." Ich hatte einfach keine Ahnung! Das ich am Ende in der geilen Stadt Hamburg studieren konnte, das war keine Entscheidung, das war Glück. Aber anscheinend war ich erst die zweite Österreicherin, die an der Hochschule in Hamburg Schauspiel studiert hat. Hamburg ist schon weit weg von Österreich und etwas ganz anderes. Das war als Schauspielstudentin sehr schwierig für mich, allein schon wegen der Sprache. Aber auch Humor und Mentalität unterscheiden sich sehr. Wenn man Schauspiel lernt, wird kategorisiert und gewertet, wie man sich auf der Bühne verhält, ob man die Figur realistisch spielt. Und da hat meine österreichische Art die deutschen Professoren oft verwirrt.

Was sind denn Attribute, die man mitbringen muss, wenn man Schauspieler sein will?

Ich glaube nicht, dass man technische Fähigkeiten mitbringen muss. Wenn man schauspielern will, dann kann man das machen. Ich glaube, man braucht die Lust zur Hingabe. Hingabe zu sich selbst, zu Neuem, zu der Extremsituation "Bühne-Zuschauer". Charakterliche Festlegungen gibt es meiner Ansicht nach überhaupt nicht.

Sind das reine Klischees, dass Schauspieler besonders häufig gewisse Charaktermerkmale aufweisen und beispielsweise außergewöhnlich extrovertiert sind?

Ich würde es gerne als Klischee sehen. Meine Erfahrung ist eher die, dass die Schauspieler, die ich am besten finde, völlig individuell sind. Sie sind so gut, weil sie persönlich sind und mich mit ihrer Persönlichkeit überraschen. Und nicht weil sie lauter schreien, schneller reden können oder offener sind.

Wie gehst du damit um, wenn du mit deiner schauspielerischen Leistung nicht zufrieden bist, weil du vielleicht in schlechter Tagesform bist?

Das ist hart. In gewisser Weise zwinge ich mir eine gute Tagesform ab. Zum Beispiel fand bereits einen Tag nach der Premiere von BRAIN AND BEAUTY gleich die zweite Vorstellung statt. Ich hatte einen Kater, war müde, hatte kaum geschlafen, hab noch an die Premiere gedacht und daran, was ich versaut habe und jetzt besser machen muss. Und dann dachte ich mir, es bringt alles nichts. Ich habe das unheimliche Glück, hier noch einmal stehen zu dürfen. Das sehe ich wirklich so. Auf einer Bühne stehen zu dürfen, das empfinde ich als Privileg. Da zwinge ich mir einfach ab, nicht bequem zu sein.

Wenn der Regisseur eine andere Vorstellung von der Figur hat, die du spielen sollst, wie gehst du damit um?

Ich hasse es, wenn ich mich dafür rechtfertigen muss, dass ich anders denke. Ich finde es immer interessanter, wenn es jemanden gibt, der eine andere Idee von Theater oder einer bestimmten Figur hat, als wenn jemand eins zu eins etwas repräsentiert. Das wird aber sehr oft gefordert. Ich finde es wichtig, dass Andersartigkeit zugelassen wird. Ich kann anders als die Regie denken und trotzdem auf das hören, was die Regie sagt. Dann muss ich es so übersetzen, dass es etwas mit mir zu tun hat.

Wie gehst du mit der Kritik von Presse und Publikum um?

Ich nehme das total auf. Mein Theaterverständnis funktioniert über die Zuschauer. Der Live-Moment von Theater ist das, was mich fasziniert. Und der definiert sich darüber, dass Leute im Publikum sitzen, die aus ihrer Anwesenheit heraus eine Situation herstellen, in der sie jemandem zuschauen. Dadurch ist mein Theaterverständnis auch vollkommen abhängig vom Zuschauer. Ich bin sehr traurig, wenn Leute mein Spielen als total belanglos empfinden und im Nachhinein sagen, das hätte nichts mit ihnen zu tun und es berühre sie nicht.

Wie ist das denn bei deinen Schauspielkollegen? Gibt es auch diejenigen, die weniger Wert darauf legen, wie das Publikum reagiert?

Ja, das kommt tatsächlich häufig vor. Viele Schauspieler beschreiben das Publikum als "schwarzes Nichts", aber ich sehe immer, wer da sitzt. Ich fange nicht an zu sprechen, bevor ich nicht sehe, wer vor mir sitzt. Wenn eine Person wegschaut oder ich im Blick eines Zuschauers erkennen kann, dass er mit meinem Spiel nichts anfangen kann, dann bringt mich das komplett raus. Meine größte Angst ist es nicht, dass Leute genervt sind von dem, was ich auf der Bühne mache, sondern dass sie es als völlig belanglos empfinden. Ich nerve lieber, als dass ich das Publikum gar nicht anspreche.

Welche Figuren verkörperst du in dem Stück BRAIN AND BEAUTY? Als Zuschauer ist man sich stellenweise nicht ganz sicher, wie viele unterschiedliche Figuren es sind.

Ich habe einen Monolog von einer Amerikanerin gesprochen, die sich zu dick findet. Ein anderes Mal spreche ich den Text von einer anderen Frau, in dem ich mich über Falten beklage. Und bei der Familienaufstellung spiele ich noch einen Hund und einen kleinen dicken Bruder. Das fällt vielleicht am ehesten aus dem Konzept. Aber was die anderen Texte angeht, finde ich es schockierend, dass, obwohl diese Texte alle von unterschiedlichen Personen sind, ich nicht das Gefühl habe, dass ich verschiedene Figuren spiele. Ich habe das Gefühl, dass ich als Schauspielerin auf der Bühne Prinzipien verhandele, die, auch wenn sie in der Realität von unterschiedlichen Menschen geschildert werden, ich trotz allem in mir, in anderen Menschen, in einer einzigen Figur erkennen würde. An einem solchen Abend ist es nicht mein Anliegen, verschiedene Menschen abzubilden, sondern diese Prinzipien, die verschiedene Menschen haben, daraufhin zu überprüfen, ob sie uns alle ansprechen und ob sie mich ansprechen.

Bei einer der Vorstellungen gab es im Anschluss ein Publikumsgespräch. Wie hast du das Gespräch mit den Zuschauern empfunden, ist es euch gelungen, mit euren Figuren die Zuschauer anzusprechen?

Eine Frau hat gesagt, dass sie sich mehr Selbstreflexion wünsche. Was es bedeutet, als Schauspielerin alt zu werden. Ich würde auch sagen, man hätte mit dem Projekt noch mehr Persönliches zulassen können. Aber das ist natürlich sehr heikel. Wir waren ohnehin ständig an der Grenze zu „Wie viel trauen wir uns zu?“ – Lena1Magda Lena Schlott ist eine der Schauspielerinnen, die in BRAIN AND BEAUTY eine Chirurgie-Patientin spielt. zum Beispiel schminkt sich für gewöhnlich nicht und ich bewundere sie, weil sie äußerst wenig Wert auf Äußerlichkeiten legt. Aber selbst sie hat beschrieben, dass sie sich immer wieder bei den Proben dabei ertappt hat, wie sie vor dem Spiegel stand und sich überlegt hat, wie es wäre, wenn sie hier oder dort was machen ließe. Sie hat sich dann bewusst gegen diese Gedanken entschieden.

Das klingt, als hättet ihr euch persönlich sehr mit den Figuren, die ihr auf der Bühne verkörpert, identifiziert. Als Darsteller hattet ihr allerdings wenig mit den Personen gemein, die ihr gespielt habt. Habt ihr euch bewusst dazu entschieden?

Ja, das war Absicht. Aber es ist erstaunlich, wer der typische Stammkunde von Schönheitschirurgen ist. Das sind junge, schöne Menschen. Diese Diskrepanz ist genau das, was mich an dem Thema interessiert. Die Selbstoptimierung entspringt keinem objektiv festzustellendem Mangel, der für alle klar ist. Sondern es hat immer etwas mit einer verfälschten Selbstwahrnehmung zu tun. Die trifft alle, manche gehen damit cooler um, ich nicht. Deswegen würde ich schon sagen, dass es viel mit mir zu tun hat, wenn ich sage, dass die Falten weg müssen. Nicht weil ich wirklich besorgt wäre um die Falten, die ich habe. Aber weil ich von mir auf jeden Fall auch sagen kann, dass ich ein Teil dieser Optimierungsgesellschaft bin. Und ich kenne wenige Leute, die das nicht sind.

Woher kommt diese verdrehte Selbstwahrnehmung deiner Meinung nach?

Wir stecken so tief in einem Entwurf von Gesellschaft drin, der definiert ist über Konsum, Medien, Kapitalismus, dass wir immanent mit dem System verbunden sind. In diesem System denken und handeln wir. Es geht hier nicht um extreme Ausnahmefälle, wo man sich fragen muss, wie es zu dieser Ausnahme kommen konnte. Es ist vielmehr der Normalzustand, dass man sich ständig mit der Gesellschaft abgleicht. Und da kann man eigentlich nur verlieren.

Du nimmst dich also aus diesem Optimierungswahn nicht raus. Inwiefern ist dir das im Alltag bewusst?

Ich glaube, es ist mittlerweile keine Entscheidung mehr. Ich habe mich nie bewusst dafür entschieden, mich zu schminken oder auf mein Gewicht zu achten, ich mache es einfach. Aber wenn ich darüber reflektiere, finde ich es schrecklich.

Gibt es für dich eine Grenze, etwas, was du nicht tun würdest, um vermeintlich schöner zu sein?

Ich glaube, sobald ich heute eine Grenze definieren würde, würde sie sich morgen schon wieder verschieben. So etwas kann ich nicht allgemeingültig für mich festlegen, das wäre mir zu moralisch. Außerdem habe ich mir selbst mit 13 Jahren die Ohren anlegen lassen. Das hat damals mein Vater entschieden, weil ich so extreme Segelohren hatte. Ein Jahr später hab ich sämtliche Zahnspangen bekommen. Jetzt habe ich künstliche Kontaktlinsen, weil ich 7,5 Dioptrien hatte. Das sind zum Teil schönheitsplastische Eingriffe. Teilweise gelten sie, wie etwa die Zahnspange, als gesellschaftlich funktional. Aber auch das ist ein Eingriff, der zur Schönheitsoptimierung dienen soll.

In dem Stück wirft Yuri Englert die Frage in den Raum: „Schönheit kommt von innen, aber wie kommt sie da rein?“ Beeinflusst unsere äußere Schönheit tatsächlich so sehr unsere innere Schönheit?

Nein, natürlich nicht. Aber ich glaube, dass man sich besser fühlt, wenn man glücklich ist. Ich glaube nur nicht, dass man da unterscheiden kann zwischen innerlich glücklich und äußerlich glücklich. Wenn ich ein gutes Gefühl mit meinem Auftreten und mit meinem Körper habe, dann beeinflusst das natürlich meine Selbstwahrnehmung und meine Gefühle mir selbst gegenüber, aber das heißt nicht, dass ich besser aussehen muss. Ich habe einen Entwurf von mir, wie ich aussehen soll – und wenn ich irgendwann so aussehe, bin ich glücklich. Aber woher kommt der Entwurf? Den mache ich mir nicht selbst, den gibt mir mein Umfeld vor.

Dennoch ist es ja für viele der zumindest vorgeschobene Grund, dass sie bestimmte Eingriffe vornehmen, weil sie sich davon versprechen, glücklicher zu werden. Weil sie mit irgendeiner ihrer körpereigenen Voraussetzungen vermeintlich unglücklich sind. Fühlen sich diese Menschen nur unglücklich, weil sie sich einem gesellschaftlichen Entwurf unterwerfen?

Ja, aber ich bin nicht losgelöst von diesem Gesellschaftsentwurf. Und das bringt einen eben so weit, sich zu verändern. Bei dem Publikumsgespräch gestern hat eine Frau beschrieben, dass sie sich auch mit 13 Jahren die Ohren hat anlegen lassen. Weil sie ihre ganze Kindheit so darunter gelitten hätte. Über die Ferien hatte sie diese Operation und als sie wieder zurück in die Schule kam, hat es niemand gemerkt. Der Vergleich mit der Gesellschaft ist sehr subjektiv. Es ist die eigene Perspektive, die bestimmt, wie sehr man überhaupt die Differenz zwischen dem, wie du bist und wie du optimalerweise sein solltest, wahrnimmt.

Im Stück verkörpern ausschließlich Männer die Schönheitschirurgen und Frauen die Patientinnen. War das mit einer bestimmten Absicht verbunden?

Das war Absicht der Regisseurin, ja. Mich hat das auch enttäuscht. Aber sie ist der Ansicht, dass Theater nicht political correct sein darf und schonungslos Klischees bedienen muss. Auf diese Art und Weise hat es ja auch funktioniert.

Wie war denn generell die Arbeit mit Angela Richter?

Was ich an der Arbeit mit Angela Richter schätze, ist, dass man sich als Schauspieler persönlich einbringen kann. Es gibt keine fertige Narration mit fertigen Figuren wie im klassischen Theater. Die Texte entstehen im Prozess, werden durch ihre Interviews und durch die Arbeit mit uns erst entwickelt, und da hat man einen sehr großen Spielraum. Und den schätze ich nicht nur sehr, den brauche ich auch. Den fordere ich mir am Theater immer ein. Angela Richter ist es auch wichtig, dass die Vorstellungen nicht immer gleich gespielt werden. Das fand ich sehr gut, dass sie das eingefordert hat, weil ich mich schnell langweile im Theater. Beim Zuschauen sowieso und auch beim Spielen finde ich es schrecklich, wenn ich immer wieder dasselbe machen muss. BRAIN AND BEAUTY hat mir Mut und Radikalität abgefordert. Dafür bin ich dankbar.

Die Vorstellungen unterschieden sich auch in euren Texten. Ist das üblich, dass die Schauspieler in ihren Texten variieren oder liegt das originär an dem Stück und der Regisseurin?

Das liegt auf jeden Fall an dem Stück und der Regisseurin. In einem Schiller-Stück kann ich die Texte nicht verändern. Weil ich selbst als Julia keine besseren Worte finde als Schiller. Was ich auf der Bühne mache, ist trotzdem immer anders, auch bei Schiller, Goethe und Kleist. Das versuche ich zumindest. Aber ich spreche keine anderen Texte. Das ist bei den Arbeiten von Angela Richter extrem. Bei der Vorstellung gestern zum Beispiel ist in der ersten Reihe ein Mann eingeschlafen und dann habe ich ihn einfach mal gefragt: "Finden Sie mich dick, sie sind gerade eingeschlafen?!“ Und das klang so, als sei es der Text dieser Figur. Dass so etwas möglich ist, finde ich sehr gut.

Schauspielerisch ist das sicherlich eine besondere Herausforderung, oder?

Es ist natürlich viel schwieriger, live zu sein und die Möglichkeit zu erkennen und zu nutzen, auf das Hier und Jetzt zu reagieren. Für mich ist es aber das Spannendste am Theater. Ich finde, dass genau darin das große Potenzial des Abends besteht. Was den Text, den Umgang mit dem Raum, den Zuschauern und das Bühnenbild angeht, haben wir es auch bei BRAIN AND BEAUTY nicht genügend radikalisiert, nicht alle Möglichkeiten ganz ausgeschöpft.

Foto: Kerstin Schomburg

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