Stellwerk Magazin

Ein Nachbericht in Bildern Über die Kategorien der Unwahrhaftigkeit

Vorwort

RUHRORTER ist ein kollaboratives Theater- und Kunstprojekt des Theater an der Ruhr mit Geflüchteten aus dem Ruhrgebiet. Initiiert und geleitet wird das Projekt vom RUHRORTER-Kollektiv rund um Adem Köstereli, Wanja van Suntum und Jonas Tinius. Das Ziel von RUHRORTER ist die Suche nach neuen ästhetischen Formen, um mit den Mitteln der Kunst und der forschenden Dokumentation ein öffentlich sichtbares und erfahrbares Korrektiv gegen die stereotype Kategorisierung und Ausgrenzung von Flüchtlingen und Asylsuchenden zu entwerfen.

Auf die komplexe Installation “Kategorien der Unwahrhaftigkeit” von Wanja van Suntum und Maximilian Brands wird hier nun versucht, mit ihr ähnlichen Mitteln zu antworten - bildreich und assoziativ.

Was haben Bürokratie und Leben gemein? 'Nichts', wäre wohl die plausibelste Antwort, denkt man bei Bürokratie vor allem an verstaubte Akten, starres Verzeichnen, Registrieren und Archivieren, an Formulare, deren universelle Anwendbarkeit alle Unterschiede nivelliert. Dem Leben mit den Menschen, die ein Aktenzeichen füllen, dem Fleisch ihrer Erinnerungen, scheint das gänzlich ein Antagonismus. Als eine "kurzsichtige und engherzige Beamtenwirtschaft, der das Verständnis für die praktischen Bedürfnisse des Volkes fehlt"1Meyers Großes Konversationslexikon, Leipzig und Wien, 6. Auflage 1903, S. 614., definiert Meyers Großes Konversationslexikon von 1903 die 'Schreibstubenherrschaft'. Max Weber schreibt in seiner postum veröffentlichten Studie Wirtschaft und Gesellschaft von der "Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit"2Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Teil, III, §5 Die bürokratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung., wenn es um die 'bureaukratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung' geht. Und doch hat die Bürokratie Teil am Leben. Nicht nur, weil sie es zu reglementieren vorgibt, weil sie an ihm mitschreibt, sondern auch, weil sie es – wenngleich immer unzureichend – aufschreibt.

Der Frage nach dem spezifischen Verhältnis von Bürokratie und Biographie in Asylverfahren widmete sich das jüngste Projekt "Kategorien der Unwahrhaftigkeit" des Kunst- und Theaterkollektivs RUHRORTER. Wiederum das ehemalige Woolworth-Gebäude in der Innenstadt von Mülheim an der Ruhr bespielend, gestaltete die Gruppe um Wanja van Suntum und Maximilian Brands einen zweigeteilten Abend, der aus einer Installation und einer Atelierschau bestand.

Der Zugang zu den unzähligen magischen Bürokratie-Kammern ist zu Beginn noch versperrt. Langsam lichtet sich der Vorhang. Regelrecht eingesaugt wird er, gibt den Weg frei nach oben. Dort beginnt das 'Kammerspiel'.

Das Mitschreiben und Aufzeichnen ist in modernen Bürokratien unweigerlich an Maschinen gebunden. Diese hier führt ein Eigenleben und druckt unablässig, was ihr einst wohl eingegeben sein mochte.

Um etwas aufzeichnen zu können, bedarf es Geschichten. Geschichten vom Aufbruch und vom Ankommen, vom Fremdsein und sich Einleben. Einmal ausgesprochen, wird das Persönliche dann aber nur eine Datei, ein ausgefüllter Vordruck, ein Gesprächsprotokoll.

Wieder das kühle Licht. Fröhlich blinkt der Spielautomat hinten rechts. Ein Glas mit Münzen lädt zum Mitmachen ein. Ich versuche mein Glück – und verliere.

Ein ferngesteuertes Spielzeugauto. Daneben ein Stuhl, auf dem Kopfhörer liegen. Eine junge Mädchenstimme erklingt. Fröhlich und leicht erzählt sie von Wünschen und Vorstellungen, die man im Teenageralter halt so hat.

"Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft."

Franz Kafkas Tagebucheintrag vom 18. Oktober 1921 schreibt jedem Leben eine Herrlichkeit zu, die stets verhangen ist. Um den Vorhang zu öffnen, braucht es jedoch mehr als zwei Hände. Es ist die Magie des richtigen Wortes, die zur Herrlichkeit führt. Jenseits sprachlicher Logik oder physischer Anstrengungen wird die Suche nach dem "richtigen Namen" zur Zauberei, die nicht mehr mit Kategorien der Wahrhaftigkeit operiert, sondern eben jene infrage stellt. Das magische Moment wird in dem imaginären Archiv von Wanja van Suntum und Maximilian Brands zu einer Kategorie der Unwahrhaftigkeit, die sich zwischen Bürokratie und Leben einnistet, um das Verwalten von Leben in seiner scheinbaren Logik offenzulegen. Vor diesem Hintergrund verhandeln die unzähligen Räume, die das installative Gefüge dem Zuschauer öffnet, die Absurdität des nie enden wollenden Wunsches nach einem Schreiben von Leben (bíos-gráphein), wobei beide Pole – das Leben und das‚'verwaltende Schreiben' – immer wieder aneinanderprallen. Die beklemmende Atmosphäre, die der schier größenwahnsinnige Verwaltungsapparat der Behörden in fast allen Räumen erschafft, wird immer wieder durchbrochen – durch den Magier, den Spielsalon, die fröhliche Stimme eines jungen Mädchens –, denn "[d]ie Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht."3Franz Kafka: Der Prozeß. Frankfurt a. M. 2000, S. 244.

Ein Magier flackert über den Bildschirm. Seine Kunststücke durchbrechen die düstere Atmosphäre des kalten Raumes. Trotzdem wirken die Theaterstühle nicht einladend. Ich bleibe stehen.

Das Zuhören mag notwendiger Teil eines Aufzeichnungsprozesses sein, meist verliert es aber bereits mit Schließen der Bürotür an gebührender Bedeutung. Allen Stimmen Gehör zu schenken, muss eine unerfüllbare Aufgabe bleiben, schon einige jedoch schmälern die Distanz.

Fotos: Franziska Götzen | © Theater an der Ruhr

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