Stellwerk Magazin

Rezensionsessay Des Atmens bedarf die Seele

Vorwort

“Die Seele und ihre Sprachen“ zu ergründen: So lautete das Anliegen der Poetica III, des Festivals für Weltliteratur, das vom Internationalen Kolleg Morphomata und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgerichtet wurde und vom 09. bis 14.01.2017 in Köln stattfand. Ein mehrsprachiger Lesungsabend, moderiert und geleitet von der so scharfsinnig wie feinfühlig agierenden Kuratorin Monica Rinck, bewies, welch vielfache Antworten gerade die Poesie auf die Frage danach auch heute noch bereithält – und wie sie immer neu zu faszinieren weiß. Das Rezensionsessay nimmt diese Frage an die Lyrik der drei Dichter Michael Donhauser, Nurduran Duman und Eleni Sikelianos in den Blick, die im Zentrum der Veranstaltung „Die Lebenden, die Toten, die Liebe und die Jahreszeiten” stand.

Lyrik heißt ein bezauberndes Zwitterwesen in der lichten Welt der Literatur. Es ist eine fragile, doch erhabene Kunst, die in Worten malt und in Worten singt, ihre Form aus musikalischen Strukturen und ihren Inhalt aus sprachlichen Bildern bezieht – die ihre Macht aus der makellosen Symbiose der ursprünglichsten Künste schöpft und so musischer Ausdruck der Seele wird. Ihre Polyphonie, ihre Farbenpracht, ihre Wortgewalt suchen ihresgleichen. In ihrer geballten Intensität zeugt sie Diamanten der Literatur. Lyrik: So nennt man die Dichtung, die zum Spiel der göttlichen Lyra gehört, dem Inbegriff des Apollon selbst. Und nicht von ungefähr widmet sich jede der vier olympischen Musen, die eine Form der Lyrik ihr Eigen nennt, zugleich einer besonderen Weise der Musik! In Erato, Euterpe, Polyhymnia und Terpsichore bezeugt so schon die Antike, was den einzigartigen Geist dieser Gattung ausmacht: die Vielheit ihrer Wurzeln und die Ganzheit ihres Scheins.

Ihrer glorreichen Geschichte zum Trotz führt sie zwar gegenwärtig ein Schattendasein und scheint von Epik und Dramatik in deren kultureller Vitalität allzu oft überblendet zu werden. Doch gerade daraus bezieht ja die Lyrik ihren Zauber – aus den Schattierungen, dem Zwie-Lichtigen, dem unmittelbar Unfassbaren, durch das sie Grundierung und Spiegel und Spiel der Komplexität der Seele ist. Ihr innerer Schein führt deren Nuancen vor alle Sinne. Das ist der Quell ihrer Poesie.

Bei der diesjährigen Poetica begab man sich ebenfalls auf die Suche nach der Seele und ihren Sprachen. Und dadurch bot man der Lyrik einen Abend lang eine eigene, eine besondere Bühne, um ihr verborgenes Leuchten in ihrer Vielheit und ihrer Stimmgewalt zu entfalten. Die Frage danach, die also tief mit dem Wesen der Poesie verwoben ist, beantwortete die Lyrik hier mit Stimmen, ganz von ihr beseelt: durch Poeten, die im Miteinander und Durcheinander und Füreinander die Polyphonie der Gattung in der Einheit ihres Geistes leben und erahnen ließen. Drei Dichter, drei Sichtweisen, drei literarische Rhythmen, Themen, Melodien kamen hier zu Wort. Die Lebenden, die Toten, die Liebe und die Jahreszeiten, vier ewige Motive des Poetischen, sollten ihrem Auftritt einen Rahmen und der großen Frage ihre Antworten liefern. Die Weichen für ein Suchen der Lyrik wurden so gestellt. Doch wie spricht diese Poesie in der Seele, wie die Seele in der Poesie?

„Haut aus Flammen die wir durchschwimmen“ (E.Sikelianos)

Eleni Sikelianos (*1975), eine amerikanische Lyrikerin, Dozentin und Übersetzerin, debütierte 1993 mit ihrem ersten Gedichtband. Ihre Werke wurden seitdem u. a. mit dem Gertrude Stein Award for Innovative American Writing (1995/1997) und dem New York Council for the Arts Translation Grant (2000) geehrt.

In der Dichtung Eleni Sikelianos‘ spricht die Seele inmitten eines glühenden Spannungsfelds vom Leben, vom Sterben und vom Tod. Das Zwitterwesen Lyrik seziert sich hier selbst: im Organischen und in der Polarität. Syntax, so wird die Reflexion der Poeme formulieren, offenbart sich hier als „Weg, uns selbst zu fühlen und zu befreien“1Freie Übersetzung aus dem Englischen, SKG – in aller Härte, aller Akribie, als Drahtseilakt über dem beinahe Makabren und in schonungsloser Frage nach menschlicher Verantwortlichkeit vor dem Selbst, der Gattung und der Welt. Bald kühl abwägend, bald schonungslos bohrend lotet die Stimme Sikelianos‘ die Grenzen des sprachlich Fassbaren wie auch des fassbaren Sprachlichen aus. Von hämmernder Rhythmik und stichelnder Punktualität und dadurch von einer schwer greifbaren physischen Präsenz durchtränkt führt sie vor, wie Finger lyrisch gesalzen und unerbittlich sanft auf offene Wunden gelegt werden. In der Geisterwelt, die sie erschafft, werden die Räumlichkeit und die Körperlichkeit des Verlusts nicht nur greifbar, sondern mitreißend zum nackten Dasein hin, welches sein Ebenbild in der Logizität der formalen und inhaltlichen Strukturen wiederfindet. Auf diese Weise findet eine vitale archaische Energie von Sein und Sinn ihre durch die Poesie in der Bändigung zugleich entfesselnde Aus-Sprache, dechiffriert sich die Gewalt der Lyrik selbst als eine „Haut aus Flammen die wir durchschwimmen“ (Sikelianos). Und eben dadurch wird das Paradoxon von Körper und Geist, von Leib und Seele als solches in ihrer Kunst gleichzeitig offenbart und schonungslos ad absurdum geführt.

„Kein Hauch, nein, Feuer sich dem Rohr entwindet“ (Dschalal ad-Din ar-Rumi)

Nurduran Duman (*1974), eine türkische Lyrikerin, Erzählerin und Übersetzerin, die auch bereits in Theater und Rundfunk arbeitete, studierte Seefahrt und Ozeantechnik in ihrer heutigen Heimatstadt Istanbul. Ihre in mehrere Sprachen übersetzte Lyrik wurde bereits mit dem Cemal-Süreya-Lyrikpreis ausgezeichnet.

Der grellen Rhythmik und sezierenden Strukturalität Sikelianos‘ setzt die Lyrik Nurduran Dumans eine hypnotische Melodik entgegen, die ihre Faszinationskraft zunächst als ein pulsierendes Duett entfaltet: Die Poetin tritt in meditativen Dialog mit ihrem lyrischen Meister Rumi und arrangiert zu dessen tragender Stimme eine melismatische Begleitung, die sich in ihrer Virtuosität selbst zur Arie erhebt. Ihr Zyklus Neynur wagt inmitten eines Prozesses des absoluten Aufgehens in der Welt das Experiment, den Blick in die Tiefen des Inneren bis auf den Grund der Seele zu richten. Im motivischen Zentrum steht dabei die spirituelle An-eignung einer fremden Weise: des Lieds der Rohrflöte, verfasst vom Sufimeister Dschalal ad-Din ar-Rumi, einem vor Jahrhunderten wirkenden islamischen Mystiker und Dichter. Dumans Lyrik entführt auf die meditative Suche nach der unio mystica, auf eine Reise in die Tiefen des Seins, die sich in der steten Reflexion des Liedes Rumis und deren Wortwerdung der klagenden Musik der Ney vollzieht. Die Flöte Ney: entwurzelt, weil aus ihrer Heimat, dem Röhricht, geschnitten, und so von einem brennenden Verlangen nach Aufhebung dieser Vereinzelung erfüllt – sie gilt dem Sufismus als Symbol der Sehnsucht des Gläubigen nach Wiedererlangung der mystischen Einheit mit Welt, Liebe, Gott. Und so ist ihre melodische Klage viel mehr als ein Requiem: „Kein Hauch, nein, Feuer sich dem Rohr entwindet“ (Rumi)2Übersetzung von Annemarie Schimmel, http://www.eslam.de/manuskripte/gedichte/rumi/rumiliedder_rohrfloete.htm (eingesehen am 25.01.2017). ; sie erzählt von glühenden Tiefen im Streben der menschlichen Seele, die dieser den Hauch des Göttlichen im Aufgang in der Welt verleihen.

„Ein Feuer ist entlang der Ney“ (N. Duman)

Neynur singt als Lyrik vom Licht der Ney. Indem Dumans Poeme im Dialog mit Rumi eben deren einschneidend melodische Kraft in neue Wortgewalt übersetzen, verweben sie sich nicht nur mit der grundlegenden sonoren Stimme des mystischen Dichters zu einem lyrischen Duett. Vielmehr lassen beide Poeten in diesem Zusammenspiel eine noch viel ältere, bei allem Kryptischen doch im Klang wortlos für sich selbst singende Stimme hörbar und spürbar werden: die sehnsuchtserfüllte Klage der Ney, das feurige Lied der Rohrflöte. Die Dichtung wird Terzett. Neynur verschmilzt die drei Stimmen zu einem harmonischen Akkord, ohne die Vereinzelung einer jeden dabei infrage zu stellen, und lässt sie vielmehr inmitten der Mannigfaltigkeit der Klänge in der Einzigartigkeit ihrer Färbungen zur Geltung kommen. Ungestüm und drängend, zögernd und horchend, klagend und suchend, staunend und forschend schillert das Ich, das die Ney ist, auf dem Pfad, den Duman es bestreiten lässt. Sein Aufbruch in die Tiefen der Seele spiegelt sich im poetischen Zwiegespräch mit dem Licht, das im Zyklus zu strahlen beginnt. „Ein Feuer ist entlang der Ney“ (Duman), und die Dichterin lässt es brennen. Wer dieser Lyrik lauscht, begibt sich, vom Klang der Rohrflöte verführt und getragen, mitten hinein in ein zart gewobenes, lichtes Geflecht aus Bildern, Klängen und Rätseln – um sich in seinem Schein in sich selbst zu verlieren.

M. Rinck und M. Donhauser, © Silviu Guiman

M. Rinck und M. Donhauser; Foto: Silviu Guiman

„Alles bleibt / ist Schein / Alles steigt / ist licht / und erlischt“ (M. Donhauser)

Michael Donhauser (*1956), ein österreichischer Romancier, Lyriker, Übersetzer und Erzähler, lebt und arbeitet in seinem früheren Studienort Wien, wo er Germanistik und Romanistik studierte. Seine Lyrik, mit der er 1986 debütierte, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Ernst-Jandl-Preis und dem Georg-Trakl-Preis für Lyrik.

Vervollständigt wird die Trias lyrischer Seelenreisen nach der kühlen Beobachtung Sikelianos‘ und der brennenden Hingabe Dumans letztlich durch Michael Donhausers elegische Poesie. Der melancholische Glanz, der von seinen Poemen ausstrahlt, gleicht der vollkommenen, artistischen Anmut einer diffizilen Kaskade, die unwillkürlich in einen fast mystischen, fesselnden Bann zieht. Mit feinen Strichen zeichnet er ein dichtes, allsinnliches lyrisches Geflecht, dessen Fäden aus altem Gold gesponnen sind und den Zuhörer mit jedem Vers enger zu umschmeicheln scheint. Melodie und Rhythmik der kunstvollen Sprache, derer der Dichter sich bedient, stellen die energetische Triebkraft der Gedichte; die verschlüsselten und doch fast greifbaren Bilder, die sie zeichnet, dehnen sie in alle Weite aus und rücken sie eben dadurch auf den Leib. Industrielle und urbane Motive werden dabei sanft von naturalistischen Momenten umschlungen.

Doch lässt die komplexe Tiefenstruktur dieser Lyrik nicht zu, dass so ein Bruch entsteht: Vielmehr formiert sich so eine dynamische Einheit von synästhetischer Schönheit, eine dunkle Idylle, deren überbordender Reichtum vom volltönenden Klangraum des Ganzen zehrt. Wirklichkeit und Unwirklichkeit gehen hier Hand in Hand; Werden und Vergehen verbrüdern sich; Sein und Schein tanzen einen lyrischen Reigen. Donhausers Lyrik fängt das nur zu erahnende Mehr der Kunst und der Künste wie mit einem silbernen Schmetterlingsnetz ein und hebt es im Spiegel seiner Worte auf einen Thron der Nacht. „Alles bleibt / ist Schein / Alles steigt / ist licht / und erlischt“ (Donhauser) – im Antlitz einer Poesie, die in Inhalt und Form aus der Fülle uralter Kunstfertigkeiten schöpft. Und eben dabei werden Sprache, Seele, Welt auf ganz neue Weise wiederentdeckt

„Bis mein Herz aufgeht im Nichts“ (N.Duman)

Wie also spricht die Poesie in der Seele, wie die Seele in der Poesie? Jede Lyrik, die an diesem Abend der Poetica ihren Zauber entfalten durfte, hält hierauf eine eigene Antwort bereit. Ihre einzigartigen Klangfarben im steten Spiel zwischen Form und Inhalt und immer währender Variation malen Bilder von Seiten der Seele, die in dieser reflexiven Tiefe und sinnlich greifbaren Intensität nur von einem Hybriden der Künste gefasst werden können. So vielseitig das, was wir als Seele verstehen, ist, so vielschichtig muss sich ihre Sprache gestalten; und der Reichtum der Sprache, der von ihr erzählt, ist der unerschöpfliche Spiegel der Fülle, der erst die Vollkommenheit der Seele stellt. Diese Sprache der Seele berührt den Menschen in seiner Ganzheit, der Einheit seines Seins. Sie singt mit allen Stimmen, tanzt zu allen Rhythmen, malt in allen Farben und betört so alle Sinne. Und sie erlaubt es, aufzugehen im Alles und im Nichts. Genau das ist das oftmals vergessene und dennoch ewig lebendige Privileg der Lyrik, der apollinischen Poesie, wie sie seit jeher tief in uns verstanden ist und uns immer und stetig fasziniert. Als Kunst stellt sie den Raum für jenes Mehr, in dem die Seele frei sein darf. Und „[d]es Atmens bedarf die Seele.“ (Duman) So streifte ihr Odem uns hier.

Foto: Timo Müller

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