Stellwerk Magazin

Judith Butler | Albertus-Magnus-Professur 2016 "Die Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit"

Vorwort

Nachdem bereits Giorgio Agamben, Noam Chomsky und Bruno Latour im Rahmen der Albertus-Magnus-Professur zu Gast an der Universität zu Köln waren, folgte in diesem Jahr die vielfach ausgezeichnete Professorin für Rhetorik, Vergleichende Literaturwissenschaft und Kritische Theorie an der University of California, Berkeley, - die Ikone der Gender-Forschung: Judith Butler.

Neben den Seminaren mit Studierenden der Universität zu Köln hielt Butler zwei öffentliche Vorträge, - einen zur ETHIK UND POLITIK DER GEWALTLOSIGKEIT und einen zweiten Vortrag zum Thema VERLETZLICHKEIT UND WIDERSTAND NEU DENKEN.

Foto: Silke Feuchtinger (V.l.n.r.: A. Speer, J. Butler, M. Günter)

Schon Wochen vor dem Vortrag liegen Plakate und Flyer aus – der Aufwand lohnt sich: Stunden vor Beginn der Vorlesung Judith Butlers füllt sich die Aula des Hauptgebäudes der Universität zu Köln. Hunderte Studierende, Lehrende und Interessierte können es kaum abwarten, den Thesen der amerikanischen Philosophin zu lauschen. Die Stimmung gleicht einem Konzertsaal und selbst die Übertragungsräume in der Universität sind belegt. Wer es nicht rechtzeitig schafft, schaut sich den Vortrag per Livestream von zu Hause aus an. Ja, die Rede ist nicht von einem Rockstar, sondern von Judith Butler, die sich bei ihrem Vortrag am 20. Juni 2016 der Frage stellt, ob es eine Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit geben kann.

Die Amerikanerin, die ihre Thesen auf Deutsch vorträgt und damit eine ganze Reihe Leute überrascht, wirkt angenehm bescheiden. Es scheint, als ob der ganze Rummel um ihre Person ihr unangenehm ist. Als sie beginnt zu erzählen, ist es vollkommen still. "Die Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit", so der Titel der Veranstaltung. Klingt zunächst einmal abstrakt, beschäftigt sich aber mit der grundlegenden Frage, warum manche Menschen "betrauerbarer" erscheinen als andere. Als betrauerbar gilt der, dessen Leben es wert ist, gerettet zu werden. In ihrem Vortrag bezieht Butler sich auf Michel Foucault. Seiner Meinung nach gibt es das Recht auf Leben nicht a priori – es muss einem erst erteilt werden.

Recht auf Leben

Doch wer trifft solch eine mächtige Entscheidung? Wir – du und ich – und zwar jeden Tag, indem wir andere Menschen verurteilen und in eine Schublade stecken. Der wohl aktuellste Bezug im Schubladendenken: die Flüchtlingskrise. Sie zeigt, wie tief verwurzelt unsere Ängste sind. Wer ist "darf" nach Europa kommen und vor allem dort bleiben? Die Menschen, die vor Krieg und Grausamkeit flüchten, sind auf der Suche nach Frieden. Hier angekommen erwartet sie zwar kein Krieg, dafür müssen sie häufig mit Vorurteilen kämpfen.

Die Ethik der Gewaltlosigkeit jedoch sieht ein friedliches Miteinander vor. Doch gibt es Ausnahmen der gewaltlosen Ethik? Was, wenn plötzlich das eigene Leben bedroht wird? Der juristische Begriff Notwehr zeigt eine Ausnahme der Regel; das Tötungsverbot ist nicht absolut. Dabei trifft jeder Mensch selbst die Entscheidung, wer es wert ist, betrauert zu werden. Butler nennt dies ein "erweitertes Selbst". Und dieses erweiterte Selbst kommt vor allem dann zur Geltung, wenn Familie oder Freunde in Gefahr sind. Natürlich rettet man seine Schwester – aber würde man für den Nachbarn auch die Hand hinhalten? Das Gewaltverbot gilt also für die Gruppe der "Nicht-Meinigen". Was Nahestehende und nicht Nahestehende unterscheidet, beurteilt man selbst. Die Ausnahme von der gewaltlosen Ethik mündet also in einer Gruppierung des erweiterten Selbst. Die Forderung, nur sich selbst zu beschützen, setzt einen Unterschied zwischen sich und die Anderen.

Status Leben für alle

Betrachtet man dies in Einzelfällen, erscheint die Situation vollkommen legitim. Doch genau diese Ausnahme führt dazu, dass eben die Rassenschemata entstehen, nach denen wir be- und verurteilen. Die zwischenmenschliche Distanz kann erst überwunden werden, wenn das Leben aller an Wert gewinnt und somit "betrauerbar" wird. Doch dafür müssen die Menschen einander erst den "Status Leben" zuerkennen. Wenn ein Leben von Beginn an als betrauerbar gilt, erst dann ist es auch wert, verteidigt zu werden. Wenn also alle Leben gleich betrauerbar sind – erst dann gibt es eine Welt ohne Gewalt. Die Vorstellung einer gewaltlosen Ethik kann zur Verzweiflung treiben, und wirkt sogar naiv. Doch Butler geht nicht davon aus, dass Gewaltlosigkeit überall praktiziert wird: "It's okay that we fail because it's an ideal; it's groundless." (Judith Butler)

Die Ethik der Gewaltlosigkeit bleibt eine Utopie, der es jedoch lohnt, so nah wie möglich zu kommen. Wir können zerstören, was wir wollen. Doch wir sollten wissen, warum wir es lassen sollten.

Foto: Silke Feuchtinger

Foto: Patric Fouad

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