Stellwerk Magazin

Rezension Victor oder die Kinder an die Macht

Vorwort

Victor oder die Kinder an die Macht. Ein bürgerliches Schauspiel von Roger Vitrac am SCHAUSPIEL KÖLN.

Regie: Moritz Sostmann; Ausstattung: Klemens Kühn; Puppen: Hagen Tilp; Musik: Philipp Plessmann; Licht: Jürgen Kapitein; Dramaturgie: Julian Pörksen

Die Vorführungen im April sind schon ausverkauft. Für die Aufführungen am 10., 15. und 22. Mai gibt es noch Karten.

Zuallererst – nein, Victor ist kein Wunderkind. Victor ist ein Einzelkind. Und so fehlt ihm auch jeglicher Maßstab, um sich selbst in Relation zu seinen Eltern oder anderen Erwachsenen zu setzen. Diese sagen ihm zudem noch zu jeder Gelegenheit, wie schrecklich intelligent er sei, was für eine großartige Karriere ihm bevorstünde. Aussagen, die er zu einem Maße verinnerlicht hat, dass er sich ganz und gar auf Augenhöhe mit den Erwachsenen sieht und jetzt an seinem neunten Geburtstag, da er schließlich ein Mann ist, selbst zum Akteur werden will. Seine einzige und beste Freundin Esther, gespielt von Magda Lena Schlott - die das ganze Stück über wunderbar vor sich hin eskaliert und den Gestus und den Trotz und die Schamlosigkeit einer Sechsjährigen bis zur Perfektion verkörpert - untermalt mit ihren überbordenden Reaktionen die Tragik, mit der Victor sein Handeln gesehen haben will.

Damals für die Kunst zu wenig

Victor wurde von Vitrac zu einer Zeit geschrieben, in der alles ambitioniert, politisch durchsetzt und entlarvend sein musste, so wie es auch heute wieder von der Unterhaltung verlangt wird. Das Stück wurde 1928 schon nach drei Aufführungen abgesetzt. Für die Kunst zu wenig, für ein bürgerliches Publikum zu viel. Vitracs Werke wurden zu seinen Lebzeiten übergangen und missachtet und sind bis heute - zumindest außerhalb Frankreichs - unvollständig herausgegeben und bearbeitet.

Erst zehn Jahre nach seinem Tod wurden seine Werke unter der Regie seines Freundes Anouilh zum Erfolg. Wohl damals unter dem Deckmantel der Retrospektive, unter welchem der Hipster der 60er Jahre behaupten konnte, das Genie Vitracs schon immer erkannt zu haben. 50 Jahre später ist Vitrac wohl ein Name, den man kennen kann, aber keinesfalls muss. Vitrac wird als fähigster Dramatiker des Surrealismus und Vorreiter des absurden Theaters beworben. Aber verstanden wird er wohl bis heute nicht, da manche vergeblich das Genie suchen mögen, welches nach seinem Tod heraufbeschworen wurde.

Heute am Schauspiel Köln

"Victor Paumelle hat Geburtstag. Er ist ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher Junge, 'schrecklich intelligent' ist er und mit seinen neun Jahren bereits beinahe zwei Meter groß. Seine Eltern, Charles und Emilie, haben zu Ehren ihres hochbegabten Sohnes zu einer Party eingeladen. [...] Was als heiteres Zusammensein gedacht ist, steht von Anfang an unter keinem guten Stern." (Aus dem Programmheft des Schauspiel Köln)

Nun feierte Vitracs wohl größter Erfolg "Victor oder die Kinder an der Macht" Premiere am Schauspiel Köln und man stellt erleichtert fest: Vitrac will hier gar nicht verstanden werden. Die Inszenierung zielt auch nicht darauf ab, hier eine reißende politische Darstellung, oder eine Vernichtung des französischen Bürgertums zwischen den Kriegen darzustellen. Die Inszenierung feiert das Theater und den Irrsinn in diesem Stück.

Auf dem Bild: Nicola Gründel | Foto: Martin Miseré | Schauspiel Köln.

Groß und bunt

Es ist groß und bunt und laut, wie es sich für einen ordentlichen Kindergeburtstag nun mal gehört. Der Irrsinn, der sich vor einem Premierenpublikum entfaltet, welches schon vor der Aufführung auffallend gut drauf und sich während des Stückes kaum halten konnte, ist der unverfälschte Blick eines Kindes auf seine Welt. Wenn wir etwa Victor um das Schlafzimmer der Eltern schleichen sehen, während wir die Eltern beim Streit und leidenschaftlichen Sex beobachten, aber nur sehen, was Victor sich anhand der Geräusche vorzustellen vermag. Victors Sicht der Dinge verschleiert und verklärt alles, was das Publikum sieht. Alles ist groß und bunt. Jeder einzelne muss sich recken, um an die Türklinke zu kommen und versinkt in den überdimensionalen Möbeln.

Ein Hochbegabter feiert Geburtstag

An diesem Tag, seinem Geburtstag nun, will er einfach nicht die Klappe halten und seine Eltern und alle Beteiligten müssen mit Entsetzen feststellen, was die Kinder alles hinter verschlossenen Türen vernommen haben. In der Theaterwissenschaft nennt man das, was dann passiert "Peripetienhäufung" und bezeichnet es als ein Merkmal des Surrealismus und des Absurden Theaters. Aber wer schon einmal als Erwachsener an einem Kindergeburtstag teilgenommen hat, weiß sehr wohl, dass das einfach nur schrecklicher Alltag ist.

Auch dass die Handlung sich nicht im Sinne eines Zielgerichtetseins auf die Lösung einer expositionell entfalteten Problemstellung entwickelt, mag einfach nur daran liegen, dass Victor mit seinen zarten neun Jahren noch weit entfernt davon ist einen Überblick über die Welt zu haben. Jeder Tag beginnt und endet mit ihm. Dass man all dies auch gar nicht verstehen muss, ist sonnenklar, wer könnte das schon. Auch Victors Vater exklamiert regelmäßig, dass er dieses ganze Theater nicht versteht, aber schließlich hat er auch am meisten zu verlieren, wie sich im Laufe des Stückes herausstellt. Aber auch Victor selbst ist dem Untergang geweiht. Angesichts der Konkurrenz, derer er sich als Hochbegabter ausgesetzt sieht – Mozart, Jesus und wie sie alle heißen – bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich den Gesetzen des Unikats zu unterwerfen, das letzte derer da wäre: "Ich sterbe an Tod."

Analkomik - "auch heute noch"

Einige Kritiken – damalige, wie heutige - stoßen sich natürlich an der Analkomik, die wie das Stück selbst doch so schrecklich überholt sei. Die Analkomik betritt spätestens mit Ida Totemar die Bühne. Diese lässt den Druck der sich häufenden Peripetien in wohlig kleinen, aber umso lauteren Dosen ab. Das provoziere doch heute niemanden mehr, schreibt dann der Kritiker, der bitte provoziert werden will, aber doch nicht so. Dass Analkomik aber auch heute noch - was auch immer "auch heute noch" bedeuten mag – das Potenzial birgt, zwei Staaten gegeneinander aufzubringen, ist seit kurzem auch wieder klar. Analkomik muss ja aber auch nicht immer politisch sein, sie darf auch einfach saukomisch sein und welch besseren Ort gäbe es dafür, als einen neunten Geburtstag.

Foto: Martin Miseré | Schauspiel Köln.

Groß – aber keinesfalls artig ist das ganze Stück, all seine Charaktere und in besonderem Maße deren Darsteller. McDonagh, der leidenschaftlich und mit vollem Körpereinsatz Antoines Niedergang zelebriert, und Pleßmann, der gerade durch seine physische Zurückhaltung die Lächerlichkeit der von ihm verkörperten Charaktere - dem General Etienne Lonsegur etwa, oder der petomanischen Ida Totemar - unterstreicht. Und schließlich der unheimliche Benecke, der Victor mit genau der Ernsthaftigkeit verkörpert, mit der nur ein Neunjähriger seinen Geburtstag wie einen Staatsakt begehen kann.

Headerbild: Martin Miseré | Schauspiel Köln. (Auf dem Bild: Johannes Benecke)

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