Stellwerk Magazin

Rezensionsessay "Der Prozess" auf der Bühne

Vorwort

Der Prozess Nach dem Roman von Franz Kafka

“Jemand musste Josef K. verleumdet haben …” Ein ganz normaler Morgen. Der Prokurist Josef K. wacht auf und erlebt eine Überraschung: Unbekannte Männer verhaften ihn. Ein Scherz von Arbeitskollegen? Ein Alptraum?

Er erfährt nicht, weswegen er angeklagt ist. Er bleibt, obwohl er verurteilt wird, auf freiem Fuß. Aber “das System” verfolgt Josef K., es hat ihn fest im Griff und gibt keine Ruhe, bis er erstochen in einem Steinbruch liegt.

Mit finster-groteskem Humor schleudert Franz Kafka seinen Protagonisten in dem 1914/15 entstandenen Romanfragment “Der Prozess” mitten hinein in eine irreal-groteske Welt ohne Rechtsgewissheit und Rechtsstaatlichkeit, einerseits undurchschaubares Labyrinth, andererseits absurde Farce.

Inszenierung Christian von Treskow Bühne und Kostüme Sandra Linde, Dorien Thomsen Musik Bastian Wegner Dramaturgie Inge Zeppenfeld

Letzte Vorstellung: 22. Februar 2015

Das Gericht wird "von der Schuld angezogen"1Franz Kafka: Der Prozess, Köln: Anaconda 2012, S. 10.. Es nähert sich schleichend, umkreist, wen es anklagt, mit tickenden Rädern seines stets mahlenden Apparats; es kriecht durch die Venen, es saugt an Gedanken, es ist die Maschine eines Gesetzes, das nur Form und keinerlei Inhalt kennt. Und das Gesetz, das "will nichts von dir. Es nimmt dich [lediglich] auf, wenn du kommst".2Franz Kafka: Der Prozess, Köln: Anaconda 2012, S.203. Und "es entlässt dich, wenn du gehst." 3Franz Kafka: Der Prozess, Köln: Anaconda 2012, S.203.

Das subtile Befremden, das einen während der Lektüre dieses kalten, nie greifbaren Triebwerks befällt, steigert sich bis hin zu einem namenlosen Grauen, wenn wir dem Protagonisten folgen, den Kafka nach seinem Prozess jagen lässt: den Bankprokuristen Josef K.. Ohne sich einer Schuld bewusst zu sein, wird dieser eines Morgens verhaftet. Jemand musste ihn verleumdet haben; wer war es wohl? Wir erfahren es nicht. Wessen hat man ihn angeklagt? Es bleibt vor ihm selber im Dunkeln. Und doch: Die Verhaftung, der Prozess, das Räderwerk jener diffus-nebulösen, verschlungenen Realität des Gerichts sind ihm real. Sie triefen hinein in sein Handeln und Denken und werden sein Gift, das ihn schließlich zersetzt. Beweggründe werden bedeutungslos; sie gehen auf in der Absurdität und der Absolutheit blanken Systems. Was bleibt, ist ihm Alles – was bleibt, ist sein Nichts. Skurrile Groteske und verstörende Farce. Das Bermudadreieck der Literatur: Nüchtern vermessbar, hermeneutisch durchdringbar, und doch bleibt immer eine Lücke, ein Unsagbares, ein Fremdes und Fremdbleibendes. Eine dunkle Attraktion, die sich jedweder Deutung von sich aus verschließt und sich doch mit jedem einzelnen Wort dem Leser auf seine Netzhaut brennt. Ein Roman und Prozess wie dieser, der weder Anfang noch Ende und in sich nur exzessive Wucherung kennt, musste sich der Vollendung vielleicht widersetzen; als Fragment bleibt er eines der längst nicht gelösten Rätsel, die Kafka der Nachwelt unfreiwillig als ihr Faszinosum hinterlässt.

Wie bringt man Kafka auf die Bühne?

Wie inszeniert man diesen 'Prozess', der in seiner Struktur selbst noch Prozess ist und seine verstörende Wirksamkeit aus der Wucht der niedergeschriebenen Worte bezieht? Wie transferiert man dies ins Theater, was sich uns sonst nur im lesenden Sog enthüllt und vielleicht zunächst gar nicht artikulierbar erscheint? Kafka lässt sich nicht bezwingen. Doch ist dieser Ansatz vielleicht völlig falsch: Denn es gilt vielmehr, ihm gerecht zu werden. Das Kafkaeske bewusster zu machen. Das Stadttheater Aachen hat dies erkannt und lässt die unbändige Gewalt im surrenden Rattern von Kafkas Gericht mit dröhnenden Klängen und drastischen Bildern zur albtraumhaften Wirklichkeit werden. Ein expressionistisches Spektakel der Superlative, grandios inszeniert, verstörend visualisiert, akribisch durchdacht. Schwarz und noch schwärzer glänzendes Theater zwischen Humoreske, Grauen und Absurdität, so präsentiert sich das Stück 'Der Prozess'. Es bleibt ein Seiltanz auf seidenem Faden, paradox gesponnen im Spannungsspiel von narrativer Treue und dramatischer Kreativität.

Doch bleibt er in seiner Geschmeidigkeit stählern und trägt das hehre Gewicht jenes Anspruchs, den Kafka stets an die Rezeption stellt. Dass Kafka als Literat gelten darf und nicht schnöder Medientransfer betrieben, sondern mit theatralem Handwerkszeug ein weiterer künstlerischer Zugang zum Original eröffnet wird, beweist diese Hommage an den Autor und das Verdienst des Theaters.

Der Prozess als Prozess

Und selbst noch aus deren letzten Bühnenwinkeln kriecht voller Gier die Angst hervor. Denn bereits in der Gestaltung des Szenenbildes und im gezielten Einsatz der Requisiten offenbart sich die größte Stärke des Stücks: nämlich das, was Kafka in aller Subtilität in sein Romanfragment, gleichsam als dessen vibrierenden Unter- und Überton, hineinzulegen weiß, im wirkungsvollen Spiel mit räumlichen, optischen und akustischen Gegebenheiten sichtbar zu machen. Ein Sichtbarmachen, bis sich die machtvolle Nüchternheit der Narration, die das stete Unbehagen bei Kafka maßgeblich mitkreiert, gänzlich in eine synästhetische Ekstase auflöst, um doch zugleich als wuchtige, karikierende Persiflage, den Strom der Absurdität des Fragments in voller Intensität zugänglich zu machen. Es ist eine karge, heruntergekommene, gar nackte Lagerhalle, in die sich die Bühne verwandelt hat. Und sie mutiert, ohne diesen unheimlichen, feuchten und kargen Anblick, den sie bietet zu verraten, in eine Wohnung und in eine Anwaltskanzlei, in Bankbüros, Gerichtssaal oder Atelier, letztlich in den Dom und bleibt doch immer Halle. Versehen nur mit den allernötigsten Requisiten, nach denen die Handlung augenblicklich verlangt, verweist sie demonstrativ auf diese und bezieht seine thematische Konzentration unmittelbar aus ihnen und der Präsenz der Akteure des Stücks. Dabei bleibt sie immer offen, so wie das Fragment, so wie das Stück: der Prozess als Prozess, als dynamisches Wuchern. Räumliche Ebenen werden permanent systematisch zerbrochen, und ihre Bruchstücke mutieren zu symbolisch und statisch geladenen Elementen einer mosaikartigen Metaphorik, die sich der brutalen inneren Logik der Narration ganz zu entziehen weiß: Wenn etwa Schnee, den Josef K. eigentlich in seiner unentschlossenen Melancholie vor seinem Fenster fallen sieht, sich nun in seinem Büro als Spiegel seines gelähmten Gedankenlabyrinths auf Haupt und Schreibtisch legt oder wenn der Richter in der einzigen Anhörung so, wie er sich in seiner systemimmanenten Kausalfunktion K.s rechtsstaatlich ausgerichteter Erwartungshaltung verweigert und für den Angeklagten nicht greifbar zu machen ist, genüsslich schaukelnd und unerreichbar hoch über ihm zu thronen weiß. Und auch, wenn die beiden Parteien des Prozesspublikums, die K. als gleichgeschaltete, mechanistische Einheiten entlarvt, als singuläre, skurril verbogene Personen in zwei Kästen inszeniert werden: Es ist ein beängstigend irritierendes Spiel, in dem die Inszenierung das Kafkaeske in einer neuen Bedeutungsebene des Visuellen als Klimaktisches der Handlung plastisch werden lässt – und wohl nichts überlässt sich in dieser kreativen Dekonstruktion der Räumlichkeit bloßen Zufalls.

Une danse macabre

Gerade im Zwischenspiel dieser Akteure wird das Stück zu einer wuchtvoll karikierenden Persiflage. Dabei gelingt es beispiellos, eben durch eine über weite Strecken artifiziell anmutende Spielweise jener Unwirklichkeit, die Josef K.s Perspektive auf den Prozess bestimmt, eine hochgradige Authentizität und packende Distanzlosigkeit zu geben. Jede Figur wird zur personifizierten Ausweidung ihrer eigenen Rolle als Zahnrad im Getriebe des Gerichts erhoben. Und indem dies geschieht, indem Überzogenheit und Plakativität zu strategischen Herrschern des Bühnenspiels werden, gelangen die befremdendsten und gleichwohl faszinierendsten Züge, die Kafkas Zeichnung von Gesetz, Gericht, Prozess und Struktur selbst ausmachen, zu ihrem unangefochtenen Recht. Das Stück wird letztlich zur beinahe orgastischen Explosion einer Maschinerie, die sich des Instinkts, des Triebhaften in seiner Urform bemächtigt. Den Menschen ganz seiner selbst entfremdend, ihn in ihren Strukturen auf- und untergehend. Ein magnetischer Strudel, weder Ziel noch Verstand. Doch zugleich ist es auch durchdachter und blinder Wille, der weder Halten noch Gnade kennt. Die Travestie, die in alle Figuren gelegt wird, ist kaum weniger als die Travestie des Systems, die Werk und Stück inmitten der chaotischen Spirale von Macht, Unterwerfung, Lust und Gier, Devotion und Sadomasochismus eine parasitäre Richtung verleiht. Das passionierte Spiel der Darsteller selbst weiß diese Mechanismen weitestgehend überzeugend auf der Bühne heraufzubeschwören und dem hohen Anspruch all jener Extreme, dem sie in der Inszenierung unterliegen, gerecht zu werden. Ihm ist zu verdanken, dass im Stück lebendig werden kann, worin Kafkas schwarze Realität ihren ersten und letzten und steten Ausdruck findet – ein zirkulärer Danse macabre vor der Kulisse einer zum Albtraum verdichteten (und dadurch erst wahrhaft wirklichen) Welt.

Von noch eindringlicherer Macht als der Reichtum des Visuellen bleibt jedoch die atem- und gehörraubende Akustik, in der die Störung lauthals dröhnend thematisiert wird. Aus kreischenden Dissonanzen und brüllenden Störgeräuschen bezieht das packende, immer neu auf- und abschreckende Sounddesign des Stücks seine verheerende Wirksamkeit; in seiner weitgehenden Autonomie fügt es sich als ganz neu gewonnene Deutungsebene in die brachiale Struktur der narrativen Zusammenhänge ein. Es kann der Handlung folgen oder sie durchbrechen, sie einleiten, abschließen oder in Konkurrenz zu ihr treten, um das Visuelle und selbst das geformte Wort in seiner Unumgänglichkeit ad absurdum zu führen; mal führt es das Grauen des Geschehens vor Ohren, mal vertont es, was das Auge still fasst, und referentiell bezieht es sich wechselnd auf die dramatische Handlung, auf das Publikum, auf sich selbst. Bereits bevor das Bühnengeschehen seine offizielle Eröffnung findet, bereits, als das Publikum, sich noch orientierend, die bereits einsichtige Bühne, die präsenten Darsteller, welche, schlafend und wartend, nahezu greifbar dem Publikum zugewandt verharren, inspiziert, findet es sich dem immer wieder aus dem Nichts hervorbrechenden Störgeräusch ausgesetzt. Begleitet von blitzenden Lichteffekten brüllt und donnert es, nur für Bruchteile von Sekunden, durch den Saal, verschlingt alles in sich und kündigt so seine absolute und dominierende Präsenz, seine tragende Rolle als Prophet, Spiegel und Totem des narrativen Geschehens an. Und dann, so wie es aus der Stille hervorbrach, fällt es augenblicklich wieder in diese zurück. Und es lauert.

Bezeichnend für den Nuancenreichtum der Sounds in der Inszenierung bleibt auch, dass dieses zerfetzende Dröhnen und die ihm verwandten grellen Dissonanzen vom Gegensatz des Leisen, eines Hauchens, Wimmerns und Stöhnens, eines unheilvollen, rhythmisch getriebenen Wisperns zwischen Panik, Desinteresse und hypnotischer Eindringlichkeit, gebrochen wird. Erst durch diese zweite Ebene, die vor allem dem grandios verfremdeten Sprecher aus dem Off zugedacht wird, sich aber auch anderswo wiederfindet, kann nämlich das eigentlich Dichotome, die Paradoxie einer feucht-stählernen, gefühlvoll-emotionslosen, kreischend-beschwörenden Grundakustik, entstehen. Und eben diese wird zum Zeugnis des Gelingens eines experimentellen Versuchs, das Kafkaeske auch in eine abstrakte (Miss-)Klangkulisse zu übertragen und diese einerseits als autonom gültig, anderseits auch als stets im kontrastreichen Spannungsspiel zur visuellen und narrativen Manifestation desselben stehend zu installieren. Als akustischer Auf- und Gegengriff der optischen Interpretation des Fragments bestimmt er die zersetzend verstörende Atmosphäre des Stücks entscheidend mit. Und er lässt, was die dämonische Faszination in der Literatur begründet, zuletzt vollkommen zum Herrscher über das Stück aufsteigen. In seiner Präsenz entfesselt sich ein blindes Entsetzen, vor dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Die Schlinge des 'Prozesses'

So schöpft das Theater Aachen in seiner Inszenierung des 'Prozesses' ungehemmt aus den schier endlosen Möglichkeiten modernen Theaters und entfacht damit ein bombastisches Spektakel skurril-humoresker Alterität. Dennoch beweist es dabei vorbehaltlose Treue zu der stilistisch und medial ganz anderen Ausgestaltung des Originals; denn Kafka, Kafka selbst, kommt zumeist, Wort für Wort, zu Wort – als originärer Literat. Auf Modernisierung, grobe Kürzung oder thematische Umlagerung wird gänzlich verzichtet; und die mächtigen Sätze werden in ihrer intrinsischen Schönheit originalgetreu etwa von einem grandiosen Off-Sprecher inszeniert, ja als Rahmen und innerer Leitfaden buchstäblich in Szene gesetzt. Dadurch wird das Stück, obgleich der fragmentarischen Offenheit der Vorlage durchaus gerecht werdend, von dessen eigener Eindringlichkeit, die sich als spezifisch literarisch aus der legendären Abfolge von Worten speist, eingerahmt und erweist seinem schriftstellerischen Ursprung so jede erdenkliche Ehre. Es wird nicht nach Kafka aufgeführt, sondern es ist Kafka; es schafft Zugang zum Werk, indem es sich in ihm bewegt, es schonungslos darstellt, es unmittelbar macht, und es beantwortet nicht die Fragen, die das Fragment aufwirft, sondern es stellt sie unverfälscht selbst. Zwar ist die Inszenierung ein brausender Sturm – aber dennoch: Die Schlinge des 'Prozesses' zieht sich leise, still, doch unaufhaltsam zu; treibende Kraft bleibt stets der Respekt vor der Wirkung des Originals. Dass das Stück, seiner Eigendynamik zum Trotz, mit seiner bemerkenswerten Dramaturgie auf deren unverfälschte Macht vertraut, ist der entscheidende Grund dafür, dass Kafkas Welt ganz so, wie sie sich in der Literatur vollzieht, auf dieser Bühne zu einer weiteren Form des künstlerischen Lebens erwacht. Und es ist vor allem der Grund dafür, dass sie als sie selbst auch auf ihr besteht.

Sie besteht, indem sie einen makaberen Reigen mit dem Tode selbst vollführt, der nicht bloß als Tod, sondern als ein aufsaugendes, kühler berechnendes, mechanisches Verderben dem Protagonisten schelmisch grinsend seine Hand zum Tanze reicht. Das ist die Dynamik des Prozesses, das ist der Ausdruck jener kafkaesken Welt; eine gefräßige Fülle an Leere von unaufhaltsam verschlingender Systematik, fernab des Sinnes, doch selbst blanker Sinn, und eine bizarre brutale Logik in den chaotischen Wüsten der Absurdität. Das Stück erlaubt uns nicht bloß, dem zu folgen, sondern vollauf darin aufzugehen; vom ersten bis zum letzten Missklang alle treibenden Schritte und Drehungen mit jeder Sehne mit zu vollführen, bis dieser groteske Totentanz vollendet, die Entscheidung vollstreckt, der Prozess in sich geschlossen ist:

"[A]n K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah K. noch, wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. 'Wie ein Hund!', sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben."4Franz Kafka: Der Prozess, Köln: Anaconda 2012, S.208. Wer sich so auf den Danse macabre einlässt, findet sich bis in seine Tiefen entblößt, und diese Scham trägt er mit sich fort. In dieser dumpfen Erschütterung frisst sie nicht an uns: Wir nagen an ihr. Das ist das große Verdienst dieses Stücks.

(c) Marie-Luise Manthei

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