Stellwerk Magazin

Filmkritik Natural Disorder

Vorwort

Das dritte Budapest International Documentary Festival fand vom 24. September bis 2. Oktober 2016 in Budapest statt. Dieses Jahr gingen mehr als 300 Vorschläge aus 64 Ländern ein. Der Film “Natural Disorder” von Christian Sønderby Jepsen war einer davon.

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Es gibt Themen, über die es sich schwer reden lässt und die in Diskussionen enden, die verletzend sind. Außenstehende können eine Objektivität oft nicht leisten. Es sind solche Themen, die im Allgemeinen beginnen und dann existenzielle Fragen aufwerfen. Eines dieser Themen ist Behinderung. Sie wirft Fragen nach der Lebensgestaltung und -qualität auf. Wenn man als Mensch, der keine Behinderung hat, an sein Leben denkt und dann an das Leben eines Menschen mit Behinderung, vergleicht man. Auch beginnt man sich zu fragen, wie es Menschen mit Behinderung geht, physisch und psychisch. Was sie fühlen und wie sie gelebt hätten, wenn sie nicht an dieser Behinderung leiden würden. Wie sie jetzt leben. Was ihre Träume sind oder waren. Schlussendlich stellt man sich die Frage, was eigentlich lebenswertes Leben ist.

"Do I have the right to live?"

Der Dokumentarfilm "Natural Disorder", der auf dem Budapest International Documentary Festival vorgestellt wurde, bemüht sich nicht, diese Fragen zu beantworten, er stellt sie. Der 27-jährige Stand-up-Comedian und Journalismus-Student Jacob Nossell hat Cerebralparese und leidet an Spastiken. Während der Entwicklung seines Theaterstücks im Danish Royal Theatre lässt er sich von Christian Sønderby Jepsen filmisch begleiten. Genau wie das Stück ist auch der Film in fünf Akte eingeteilt. Es ist ein Drama im Drama und beide haben Jacob zum Subjekt. Der Film folgt dem Theaterstück, das Theaterstück den Erlebnissen und Gedanken Jacobs, und Jacob kreist um sich und um all die, denen das Leben verweigert wurde und werden wird, weil sie eine Behinderung haben. "What is normal?" und "Do I have the right to live?", fragt er Neurologen, Genealogen, Philosophen, sogar Passanten und nach mehrmonatigen Krankenhausaufenthalten schließlich verzweifelt sich selbst. Er ist frustriert, wütend und traurig. Seine Spastik beeinflusste seine Konzentration und er war vor einen Bus gelaufen. Die Konsequenz: Er muss sechs Monate zu Hause bleiben, darf nicht an dem Projekt arbeiten, da sich sein Gehirn regenerieren muss. Diese Zeit wird im Film ausgelassen, sie ist eine Leerstelle.

Was ist lebenswertes Leben?

"I never wanted to be one of these disabled", flüstert Jacob fast, als der Film weitergeht und will alles, was sich in den letzten drei Jahren um ihn gedreht hatte, abbrechen. Dort, wo der Film zu scheitern droht, ergänzt das Theaterstück. Das Drama muss weitergehen und Jacob sich somit auf die Bühne stellen. Doch am Tag der Erstaufführung verbietet Jacob die filmische Aufnahme. Er will sich konzentrieren, vorbereiten auf den Moment, in dem er sich präsentiert und die Frage stellt, die ihn fast zum Aufgeben des Projekts gebracht hatte: "Do I have the right to live?“

Jacob, dessen größter Traum es ist, später einmal eine eigene Familie zu gründen, liest einen Brief vor. In diesem stellt er seinem ungeborenen Kind die Fragen, die zu beantworten ihm selbst nicht möglich waren. Ob es ihn lieben könnte, trotz der Behinderung. Ob es ihn hassen würde, wenn es selbst mit Behinderung auf die Welt kommen würde. Das Publikum weint. Eine andere Szene: Das Publikum muss per Knopfdruck entscheiden, wie lebenswert Jacobs Leben ist. Das Publikum entscheidet – Jacob fällt, er spielt, dass er tot sei. Sein Leben ist nicht lebenswert, entscheidet das Publikum.

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"Jacob, that was so cool, so cool"

Das Drama endet mit Jacob in einem mit Wasser gefüllten Gefäß. Solch einem, in dem man Leichen konserviert. Kurz danach bricht tosender Applaus los. In der Garderobe warten Familie, Freunde, Fans. Jacob und seine Eltern gehen nach Hause, er ist müde. Seine Mutter geht freudestrahlend neben ihm. "Jacob, that was so cool, so cool", spricht sie halb atemlos. Man fragt sich, was sie wirklich denken und fühlen mag. Der Abspann beginnt.

Der auf dem Festival anwesende Produzent und Regisseur Christian Sønderby Jepsen erzählt mir von der Entstehung des Films. Nachdem Jacob sich entschieden hatte, ein Theaterstück über sich und sein Leben zu planen, kontaktierte er Sønderby Jepsen, um den Prozess dokumentarisch begleiten zu lassen. Der Filmprozess sollte drei Jahre andauern. Jepsen erzählt von der filmischen Umsetzung, über sein Verhältnis zu Jacob und auch über zukünftige Projekte. Die Intensität des Films wirkt nach. Es fällt einem schwer, sich auf Jepsens Worte zu konzentrieren. Was ist lebenswertes Leben und wer hat das Recht, darüber zu entscheiden? Ich frage mich, ob Jacob darauf eine Antwort gefunden hat.

Gedanklich weit weg höre ich Jepsen sagen: "Jacob has a girlfriend now." Sie hat keine Cerebralparese, keine Behinderung. Nach drei Jahren Filmen muss Jepsen manchmal Jacobs Aussagen für sie übersetzen. Jacob ist ihm ein Freund geworden.

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Fotos: Christian Sønderby Jepsen | Copyright: Moving Documentary 2015

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