Stellwerk Magazin

Essay Zeitloser Hiob - Gott und das Unglück der Menschen

Vorwort

Als Mendel Singer letzten Endes auch in der erhofften neuen Heimat alles verloren hat, beginnt auch sein Hadern mit Gott. 2015 feierte Rafael Sanchez’ Inszenierung von Joseph Roths Roman HIOB am Schauspiel Köln Premiere. Pünktlich zur Wiederaufnahme am 23.02.2016 beleuchtet unsere Autorin Sarah Müller das Verhältnis von Schicksal, Schuld und Eigenverantwortlichkeit.

Seit jeher stellen Leid, Katastrophen, Unglück, Krankheit und Tod den Menschen vor die Frage, wie Gott dies zulassen könne. Im Zuge dieser Fragestellung gibt es schon früh verschiedene Versuche, Übel und Leid auf Erden zu erklären. Ein Erklärungsversuch: Das dem Einzelnen widerfahrene Leid müsse als Strafe für die Sünde angesehen werden. Ein weiterer: Das Leid fungiert als Prüfung, Erziehung oder Züchtigung. Oder auch: Das Leid der Welt ist Folge eines grundsätzlichen Mangels des Guten.1Vgl. Kessler, Hans: Gott und das Leid seiner Schöpfung. Nachdenkliches zur Theodizeefrage. Würzburg 2000, S. 5. Daran anknüpfend prägte der Philosoph und Aufklärer Gottfried Wilhelm Leibniz den Begriff der Theodizee, der den Versuch einer Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt darstellt. Leibniz versuchte nachzuweisen, dass diese Welt "die beste aller möglichen Welten" sei, die Existenz von Leid auch nicht der Güte und Allmacht Gottes widerspräche. Die Theodizee-Frage umkreist das "Warum?" und stellt damit zugleich die göttliche Allmacht infrage: Warum hat Gott dies oder jenes zugelassen? Die so genannte existentielle Theodizee-Frage gibt es auch dort, wo Menschen Gott und seine Existenz bezweifeln und in Frage stellen, ohne aber definitiv seine Existenz zu negieren. Trotz aller Zweifel wird an einem gewissen Maß Göttlichkeit festgehalten, so schwer dies auch sei.2Vgl. Kessler, Hans: Gott und das Leid seiner Schöpfung. Nachdenkliches zur Theodizeefrage. Würzburg 2000, S. 6. Die Theodizee ist die Rechtfertigung Gottes, die Theodizee-Frage hingegen eine Frage an Gott. Diese Frage ist im Gegensatz zur eigentlichen Theodizee keine Rechtfertigung mehr, sondern eine Form der Anklage. Der leidende Mensch klagt Gott im übertragenden Sinne an, so dass seine persönliche Beziehung zu ihm verhandelt, wenn nicht sogar auf dem Spiel steht.3Vgl. Kessler, Hans: Gott und das Leid seiner Schöpfung. Nachdenkliches zur Theodizeefrage. Würzburg 2000, S. 6. Die Theodizee-Frage taucht oftmals bei denjenigen auf, die einerseits an einen allmächtigen und guten Gott glauben, andererseits aber ein zu großes Leid erfahren.4Vgl. Kessler, Hans: Gott und das Leid seiner Schöpfung. Nachdenkliches zur Theodizeefrage. Würzburg 2000, S. 8.

"[D]ie Armen sind ohnmächtig, Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in Ergebenheit tragen. Dem einen gibt Er und dem anderen nimmt Er. Ich weiß nicht, wofür Er uns straft, [...]. Ach, dem Armen geht es schlecht, wenn er gesündigt hat, und wenn er krank ist, geht es ihm schlecht. Man soll sein Schicksal tragen! [...] Gegen den Willen des Herrn gibt es keine Gewalt. 'Von ihm donnert es und blitzt es, er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davonlaufen' – so steht es geschrieben."5Roth, Joseph: Hiob. Herausgegeben von Johannes Diekhans. Braunschweig, Paderborn, Darmstadt 2012, S. 32f. Diese Worte beschreiben getreu das Gottes- wie Weltbild des Protagonisten Mendel Singer in dem 1930 erschienenen Roman "Hiob. Roman eines einfachen Mannes" von Joseph Roth.

Die quälende und vergebliche Suche nach dem Warum von Leid und Tod wird in der alttestamentlichen Erzählung "Hiob" thematisiert. Der gleichnamige Protagonist ist ein gottesfürchtiger Mann, wie er vorbildlicher kaum sein könnte. Er lebt gemeinsam mit Frau und Kindern im Wohlstand bis Satan und Gott eine Wette abschließen, um herauszufinden, ob Hiob selbst in Zeiten größter Not seinen Gottesglauben behält. Hiob wird nach und nach alles genommen: erst sein Besitz, dann seine Kinder und schließlich auch seine Gesundheit. Seine Frau verspottet ihn wegen seiner ungebrochenen Gottesfurcht. Im Anschluss an die Schicksalsschläge, die Hiob erleidet, wird die Frage nach dem gerechten Walten Gottes im Leben der Menschen leidenschaftlich diskutiert. Drei Freunde Hiobs vertreten in ihren Reden eine Vergeltungstheorie. Nach dieser Theorie war derjenige, dem es im Leben gut erging von Gott gerechtfertigt; wem es dagegen schlecht erging, der erschien ihnen als ein von Gott gezeichneter und gestrafter Sünder. Sie suchen immer wieder nach neuen Gründen – wenigstens von einer geheimen schweren Schuld des Hiob gegen Gott. Hiob lehnt diesen Vorwurf vehement ab, verweist auf die ihm nicht mehr verständliche Überlegenheit Gottes, von der er sich trotz allem nicht lossagen kann. Hiob beginnt mit seinem Gott zu hadern, beteuert seine Unschuld und fordert eine Antwort. Gottes Antwort ist ein Hinweis auf seine Allmacht. Hiob erkennt darin letztlich die liebende Fürsorge des Vaters. Es bleibt diesem vorbehalten, wie er die Geschicke aller Geschöpfe nach seinem unergründlichen, aber weisen Plan lenkt. Überwältigt von der Macht und Weisheit des überlegenen Gottes findet Hiob schließlich zurück zum ehrfürchtigen Glauben. Dies führt dazu, dass Gott Hiob neues Glück zuteil werden lässt: er schenkt ihm zahlreiche Nachkommen, großen Reichtum und ein langes Leben.

Die in der "Hiob"-Erzählung thematisierte Frage der Fragen, nämlich nach Grund und Ursache für das Leid in der Welt, ist vollkommen zeitlos. Diese Frage scheint heute aktueller denn je. Wie kaum ein anderes biblisches Buch hat Hiob Theologen wie Philosophen und Literaten zu Reflexionen und Deutungen inspiriert. Den Höhepunkt der epischen Hiob-Rezeption stellt zweifellos Josef Roths "Hiob – Roman eines einfachen Mannes" dar. Roth erzählt die Geschichte eines modernen Hiob: Mendel Singer, die Hauptfigur in Roths Roman, ist fromm, rechtschaffend und gottesfürchtig. Sein Leben läuft stetig dahin, bis ihn verschiedene Schicksalsschläge treffen. Der Anfang dieser Kette von Unglücken ist die Geburt seines kranken Sohnes Menuchim. Jahre später geht sein ältester Sohn zum Militär. Für Mendel ist auch dies ein harter Schlag, da es wider seinem Glauben ist. Doch auch die Flucht des zweiten Sohnes nach Amerika und die Entdeckung, dass sich seine einzige Tochter mit fremden Männern einlässt, lassen ihn nicht zweifeln. Er nimmt diese Schicksalsschläge als Prüfung Gottes hin. Nachdem die Familie ihre Heimat verlässt, um in Amerika neues Glück zu finden, hageln neue Unglücksfälle auf sie ein. Das erste Opfer, das sie bringen muss, ist das Zurücklassen Menuchims, da der behinderte Sohn den Aufnahmekriterien der neuen Welt nicht entspricht. Und auch Mendel Singer hat Probleme, im geschäftigen und modernen New York seinen Platz zu finden. Ohnmächtig muss er mitansehen, wie der fortschreitende Erste Weltkrieg ihm alles nimmt: seine Kinder, seine Frau, seine Heimat. Und nun beginnt Mendel Singer mit dem Letzten zu hadern, was ihm noch geblieben ist: mit seinem Gott. Als Mendel schließlich sogar seinen Glauben verloren hat, erfährt er doch noch göttliche Gnade. Sein Sohn Menuchim ist, wie von einem Rabbi prophezeit, gesund geworden. Als berühmter Dirigent und Komponist geht auch er nach Amerika. Nachdem er endlich den Vater gefunden hat, nimmt er ihn zu sich auf, reintegriert ihn damit in die Gesellschaft, führt ihn zurück zum Glauben.

Neben Bezügen von Roths Roman auf die biblische Hiob-Erzählung existieren natürlich auch große Unterschiede. Entgegen des ersten Anscheins ist der Protagonist Mendel Singer kein reines Ebenbild des biblischen Hiob. In der Bibel heißt es von Hiob in Vers 8: Er war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse. Beschreibt auch Roth Mendel Singer ebenfalls gleich zu Beginn als fromm und gottesfürchtig, so wird Mendel doch auch als recht gewöhnlich beschrieben. Es ist die Rede vom schlichten Beruf, vom fehlenden Erfolg, vom unbedeutenden Wesen, vom landesüblichen jüdischen Kaftan, vom unbedeutenden blassen Gesicht und vom gewöhnlichen Schwarz des Vollbarts. In der Bibel hingegen steht, es gäbe seinesgleichen nicht auf Erden. Die Beschreibung des Protagonisten entspricht dem Untertitel des Romans: "Roman eines einfachen Mannes". Der bedeutsame Hiob hat sich in einen gewöhnlichen einfachen Juden verwandelt. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass in der Zeit, in der der Roman spielt, es sich bei den Millionen 'kleiner Leute' um die wahren Hiobe handelt. Es kann nicht mehr darum gehen, das Schicksal eines wohlhabenden und bedeutenden Mannes zum Gegenstand eines Romans zu machen, sondern darum, das Hiob-Schicksal der Millionen, die an ihrer Zeit leiden und zugrundegehen, an einem exemplarischen Fall darzustellen. Die historische Situation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die das Elend sowie das Leiden von Millionen einfacher und kleiner Leute zur Folge hatte, führte zu einem neuen und bisweilen damit einhergehenden radikaleren Aufkommen der Theodizee-Frage, weil es nun um das Elend der Massen ging. Mendel Singer, Verkörperung eines modernen Hiobs, ist ein einfacher Mann, der seine Gedanken nicht ausdrücken kann, schon gar nicht seine rebellischen. Daher setzt er sie in symbolische Handlungen um, indem er etwa Gebetsutensilien vernichten will, was geradezu einer Parodie des biblischen Hiobs gleichkommt. Allerdings führt Mendel dies nicht konsequent zu Ende – er verbrennt seine Gebetsutensilien schließlich doch nicht. Eindeutige Bezugsstellen von Roths "Hiob" zu seinem biblischen Vorbild liegen jedoch auf der Hand. Wie Hiob verliert auch Mendel Singer seine Frau sowie seine drei anfangs gesunden Kinder an Krankheit und Tod. Von dem zu Beginn des Romans kranken Menuchim hat er keinen Hinweis auf mehr erhalten, doch er befürchtet Schlimmes. Mendel selbst ist aber im Gegensatz zum biblischen Hiob nicht ganz ohne Schuld. Mendel ist unsensibel gegenüber seiner Frau und seinen Kindern, lässt sogar seinen Jüngsten im Stich. Diese dafür aber realistischere Zeichnung wirkt authentischer als der biblische Hiob.

Wie Hiob geht auch Mendel anfangs von einem Tun-Ergehen-Zusammenhang aus. Er dient Gott treu den Riten und Geboten entsprechend und nimmt sein Schicksal ergeben an. Deborah wirft ihrem Mann Passivität sowie mangelnde Einsatzbereitschaft für die Familie vor. Ihr und auch dem Sohn Schemarjah ist der Gedanke nicht fremd, dass der Mensch sein eigenes Schicksal mitgestaltet: "Der Mensch muss sich zu helfen suchen, und Gott wird ihm helfen. So steht es geschrieben; Mendel! Immer weißt du die falschen Sätze auswendig." Trotz der heftigen Worte, die sie an ihren Mann richtet, ist sie viel sympathischer als die Frau des biblischen Hiob. Als Mendel beginnt mit Gott zu hadern und sogar aufhört zu beten, leugnet er zwar Gottes Güte und Gerechtigkeit, nicht aber seine Existenz. Nachdem Mendel Menuchim erkannt hat, spricht er gar von einem Wunder und sieht sein Vergehen gegen Gott ein. Wieder mit Gott und dem Leben versöhnt, kann er sterben. Der letzte Satz des Romans lautet: "Mendel schlief ein. Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder."6Roth, Joseph: Hiob. Herausgegeben von Johannes Diekhans. Braunschweig, Paderborn, Darmstadt 2012, S. 156. Im Gegensatz zum biblischen Hiob, ließe sich für Mendel Singer an dieser Stelle noch konstatieren, dass er zwischenzeitlich seinen Glauben an den gütigen Gott verliert und auch nicht alleine zu ihm zurückfindet. Es ist der verloren geglaubte Sohn Menuchim, der seinem Vater hilft, indem er unerwartet als Erlöser und Retter fungiert. Als Zeichen der göttlichen Gnade unterbricht er die Kette der Schicksalsschläge.

Foto: Stellwerk-Magazin