Stellwerk Magazin

REZENSION Ruhrorter: Und die Nacht meines Anfangs

Vorwort

RUHRORTER ist ein dreiteiliges Theater- und Kunstprojekt mit Flüchtlingen. Der dritte Teil der Trilogie spielt im ehemaligen Frauengefängnis in Mülheim an der Ruhr, welches 1998 geschlossen und zwischenzeitlich auch als Abschiebegefängnis genutzt wurde. Aktuell sind das Drogenhilfezentrum und das Café Light der AWO Mülheim dort ansässig. Dieser Ort, der in mehrfacher Hinsicht als Sinnbild sozialer und institutioneller Isolation verstanden werden kann, bildet den Hintergrund der begehbaren Inszenierung, die als Mischung aus Theater und Rauminstallation angelegt ist.

"Man muss aufhören, gegen diese Mauern zu kämpfen, dann wird's besser", hört man den einstigen Seelsorger des ehemaligen Frauengefängnisses in Mülheim an der Ruhr durch eine Box an die Ohren der Zuschauer dringen. Sein Rat verstand sich zu Zeiten seines dortigen Engagements als eine Möglichkeit des Umgangs mit dem Eingeschlossensein, dem Sich-selbst-Aushalten. Vernehmen kann man diese Worte allerdings erst, als alle Anwesenden längst selbst von den dicken Gefängnismauern umschlossen sind und auf die nächste Station des dreiteiligen Theaterabends warten. Denn das Warten gehört dazu, zum Gefängnis, zur Inszenierung.

Einmal mehr hat sich das Theater- und Kunstkollektiv RUHRORTER einen Ort mit Geschichte gesucht, den es mit Flüchtlingen und Asylsuchenden aus dem Ruhrgebiet bespielt. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Gebäude in der Gerichtstraße 1 als Frauengefängnis erbaut, später auch als Abschiebegefängnis genutzt; heute hat schließlich die Drogenberatungsstelle der AWO ihre Heimstätte darin. Anders als für Haftanstalten üblich, befindet sich der imposante, gar schön zu nennende Mülheimer Bau nicht am Rande der Stadt, sondern nahezu in ihrem Zentrum, neben dem Amtsgericht, direkt an der Bundesstraße. Herrscht sonst eine Art doppelte Isolation – in sozialer und zugleich räumlicher Hinsicht – vor, bricht sich die Vereinzelung hier eigentümlicher Weise schon am Standort des Gebäudes. Das, was in den kommenden 80 Minuten passieren wird, trägt zu dieser Brechung den übrigen Teil bei.

Termine: /19. /20. /21. /26. /27. Juni /// 20.00 Uhr

Zelleneinsicht

Aufgeteilt in drei Gruppen erwartet die Zuschauer die erste Etappe des Abends: das Kellergewölbe des Gefängnisses. Wurde man am Eingang mit dem Stempel ‚A’ versehen, darf man direkt in den dunklen Raum folgen, alle anderen müssen sich vor der schweren Metalltür in Geduld üben. Nach Momenten der beklemmenden Düsternis öffnet eine Lichtgestalt in weißem Kittel am anderen Ende des Gangs eine Tür und bewegt sich so weit auf alle im Dunkeln Stehenden zu, dass sie sie berühren könnte, wäre da nicht das Gittertor – das so typische Bild, das Freiheit zu suggerieren vermag, sie aber doch nur eingrenzt. Die Gestalt in Weiß indessen kann das Gitter öffnen und öffnet auch alle weiteren Türen des Gangs für die Augen der Zuschauer. Darin sind nunmehr ausschließlich schwarz gekleidete Figuren zu entdecken. Zwei Frauen an Fitnessgeräten beispielsweise, manisch trainierend, aber auch ein Kind gebärend; und Männer, die auf der Fensterbank den freien Vögeln zuzwitschern oder sich statt der so tristen Zellendecke eines Himmels voller bunter Lichter erlaben. Ganz nah dürfen die Zuschauer an die Figuren in den einst als Kartoffelkeller und Isolationszellen genutzten Räumen herantreten, sie bemitleiden oder schier bestaunen; ganz nah ist man damit den möglichen Geschichten des Gemäuers. Nur ein zeitlich unbegrenzter Zutritt bleibt den Zuschauern verwehrt – nach exakt getimten zehn Minuten ertönt ein sirenenartiges Signal, das die Anwesenden zum Vorangehen auffordert und einer der beiden weiteren, draußen stehenden Gruppen das Warten vorerst aufkündigt.

Und die Nacht meines Anfangs

Stimmen

Station zwei des Abends ist in der ehemaligen Werkstatt der Haftanstalt situiert. Zwischen einer alten Küchenzeile, einem Spitzhacken-Kopf, einer Leiter und abgebröckeltem Putz stehen viele kleine Lautsprecher in den Fenstern, auf Stühlen und Bänken, aus denen man leise ein Stimmengewirr vernimmt. Die einstige Anstaltsleiterin und der bereits genannte Seelsorger sowie der Leiter der Mülheimer Ausländerbehörde kommen in Interviewausschnitten mit Erinnerungen an das Frauen- und Abschiebegefängnis zu Wort. Es ist von Gerüchen die Rede, die unweigerlich mit der Rückblende verbunden sind, vom metallischen Schließen der Türen; aber auch von der öffentlichen Meinung, dass für Asylsuchende generell zu wenig getan würde und schließlich vom Wunsch der Anstaltsleiterin nach einem authentischen Theaterabend, weil etwa Klamauk dem schweren Stoff nicht gerecht werden könnte. Fehlender Ernst ist dem Ensemble nicht vorzuwerfen, aber ihn vollends abzusprechen würde dem Projekt ebenfalls nicht gerecht werden. Vielmehr scheint es ein Spiel im besten Falle zu sein – ein Oszillieren zwischen der Hässlichkeit des Dargestellten und der Schönheit der Darstellung, ein Wechselspiel zwischen Abstoßung und Anziehung, nicht zuletzt zwischen Isolation und Freiheit. Letztere kann man mittels eines Blicks durch die Kellerfenster schon in Form des Innenhofes erahnen, doch muss die erste Gruppe so lange in dieser Ahnung verharren, bis auch die letzte Gruppe die Werkstatt erreicht hat.

Hofgang

Das Warten endet, eine Metalltür wird geöffnet und man steigt hinauf in den großen Hof – allein, jeder Zuschauer einzeln, nacheinander. Ein Hofgang, der zwingt, sich anderen Blicken auszusetzen. Ein Unwohlsein, das erst aufhört, wenn man sicher sitzt und selbst zum Beobachter wird. Es gibt nur eine einzige lange Stuhlreihe, mit Blick auf die Wand, die einen kurz zuvor noch ausgespuckt hat. Eine Wand mit vielen kleinen vergitterten Fenstern. Hinter jedem dieser Fenster verbergen sich viele Geschichten, die sich dem starken Gemäuer nur schwer entlocken lassen. Zunächst als Rückwand der Bühne wird die Mauer im Laufe der Zeit mehr und mehr zur Vorderwand, denn das, was sich hinter ihr verbirgt, wird an diesem Abend auf ganz neue Weise zum Sprechen gebracht. Ein kalter Wind weht vom Band.

Und die Nacht meines Anfangs

Ein Erinnerungsmoment direkt zu Beginn: Der Mann im weißen Kittel taucht wieder auf. Zuvor noch ins Dunkle führend steht er nun im Hof vor der Wand. Auch er schaut sie an. Plötzlich beginnt er zu singen, in einer fremden Sprache. Es ist ein heraufbeschwörendes Ansingen, das dem toten Gemäuer Leben einhaucht. Figuren erscheinen, die ihre Geschichten in verschiedensten Bildern vor und mit der Wand erzählen. Dass sie aus keinen wohlbehüteten und behaglichen Lebenshintergründen heraustreten können, wird in ihrem Auftreten deutlich: aus der Mülltonne steigend, aus der Schubkarre kriechend, aus dem Schacht hervorkletternd. Man erkennt, dass sie schon grausame Dinge erlebt haben – abgeschoben, weggesperrt, weggeschmissen. Und doch sind es nicht Trauer und Verzweiflung, die zum bestimmenden Lebensinhalt werden. Denn die Stimmen mit ihren verschiedenen Melodien und in ihren verschiedenen Sprachen können durch keine Mauer und in keiner Zeit vollständig zum Schweigen gebracht werden.

Wissen von der Zeit

So erklingt eine Stimme aus einem Schacht, der sich plötzlich öffnet und eine Frau in weißem Kleid erscheinen lässt, die vor dem Publikum in Segensgestus zu einem Sprechen anhebt, das uns nach dem Wissen von der Zeit fragt. "Was kann ich wissen von der Zeit, die mir im Kopf entsteht?" Es ist die Zeit, die als zweiter Hauptakteur nun neben die Mauer tritt. Die Zeit als ein wartendes Kreisen, das Wörter wie gestern, heute und morgen zu Hülsen für etwas werden lässt, das sich sprachlich niemals ganz ausdrücken lässt. Während die Frau spricht, füllt der Schubkarrenmann wie in einer Endlosschleife Sand in den Schacht. Der Schacht wird zu einer Sanduhr, die auch kein gestern, heute oder morgen kennt. Es ist das Warten, das die Zeit aushöhlt und alltägliche Prozesse wie Wäsche aufhängen, Gartenarbeit, Radfahren in einem Hof wie diesem in ihrer Wiederholungsstruktur offenlegt und uns als Gefangene der Zeit entlarvt. Ein Ausbrechen ist kaum möglich. Das Seil, das vom Dach herabgelassen wird, lässt keine Flucht zu. Der Flüchtende bleibt in der Zeit gefangen. Und somit ist der Moment sehr stark, in dem man plötzlich wieder die Stimme der Frau aus dem Schacht vernimmt, der wie zu Beginn verschlossen ist und alles wieder auf Anfang zu setzen scheint.

Und die Nacht meines Anfangs

Horchen

Gegen die Wartezeit wird angerannt, angeklettert, angesungen, angetanzt. Zwei Leitern, die an die Wand gelehnt sind und die Bühnenfläche flankieren, werden immer wieder zu Verbindungslinien zwischen einem Außen und Innen und zu Katalysatoren einer immer wieder sich wandelnden Kommunikationssituation, die das Erfahren über das Wissen von Zeit stellen und ein Miteinander auch in der größten Einsamkeit und Angst ermöglichen. Ergreifend ist die geheime Geburtstagsfeier im Schacht, die in ihrem angstvollen Flüstern deutlich werden lässt, dass selbst ein so schönes und harmloses Gedenken an die Geburt nicht immer möglich ist. Gemeinschaftsmomente werden immer wieder durch Alarmglocken gestört, Hilferufe durchbrechen immer wieder die Stille des Hofes, es gibt Anklagen. So beschimpft etwa eine Frau einen Mann, sie zeigt heftig gestikulierend immer wieder auf den geöffneten Schacht mit dem Sand drin. Sie empört sich in fremder Sprache und schlägt ihn schließlich auf den Kopf. Man kann die anklagenden Worte und die Wut nicht verstehen und doch versucht man sich in einer eigenen Lektüre. Versucht, eigene Bilder gegen diese fremden Narrative zu setzen. Wunderbar ist auch eine Tanz- und Gesangssituation, die sich als didaktischer Dialog zwischen zwei Männern entwickelt. Die Stimmen und die Bewegungen wandern von einem zum anderen, werden weitergetragen und erfüllen schließlich den ganzen Hof. Aus dem gemeinsamen Gesang wird schließlich eine Art Weckruf, in den alle Figuren einstimmen. Doch wer soll geweckt werden? Immer wieder wird die Wand abgetastet, abgehorcht, beklopft und über die Leiter bestiegen. Die Fenster werden abgeklopft und das Dahinter angerufen und angesungen. Doch das Dahinter antwortet nicht.

Zeitfluss

Eines der stärksten Bilder an diesem Abend ist ein Fluss. Er schiebt sich als gerade Linie langsam, aber stetig an der langen Stuhlreihe vorbei und trennt die Zuschauer zunehmend von dem Bühnenraum. Vom Betasten und Besteigen der Wand ablassend suchen die Figuren nun das Wasser – als Durst- und Feuchtigkeitsspender, als Toilette. Ganz links am Rand bricht der Fluss ab, läuft in einen Gulli, aus dem plötzlich eine Art Flaschenpost gezogen wird. Jede der Figuren hält nun ein Blatt in der Hand. Einen privaten Brief oder ein offizielles Schreiben? Das lässt sich nur erahnen und scheint auch nicht wichtig zu sein. Denn die verschiedenen Nachrichten, die der Fluss bringt, wandern von Figur zu Figur und schaffen somit einen Austausch der anderen Art. Die wechselnden Lektüren werden von einem Wind getragen, der auch den singenden Mann mit dem Kittel wieder in den Hof weht, der zum Ende hin noch einmal auf den Anfang verweist, auf den dunklen Keller, in dem das Ende vieler Menschen anfing. Und dann endlich erschallt eine Stimme aus dem Gemäuer. Eine Frauenstimme, die in rumänischer Sprache singt. Ein Licht geht in einem der unteren Fenster an, Schatten huschen vorüber. Alle Figuren versammeln sich vor der Wand, die nun endlich geantwortet hat. Eine Zufriedenheit scheint sich breitzumachen. Bis auf den Mann im Kittel verschwinden alle im Schacht. Das Licht geht aus und der Mann legt seine Blume an den Schacht, wie an ein Grab, er scheint nun endlich Ruhe gefunden zu haben. Er legt sich selber auf den Boden. Vielleicht schläft er oder horcht in den Boden oder wartet.

Fotos: Rudolf Grittner

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