Stellwerk Magazin

Theatralfilm-Festival Part II Zeit

Vorwort

Das Theatralfilm-Festival vom 7. bis 9. November 2014 in der studiobühneköln ist dem Film gewidmet, der nicht bloß dramatische Texte verfilmt oder Theateraufführungen abfilmt, sondern strukturelle Elemente des Theaters aufgreift und in den Film transferiert. Diskussionen, Kurzfilme und ein Langfilm widmeten sich am zweiten Festivalabend dem strukturellen Element Zeit. Credits: Russian Ark, Egoli Tossel Film GmbH

1983 ließ David Copperfield vor den Augen eines Live-Publikums und Millionen von Fernsehzuschauern in aufreibenden Show-Sequenzen die Freiheitsstatue auf Liberty Island verschwinden, nur der Lichterkranz vom Haupt der Statue leuchtete nach dem Illusionisten-Akt noch in den New Yorker Hafen. Nicht ohne diese Inspiration bleibt die neueste Arbeit des Künstlerduos Hofmann&Lindholm, in der sie die Miss Liberty von Bochum – das Opelwerk I – dank der Vorstellungskraft von Bochumer Bürgerinnen und Bürgern in Nichts auflösen.

Hofmann&Lindholm | "Ein Werk verschwindet"

Die filmische Dokumentation mit dem Titel "Ein Werk verschwindet" schafft mit den Mitteln des Theaters und des Filmes eine Fiktion, deren eigene Illusion durchlässig für die Realität ist – und bildet damit zwei Realitäten gleichzeitig ab. Zum einen greifen Hofmann&Lindholm in die Zukunft vor, indem sie das Opelwerk verschwinden lassen, bevor es im Dezember dieses Jahres tatsächlich verschwindet; die Schließung des vor mehr als 50 Jahren erbauten Automobilwerks mit in Hochzeiten bis zu 20.000 Mitarbeitern ist unumstößlich. Und doch verweisen sie auch auf die gegenwärtige Realität. Denn in Bochum, so haben es Hannah Hofmann und Sven Lindholm erlebt, schwört man sich schon auf die Zeit nach dem Opelwerk ein; in den Köpfen gehören die Fertigungshallen gewissermaßen längst der Vergangenheit an.

v.l.n.r.: Hans-Christoph Zimmermann, Hannah Hofmann, Sven Lindholm | Foto: Horst Baumann

Unheimlicher Dokumentarismus

Der Film führt das Verschwinden des Werks als performativen Akt vor: Analog zu Copperfields Show-Format sieht sich das Publikum einer Moderatorin gegenüber, die im Cocktailkleid durch den Abend führt, ihr Kompagnon ist für die Außenreportagen im Werk zuständig – beide Akteure gehören dem Ensemble des Schauspiel Bochum an; so viel zum Theater. Die Zuschauer aber sind 'echt', sie sind Opelaner und interessierte Bochumer, die einem Zeitungsaufruf gefolgt sind und aus eigenem Antrieb zu Komplizen werden. Die gelegentlichen Fragen der Moderatorin beantworten sie ganz und gar nach ihren eigenen Vorstellungen, kein Skript schreibt ihnen die Reaktion vor, und doch spielen sie genau ins Konzept der Regisseure. Je stärker Hofmann&Lindholm hier die Dosis des Dokumentarismus einsetzen, desto unheimlicher, ja unrealistischer scheint der Film zu werden.

Imagination des Verschwindens

Wenn Imagination im Theater üblicherweise eine Additionsleistung erfordert, der Zuschauer sich also zu einem Schauspieler mit einem Lenkrad in der Hand noch ein Auto und eine Straße und den lärmenden Verkehr dazu denken muss, so fordern Hofmann&Lindholm ihr Publikum immer wieder zur Subtraktion auf, stellt Journalist Hans-Christoph Zimmermann im Gespräch mit den Künstlern heraus: Das Werk verschwindet nur durch die (negative) Imagination des Kollektivs. Dann rückt auch die spezifische Zeitlichkeit in den Fokus, um die es an diesem zweiten Tag des Theatralfilm-Festivals noch in weiteren Kurzfilmen und einem Langfilm geht.

Filmische Zeitlichkeit: "Russian Ark" (2002)

Die filmische Nutzung einer theatralen Zeitstruktur fällt ganz augenscheinlich bei Plansequenzen ins Gewicht, die einen Handlungsverlauf verfolgen, ohne dass dieser durch Schnitte bearbeitet ist bzw. es sichtbare Schnitte gäbe. Exemplarisch steht dafür an diesem Abend Alexander Sokurows Spielfilm "Russian Ark" (2002). 96 Minuten lang durchstreifen darin ein unsichtbarer Erzähler, der gleichzeitig den Blick der Kamera führt, und der Marquis de Custine, ein Russlandreisender aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Eremitage in St. Petersburg und in ihr drei Jahrhunderte russischer Geschichte. 2.000 Statisten und drei Live-Orchester haben monatelang nur auf einen Auftritt hin geprobt: Sokurow ließ den Gang durch das Kunstmuseum in Echtzeit abfilmen. Was man auf der Leinwand sieht, ist die real verstreichende Zeit der Filmaufnahme. Drei Anläufe innerhalb von zwei zur Verfügung stehenden Stunden hat es gebraucht, die Zeitreise auf die für Sokurows Belange umgerüstete Steadycam zu bannen.

Are you ready for the magic?

"Ist das hier vielleicht alles Theater?", lautet die anfängliche Frage des auf geradezu magische Weise in das Museum eingespeisten körperlosen Erzählers. Und diese Vermutung liegt nicht fern. Sind es im Theater die simultan erlebten Momente der Zeit und des Raumes, welche die Akteure auf der Bühne mit den Zuschauern im Publikum verbindet, so bleibt auch bei "Russian Ark" die Zeitkomponente eine genuin theatrale. Die Handlungszeit des Films läuft innerhalb seiner Vorführungszeit ab; es gibt nichts, was der Erzähler und sein Begleiter erleben, was dem Zuschauer durch Schnitte vorenthalten würde. Wäre da nicht der durch die Kamera gelenkte und somit eingeschränkte Blick, der dem autonomen Sehen eines Theaterbesuchers entgegensteht, könnte man meinen, dass David Copperfield dieses Mal seine Imagination dazu bemüht hat, das Publikum in die Eremitage zu transferieren und sie einem Reigen aus russischen historischen Persönlichkeiten, Gemälden, Skulpturen und ihren Betrachtern begegnen zu lassen. Are you ready for the magic?

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