Stellwerk Magazin

Rezension Unterleuten von Juli Zeh

Vorwort

Juli Zeh zu rezensieren gleicht dem Unterfangen einer Bombenentschärfung. Jeder Satz eine Lunte, jedes Wort ein Funke, jeder Punkt ein Schlag in die Magengrube jener, die sich auf der sicheren Seite wähnten. Die Bombe zu entschärfen will nicht gelingen. Das Buch explodiert. Das liegt an der Sprengkraft, die die Charaktere bergen. Es liegt aber auch am Schwarzpulver, das Juli Zeh zwischen die Zeilen gestreut hat.

Nochmal von vorne. Unterleuten ist ein kleines Kaff in Brandenburg, mit etwa 200 Einwohnern, einer statistisch plausiblen Mischung aus Alteingesessenen und Neuzugezogenen. Mit dem Auto erreicht man das Dorf von Berlin aus in etwa einer Stunde und fährt ein durch “Aufgeklappte Alleen”, wie Jule Fließ-Weiland, eine der Protagonistinnen, es nennt. Die Obstbäume neigen sich dem Feld zu, von der Straße weg. Ob es die Straße ist, die die Bäume zur Seite drückt, oder ob es Absicht war, damit das Obst nicht auf die Straße fällt – man mag es nicht mehr zu entscheiden. So wie es eben immer eine Frage der Perspektive ist, ob der Mensch nun gegen die Natur kämpft oder sie bändigt.

Im Einklang mit der Natur – eine romantische Vorstellung, die viele Menschen aus der Stadt auf’s Land ziehen lässt – lebt aber keiner in Unterleuten. Denn das Obst der zahlreichen Alleen fällt tonnenweise zu Boden und verrottet dort, während die Unterleutner ihr Obst allesamt ein Dorf weiter sicher im Supermarkt kaufen. So wie auch die drei Äpfel in der Obstschale, die Jule Fließ-Weilands Titelbild auf Facebook zieren (das Profil existiert tatsächlich), bestimmt nicht an einem lauen Sommertag vom Baum gepflückt wurden, sondern eben aus dem Supermarkt stammen, oder gleich von Amazon geliefert wurden. Obwohl Jule Fließ-Weiland wahrscheinlich niemals bei Amazon bestellen würde, wollte sie doch eigentlich als sie nach Unterleuten zog noch regelmäßig nach Berlin pendeln, um an ihrer Promotion über die “destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Glücksversprechens” zu schreiben.

Aber daraus wurde nichts. Zuerst musste sie sich um den Garten kümmern. Dann um die Tochter. Und schließlich waren die destruktiven Auswirkungen des Kapitalismus vergessen. Nicht aber das grüne Gewissen. Auf Facebook gefällt ihr alles, was grün ist, grüne Mode, grüne Kosmetik, grünes Essen und Yoga natürlich. Zudem folgt sie einer Gemeinschaft namens “Halbzeitvegetarier”. Ein Label, das von derselben Konsequenz zeugt, mit dem sie das Vorhaben nach Berlin zu pendeln verfolgt hat, um an ihrer Promotion zu schreiben.

“A person who really wants something will find a way; a person who doesn’t will find an excuse.” Das tweetete @trainsmooth am 6. September 2015. Manfred Gortz sendete dieses Zitat noch am selben Tag als Retweet an seine Follower mit der Anmerkung: “Alles ist Wille.” #deinerfolg #erfolg.” Dieses Zitat hat Juli Zeh auch dem Roman vorangestellt.

"Alles ist Wille"

Manfred Gortz. Sein Buch DEIN ERFOLG, das beim Goldmann-Verlag erschien, liegt auch bei dem einen oder anderen Einwohner Unterleutens auf dem Nachttisch oder Tresen. Ein Umstand, den der alter Kron nur bedauernd in der ganzen "freien" Welt nach der Wende bemängelt. Interessantes Beiwerk zu dieser Thematik ist Schallers Biographie. Dieser hatte am 3. November 2008 – als die Commerzbank vom Staat saniert wurde – einen Motorradunfall, lag dann auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Koma und leidet seitdem an partieller Amnesie. Er kann sich nicht mehr daran erinnern, wer ihm und wem er einen Gefallen schuldet. Auch sein Netzwerk aus Kunden und Zulieferern, welches sich am Rande der Legalität bewegt, ist ihm nicht mehr zur Gänze bekannt, obgleich er weiterhin davon profitiert.

Manfred Gortz – der Eckhart Tolle für den Besserverdiener und jenen, der es werden will – betet in seinem neuen Buch ERFOLG das Motto des amerikanischen Traumes nach. Du kannst alles schaffen, wenn du es nur willst. Alles ist Wille. Ein Ausspruch, den man sonst nur aus dem Dunstkreis der katholischen Kirche kennt, auch wenn dort der Wille Gottes gemeint ist. Manfred meint deinen Willen. Deinen eigenen Willen zum Erfolg. Den Willen, die Ellbogen auszufahren und zur Not dein eigenes Rückgrat zur Karriereleiter zu machen. Wie unheimlich platt das alles ist und warum er damit trotzdem erfolgreich ist und mit was genau er da eigentlich sein Geld verdient, weiß Manfred Gortz wahrscheinlich selber nicht, da er nach eigener Aussage seine Zeit “noch nie mit dem Lesen philosophischer Schriften verschwendet hat.” Wenn der eigene Teller soviel Suppe fasst, dass man davon zweimal satt wird, muss man ja auch nicht auf den Tellerrand achten.

"Unterleuten ist ein Gefängnis"

Dem ersten Teil des Romans steht ein Zitat von Krons Tochter Kathrin Kron-Hübschke voran, der einzigen Facebook-Freundin von Jule Fließ-Weiland. “Unterleuten ist ein Gefängnis.” Und so beginnt auch das Buch. Gefangen im eigenen Haus.

“Das Tier hat uns in der Hand.

Das ist noch schlimmer als Hitze und Gestank.”

Jule schaute auf.

“Ich halte das nicht mehr aus.”

Es ist ein Hilferuf, ausgestoßen von Jule Fließ-Weiland, der 30-jährigen Soziologin, die zusammen mit Gerhard, ihrem ehemaligen Professor, aus Berlin nach Unterleuten geflohen ist und dort jetzt festsitzt. Es ist Hochsommer, 32 Grad im Schatten. Jule und Gerhard sind mitsamt Tochter Sophie im Haus gefangen, die Fenster müssen geschlossen bleiben, da der Nachbar Schaller, “Das Tier”, wie ihn Jule nennt, den ganzen Tag lang Reifen verbrennt. Gerhard, der den Hilferuf hört, ist habilitierter Soziologe, hat die Wandlung vom Idealisten und politischen Aktivisten zum Konservativen parallel zu den Grünen durchlaufen. “Am liebsten sprach er davon, dass das Drama der modernen Politik im fanatischen Streben der Menschen nach Veränderung liege.” Sein lebenslanges Ansinnen, sich als Teil eines Großen Ganzen zu verstehen, scheitert bei Gerhard an der allzu menschlichen Annahme, sich selbst mitsamt seines Lebenslaufs auf dem Höhepunkt, beziehungsweise Zenit der Menschheitsgeschichte zu befinden. Dies hindert ihn daran, die Kämpfe der nachfolgenden Generation als ‚kämpfenswert’ anzusehen, da er an ihnen schon lange nicht mehr teilhat. Er möchte das “Vorgefundene erhalten”. Gerade als Gerhard sich vor der Entscheidung sah, Verbitterung oder Neuanfang, trat Jule in sein Leben. Da war er 45. Und sie 25. Studentin der Soziologie, betrat mit wehendem Haar und wallendem Kleid seine Vorlesung. Er sah sie als Vertreterin einer Epoche, an der er selbst gerne teilgehabt hätte. Ganz der Romantiker und Idealist, der er sein Leben lang war und sich so an Rollenbilder und Klischees klammerte und sie auszufüllen versuchte, klammerte er sich sofort an Jule, denn sie war seine Chance auf einen Neuanfang. Für Gerhard pure Poesie, weswegen sich der Hilferuf Jules wahrscheinlich auch so schön reimt.

Der Kampfläufer

In Unterleuten lässt Gerhard all seine alten Kämpfe hinter sich und investiert seine Kraft fortan in den Naturschutz. Den Schutz des Kampfläufers, der auch das Cover des Buches ziert. Eine der interessantesten Eigentümlichkeiten des Kampfläufers ist sein Balzverhalten. Die Männchen kämpfen in sogenannten Balzarenen, die etwa einen auf einen Meter messen. In diesen Arenen, zu denen sie jährlich zurückkehren – der Kampfläufer ist ein Zugvogel – stellen die Männchen im Kampf gegeneinander ihre Paarungsbereitschaft zur Schau. Der Kampfläufer spielt eine große Rolle in Juli Zehs neuem Roman, auch wenn er selbst kaum in Erscheinung tritt. Aber er brütet im Naturschutzgebiet, an dessen Rand Unterleuten liegt und eine Ortschaft weiter, in Seelenheil, steht die Vogelschutzwarte, in der sich Gerhard Fließ seit seiner Flucht aus Berlin engagiert. Auf dem Rücken der Kampfläufer führt Gerhard nun seine eigenen Kämpfe aus. Dies tut er, indem er jegliche Bauvorhaben der Unterleutner im Namen des Naturschutzes niederschießt und sich damit jede Menge Feinde im Dorf macht. Unter anderem Schaller, dessen Bauvorhaben er verhinderte, weswegen dieser nun den lieben langen Tag Reifen verbrennt, aber jedes Mal, wenn Gerhard die Polizei ruft, einen warnenden Anruf aus dem Nachbardorf kriegt und die Feuer rechtzeitig löscht. Denn im Gegensatz zu Gerhard, der zwar – ganz der Soziologe und Wissenschaftler der er ist – das soziale Gefüge des Dorfes in den letzten drei Jahren natürlich schon analysiert hatte, ist Schaller Teil eben jenes. Und Gerhard nicht.

Türklinken

Auszug TREIDELN “Die Klinke war aus Messing, schön geschwungen und am Ende schneckenförmig verziert. Treidel spürte das Alter des Gegenstands wie einen Schock. Die Klinke hätte seine Urgroßmutter sein können. Sie war so alt wie das Haus, 120 Jahre oder mehr. Als die Klinke an dieser Tür festgeschraubt wurde, hatten die Menschen, welche das bezahlten, noch nichts von zwei bevorstehenden Weltkriegen gewusst. Sie hatten sich gefreut ein frisch gebautes Haus mit allem Komfort zu beziehen. […] Mit einem Mal graute es Treidel vor einem derart diensteifrigem Gleichmut, so sehr, dass er sich außerstande fühlte, die Klinke zu berühren. Er wünschte sich einen Neubau. Ein Haus, in dem die Dinge jünger waren als er selbst. In dem jede Scheuerleiste seinem persönlichen Gestaltungswillen folgte. In dem die Gegenstände seine Herrschaft anerkennen mussten, weil er für ihre Existenz verantwortlich war.” (J.Zeh - Treideln, S.35 f.)

Auszug UNTERLEUTEN: “Ein schönes Stück aus Messing, geschwungen und mit einer schneckenförmigen Verzierung am Ende. Die Klinke musste weit über hundert Jahre alt sein, und diese Erkenntnis lähmte ihn wie ein Schock. Als die Klinke an der Tür befestigt wurde, hatten die Leute, die das bezahlten, noch nichts von zwei bevorstehenden Weltkriegen gewusst. Sie hatten sich gefreut ein frisch gebautes Haus mit allem Komfort zu beziehen. […] Plötzlich wollte Gerhard, dass es ihm genauso erginge. Auch er wollte eine Phase im Leben der Klinke sein, die sich nach seinem Tod immer noch an ihrem Platz befinden würde. Er wusste jetzt, dass er dieses Haus erwerben musste. Einen Neubau, in dem alles jünger war, als er selbst, hätte er nicht ertragen. Er wollte kein Haus, in dem jede Scheuerleiste seinem persönlichen Gestaltungswillen folgte. Wo die Gegenstände seine Herrschaft anerkennen mussten, weil er für ihre Existenz verantwortlich war. Er wollte der Welt nichts Neues hinzufügen, sondern das Vorgefundene erhalten.” (J.Zeh, Unterleuten, S.15)

Dabei sollte in Unterleuten doch alles besser werden – weg aus der Großstadt, weg von den Menschen. Schon die Türklinke des neuen Hauses versetzte Gerhard in einen freudigen Schreck. Sie hatte zwei Weltkriege und viele Bewohner überdauert und Gerhard spürte das Verlangen “eine Phase im Leben der Klinke” zu sein. “Er wollte kein Haus in dem jede Scheuerleiste seinem persönlichen Gestaltungswillen folgte. Wo die Gegenstände seine Herrschaft anerkennen mussten, weil er für ihre Existenz verantwortlich war.”
Einem “entfernten Verwandten” Gerhards sind Juli Zehs Leser schon einmal begegnet. In TREIDELN, ihrem Quasi-Briefroman, in welchem sie sich nach der Anfrage eine Poetikvorlesung in Frankfurt zu halten mit Händen und Füßen dagegen wehrt, über das Schreiben zu schreiben. Treidel hieß der Charakter, den sie um der Sache willen erschuf und an dem sie exemplarisch zeigte, was passiert, wenn man über das Schreiben schreibt. Treidel, den Namen gab sie zur Interpretation frei. Treideln, das heißt ein Schiff stromaufwärts ziehen. Und auch Treidel stand am Anfang des Buches vor einer Klinke. Vor derselben Klinke. Doch Treidel fühlte sich vom Alter der Türklinke und der damit einhergehenden Bedeutungslosigkeit, mit welcher die Gleichgültigkeit der Klinke Treidels Existenz strafte, abgestoßen. Treidel wollte Sinnstifter sein. Urheber einer Bedeutung. Um selbst etwas zu bedeuten. Warum Treidel schließlich nicht funktionierte und was sie mit Treideln meint, wird in Unterleuten nun schließlich offensichtlich. Über das Schreiben zu schreiben, ist wie ein Schiff den Fluss hinauf zu ziehen, es widerstrebt dem natürlichen Lauf der Dinge und wird immer ein erzwungenes, vorgefertigtes Ergebnis zu Tage bringen. Es ist müßig, einer so freien Tätigkeit wie dem Schreiben, seinen bloßen Willen aufzwängen zu wollen.

In Unterleuten zeigt sich nun die wahre Stärke Juli Zehs in ihrer vollen Pracht. Es sind die Charaktere selbst. Unfertig und voller Mängel hat sie sie aus dem Sumpf der Alltäglichkeit gezogen, sie dann zusammen in eine kleine zerbrechliche Nussschale namens Unterleuten gesteckt und in den Fluss, den Lauf der Dinge, geschoben. Ihre Charaktere sind keine Sinnstifter oder Bedeutungsträger. Keine Flaschenpost, die sie mit kryptischen Botschaften gefüllt hat, damit der Leser sie nun entschlüsseln darf. Ihre Charaktere sind die Flasche selbst und der Leser spürt an ihr jeden Riss, jede Unebenheit, ihre Wärme oder Kälte, spürt die Maschine, von dessen Band die Flasche lief. Der restliche Verlauf des Dramas und der Kurs auf die unausweichliche Katastrophe entzieht sich der Kontrolle Juli Zehs, der Windpark, der den Stein ins Rollen bringt, kommt von ganz alleine und sie gibt dem Eigensinn der Charaktere ab diesem Moment nur den Platz zur Entfaltung. So viel Platz wie es in einem Dorf eben gibt, womit wir wieder bei den Kampfläufern und ihren Balzarenen wären.

Juli Zehs Unterleuten ist nicht nur ein Roman. Unterleuten ist echt. Wird echt. Man kennt all diese Menschen und Streitigkeiten nur zu gut, das Wirrwarr an Missverständnissen, Fehltritten, Gefallen, die geschuldet werden, Verpflichtungen die eingegangen wurden. Eigeninteresse und Eigennutz zu entwirren, wird umso schwieriger, je besser wir die Bewohner des Dorfes – die Fließens, die Franzens, Meiler, Schaller, Gombrowski und all die anderen – kennenlernen. Nach nur ein paar Kapiteln fühlt man sich äußerst unwohl in Unterleuten und will so schnell wie möglich weg, aber man kann es nicht, genau so wenig wie ihre Bewohner. Heimat eben. Dass man bleibt und das Buch in einem Rutsch durchliest, ist nicht nur dem eigenen Voyeurismus geschuldet, sondern vor allem der Unerbittlichkeit mit der die Ereignisse ihren Lauf nehmen.

Cover: Luchterhand Literaturverlag

Fotos: Thomas Müller