Stellwerk Magazin

Essay Geschichten aus dem Wiener Wald

Vorwort

“Das Stück spielt in unseren Tagen, und zwar in Wien, im Wiener Wald und draußen in der Wachau.” Diesen Hinweis hat Ödön von Horváth seinem Stück GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD vorangestellt. Er bezeichnete sich selber als Chronist seiner Zeit und schilderte auf schonungslose Weise die Welt, in der er gelebt hat. 2016 stellt sich nun die Frage, ob sich diese Welt denn im Großen und Ganzen so sehr verändert hat, beziehungsweise wie sich Horváths Darstellungen auch auf die Gegenwart übertragen lassen. Stefan Bachmann adaptierte das 1931 uraufgeführte Stück des österreichisch-ungarischen Schriftstellers in der aktuellen Spielzeit für die Bühne des Schauspiel Köln und liefert damit eine beeindruckende Inszenierung, die die Frage nach der Aktualität von den GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD erneut aufwirft.

Ödön von Horváth zeichnet in seinem Stück GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD, das er unter den Eindrücken einer turbulenten Zwischenkriegszeit verfasst hat, das Bild einer Gesellschaft, die resignieren muss, da Glück nur eine Illusion zu sein scheint. Träume, Enttäuschungen und Lügen bestimmen das Leben der von Horváth geschaffenen Figuren. Jeder versucht sein Quäntchen Glück im Chaos des Lebens zu finden. "Ich hab' mal Gott gefragt, was er mit mir vorhat. - Er hat es mir aber nicht gesagt, sonst wär ich nämlich nicht mehr da. - Er hat mir überhaupt nichts gesagt. - Er hat mich überraschen wollen."1von Horváth, Ödön: Geschichten aus dem Wiener Wald. Herausgegeben von Klaus Kastberger und Nicole Streitler. Stuttgart 2009, S. 102. Diese Sätze spricht Marianne im dritten und letzten Teil des Stückes, als sie am Ende ihrer erfolglosen Suche nach dem Glück resigniert feststellen muss, dass sie sich wieder an ihrem Ausgangspunkt befindet und einer aus trostlosen Brutalitäten bestehenden Zukunft entgegenblickt.

Vom Traum zum Alptraum

Horváths Figuren sind Verlorene in einer chaotischen Zeit, denen mitunter eine gewisse Naivität und Liebessehnsucht anhaftet. Zwei Frauen träumen von der Liebe - naiv die Eine, wissend, wie Welt und Männer wirklich sind, die Andere. Trotzdem verfallen beide dem gleichen Mann. Der naive Glaube Mariannes an die große Liebe bildet die Basis für alle verhängnisvollen Verstrickungen. Das Stück zeigt Figuren, deren Handeln und Fühlen von den gegebenen ökonomischen Bedingungen abhängig ist. Während Marianne sich anfangs nach nichts mehr als der Liebesbeziehung und dem Muttersein sehnt, will Alfred der ärmlichen Enge entfliehen und die Anerkennung finden, die er bei Marianne nicht finden kann. So sagt er zu Beginn ihrer Beziehung zu Marianne: "Und du erhöhst mich, ich werde ganz klein vor dir in seelischer Hinsicht."2von Horváth, Ödön: Geschichten aus dem Wiener Wald. Herausgegeben von Klaus Kastberger und Nicole Streitler. Stuttgart 2009, S. 41. Dieses Ungleichgewicht, das keiner auf Dauer aushalten kann, muss diese Liebe letztendlich zerstören. Als schließlich das Kind geboren und die wirtschaftliche Lage von Alfred und Marianne immer schlimmer wird, wandelt sich der Traum Mariannes von der großen Liebe schnell zu einem Alptraum. Das Familienleben mit Kind und in wirtschaftlicher Not lässt die Beziehung zwischen den beiden Glückssuchenden schließlich zerbrechen und so wird nach einigen unheilvollen Entwicklungen am Ende des Stückes nicht die Wendung zum Guten markiert, sondern die Fortsetzung trostloser Brutalitäten besiegelt.

Horváth hat sein Stück Ende der 1920er Jahre, also in den Zeiten der großen Weltwirtschaftskrise geschrieben. Er schildert die traurig-komischen Überlebensversuche der Menschen in der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Als sozial funktionslos und überflüssig Gewordene bildeten Viele eine potentielle Wählerschaft der Nazis. GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD erzählt von einer gedankenlosen und gefährlichen Gemütlichkeit, einer, die sich in Doppelmoral und Kitsch einrichtet, um vom brutalen Alltag abzulenken. Der österreichisch-ungarische Schriftsteller demaskierte in seinem Stück die Kleinbürgermentalität und schildert deren verlogene Fassade als trügerische Idylle.

Zeitlos

Horváths Stück lässt sich in vielerlei Hinsicht als zeitlos beschreiben. Natürlich haben die Frauen mehr Rechte als früher, aber einige der genannte Probleme treten auch heute noch auf. Eine alleinerziehende Frau ohne berufliche Ausbildung und Perspektive steht ohne Partner oder Familie im Grunde genommen genauso da, wie eine Frau in den 1920er Jahren. Auch heute fühlen sich viele angesichts wachsender Verantwortung überfordert, werden von finanziellen Sorgen geplagt, auch heute scheitern Beziehungen genau daran. Die Tatsache, dass Marianne von Alfred verlassen wird, um sich selbst zu verwirklichen, wirft die Frage auf, bis zu welchem Grad man in einer Beziehung seine eigenes Glück hinten anstellen soll und ab wann es zu symbiotisch wird und man die eigene Individualität vernachlässigt. Die ständige Suche nach dem großen Glück und die damit bisweilen einhergehenden zerbrochenen Träume haben an ihrer Aktualität nichts verloren.

Auch heute aktuell

Horváth zeichnet ein Bild dieses kleinbürgerlichen Lebens in der österreichischen Zwischenkriegszeit, der Zeit des anbrechenden Nationalsozialismus. Die Menschen verstecken sich hinter Fassaden, leben in einer vermeintlich heilen Welt, die sich allerdings als Scheinwelt entpuppt. An dieser Stelle zeigt sich eine erschreckende Parallele zur heutigen Gesellschaft im Kontext der Flüchtlingsproblematik und immer stärker werdenden rechten Gesinnungen. Ödön von Horváth blickt in seinem Stück in die Abgründe der menschlichen Seele und damit in die der Gesellschaft. Diese Abgründe waren im Jahr der Uraufführung des Dramas 1931 tief und sind es auch heute noch: Verlogenheit, Heuchelei, Doppelmoral, Kleinbürgerlichkeit und Existenzängste – all das hat nichts an Aktualität eingebüßt, im Gegenteil – gerade in puncto ökonomische Existenzangst ist das Stück aktueller denn je, wenn auch unter anderen Voraussetzungen.

Die Welt als eine Scheibe

Bachmann eröffnete die aktuelle Spielzeit des Schauspiel Köln mit seiner Inszenierung von GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD. Das spartanische Bühnenbild besteht lediglich aus einer runden, sich drehenden Scheibe. Die Welt als eine Scheibe – als eine kleine beschränkte Welt der agierenden Figuren. Hier wird bereits angedeutet, wie sehr diese Menschen sich konstant in der Tretmühle des Lebens abstrampeln, ohne je ein tatsächliches oder auch nur ein eingebildetes Ziel zu erreichen. Die Tatsache, dass das Bühnenbild keinerlei Hinweis auf Zeit und Ort liefert, deutet bereits darauf hin, dass das 1931 uraufgeführte Stück auf jede Zeit sowie auf jeden Ort übertragen werden kann. Auch auf Requisiten verzichtet Bachmann vollständig – rauchen, Briefe schreiben, Zither spielen... All dies geschieht pantomimisch. Die Schauspieler agieren auf zombiehafte Weise und muten bisweilen grotesk an. Der Umstand, dass die Figuren so verzerrt sind, führt dazu, dass der Zuschauer diese nicht zwingend in die Zwischenkriegszeit setzen würde. Ohne Bühnenbild, ohne jede Requisite, einzig mit zombiehaften Schauspielern gelingt es Stefan Bachmann und seinem Ensemble in Horváths Stück jegliche Bindung an Zeit und Raum aufzuheben und den GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD eine neue, zeitlose Kälte zu verleihen.

Foto: Tommy Hetzel

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