Stellwerk Magazin

Ein Kommentar Die Stimme Alice Schwarzers

Vorwort

Am Donnerstagabend war die Aula der Universität zu Köln bis auf die letzten Plätze gefüllt. Glücklicherweise war ich früh genug vor Ort, sodass ich die Chance hatte, in einer der vordersten Reihen, direkt hinter der Emma-Redaktion einen Sitzplatz zu ergattern. Ein Raunen und lauter Applaus ging durch den Saal, als Alice Schwarzer, die wohl berühmteste Feministin Deutschlands an das Pult trat. Süffisant erklärte sie ihrem Publikum, dass sie seit über vierzig Jahren in Köln lebe, nun allerdings das erste Mal von der Universität in Köln gebeten wurde, einen Vortrag zu halten. Sie sprach an diesem Abend über „(Sexual)Gewalt gegen Frauen und Recht“ als letzte Rednerin in der Vortragsreihe der Juristischen Fakultät zu „Sexualität und Recht“ von Juniorprofessorin Elisa Hoven.

Überraschend für alle saß auch Jörg Kachelmann im Publikum. Die an den Vortrag angeschlossene Gesprächsrunde eröffnete er mit seinem Auftritt. Selbst Schwarzer staunte. Wie zu erwarten, kam es zum Eklat. Kachelmann bezeichnete sich als unschuldig und verwies auf Schwarzers Vorstrafe wegen Steuerhinterziehung. Sein Anwalt nutzte die Gelegenheit Schwarzer über den Aufbau des Jura-Studiums zu belehren. Hatte sie ihren Vortrag doch damit eröffnet, dass sie erst wenige Minuten vorher erfahren habe, dass Sexualstrafrecht kein Teil des Jura-Studiums sei. Sie reagierte auf die beiden Herren souverän. Sie fühle sich im Grunde geschmeichelt, dass Herr Kachelmann den weiten Weg aus Zürich auf sich nehme, nur um hier auf sie zu treffen. Das Aufeinandertreffen von Schwarzer und Kachelmann passte thematisch zum Vortrag und wurde im Verlauf des Abends der Stoff für Eilmeldungen in der Kölner Lokalpresse wie auch in der „Welt“ und anderen überregionalen Blättern. Schwarzer sprach in ihrem Vortrag über das Problem des deutschen Rechtssystems, das sie Täterjustiz nennt. Am Beispiel von mehreren spektakulären Rechtsfällen, zu denen auch der Fall Kachelmann zählt, stellte sie die These auf, dass aus der Auseinandersetzung mit dem (Un-)Rechtssytem des dritten Reiches die BRD ein Justizsystem entwickelt habe, welches oftmals zu sehr in der Ergründung des Warum einer Tat verankert sei. Der Schutz der Opfer bliebe hierbei häufig auf der Strecke. Die Auseinandersetzung mit dem dritten Reich ist ihrer Argumentation nach jedoch nicht der einzige Grund für diese Täterjustiz. Machtstrukturen, die noch heute Männer gerne zum Opfer erklären und Frauen vorverurteilen, findet Schwarzer in ihren Beispielen ebenso.

DER FALL KACHELMANN & die Rolle der Medien

2010 wurde Jörg Kachelmann von seiner ehemaligen Geliebten wegen Vergewaltigung angezeigt. Es kam zum Prozess. Schnell stellten die Medien die Glaubwürdigkeit des Opfers infrage. Die Justiz setzte Kachelmann in Untersuchungshaft. Schwarzer schwieg zunächst. Drei Monate nach dem ersten Vorwurf meldete sie sich aber zu Wort. Für die BILD-Zeitung saß sie als Berichterstatterin im Prozess und ergriff Partei für das Opfer. Am Ende des Prozesses wurde Kachelmann freigesprochen, die Klägerin jedoch zunächst auch nicht angeklagt. Der Richter befand, die Wahrheit stünde irgendwo zwischen den Beiden und das Gericht sei nicht in der Lage, final zu klären, was nun wirklich vorgefallen sei. Die Grenze zwischen einvernehmlicher Sexualität und Gewalt war eventuell überschritten worden. Die Gesetzeslage jedoch unklar.

Fast überall war zu lesen, dass das eventuelle Opfer, die Klägerin, lügen würde. Die Medien gingen hier über ihre wichtige und richtige Position in einem Rechtsstaat hinaus. Anstatt zu berichten, wurde gerichtet. Und dies bevor Anwälte, Staatsanwälte und Richter überhaupt ihr Urteil gefällt hatten. Kachelmanns Verteidigung und die Presse waren einen unheiligen Bund eingegangen. Teils freiwillig, teils durch eine enorme Einschüchterung durch Unterlassungsklagen von Seiten Kachelmanns, wie Schwarzer berichtete. Deswegen schaltete sie sich ein. Sie ergriff Partei für eine Frau, die verurteilt wurde, ohne einen Urteilsspruch des Gerichtes. Hier ist jedoch zu bedenken, dass auch Schwarzer durch ihr Handeln teilnahm an jener Vorverurteilung von Klägerin und Angeklagtem, die sie in ihrem Vortrag anprangerte. Und auch ihre Berichterstattung ist nicht frei von Werturteilen. Der Unterschied liegt nur darin, dass sie nicht auf Seiten des eventuell unschuldigen Publikumslieblings Kachelmann steht, sondern eine ebenso eventuell unschuldige Frau verteidigen will. „In dubio pro reo“ ist der Grundsatz unseres Rechtssystems und vielleicht auch die größte Stärke dieses Systems. Im Falle einer Vergewaltigung oder wenn auch nur der Verdacht einer Vergewaltigung im Raum steht, bedeutet dieser Grundsatz jedoch, dass wir ein Opfer auf eine gewisse Art zum Angeklagten machen. Es muss dem Gericht beweisen, was ihm angetan wurde. Dies bedeutet, dass es in der Theorie erneut erleben muss, was passierte. Wenn sich wie im Fall Kachelmann die Medien auf so eklatante Art einschalten, ist hierbei keiner Partei geholfen. Und so erleben wir an jenem Abend einen Jörg Kachelmann, der aus Zürich nach Köln reist und die Öffentlichkeit des Abendvortrages von Schwarzer nutzt, um erneut auf seine Unschuld hinzuweisen. Klägerin und Angeklagter sind verbrannt aus dem Prozess hervorgegangen.

„Wir haben abgetrieben!“ (1971)

Das Beispiel dieses Prozesses ist es, das mein Augenmerk auf Schwarzer richtet. Ich frage mich, was die kulturelle Bedeutung Alice Schwarzers für die Gegenwart ausmacht. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach geben 5 von 6, also circa 85% der Deutschen an, dass sie wissen, wer Alice Schwarzer sei. So bekannt ist unter den deutschen Frauen wohl sonst nur noch die Bundeskanzlerin. Um Schwarzers Bedeutung einzuordnen, ist es notwendig einen Blick zurück zu werfen, auf die Anfänge ihrer Popularität. Alice Schwarzer begann ihre Karriere in den 1960er Jahren als Journalistin. Sie arbeitete als Korrespondentin in Paris. Hier wurde sie Teil der sich neu bildenden französischen Frauenbewegung, freundete sich mit Sartre und seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir an. Beauvoir war zu dieser Zeit die berühmteste Feministin Frankreichs. Ihr bekanntestes Werk „Das andere Geschlecht“ geht der grundlegenden Frage nach, ob ein Mensch als Frau geboren oder zur Frau gemacht werde. Schwarzer sagt heute, dass diese Lektüre ihr Denken nachhaltig verändert habe. Sie selbst versteht sich als Anti-Biologistin, sieht also gesellschaftliche Verhaltensweisen nicht vom biologischen Geschlecht ableitbar. Als Teil der Pariser Frauenbewegung organisierte Schwarzer auch eine Aktion zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Dieser war damals sowohl in Frankreich, als auch in Deutschland verboten.

Die Frauenrechtlerinnen brachten 343 Frauen dazu, in der Zeitschrift „Le Nouvel Observateur“ zu bekennen, dass sie abgetrieben haben. Ein absolutes Tabuthema der damaligen Zeit. Die Politik musste reagieren. Schwarzer brachte die Aktion auch nach Deutschland. Es gelang ihr dieses Bekenntnis mit der Unterstützung von 374 Frauen, darunter auch Berühmtheiten wie Romy Schneider, im „Stern“ zu veröffentlichen. Das totgeschwiegene Thema war nun auch in Deutschland auf dem Tisch und in den Kabinetten. Sie zog mit weiteren Aktionen zum Thema nach.

Die kulturelle Bedeutung Schwarzers

1975 folgte dann ihr vermutlich berühmtestes Werk „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“. In ihm zeichnet Schwarzer ein Bild davon, was in vielen deutschen Ehen Alltag war: Unterdrückung, Abhängigkeit, Gewalt und Demütigung. Schwarzer hatte wieder ein Thema in die Öffentlichkeit gezerrt, das man lieber unter den Teppich kehrte: Vergewaltigung in der Ehe. Sie sagt, diese Recherche habe sie radikalisiert. In den folgenden Jahren verklagte sie beispielsweise den „Stern“ wegen Sexismus, stellte Prostitution mit Menschenhandel gleich und ging gegen Pornographie vor – alles strittige Themen. Ein früher und wichtiger Beitrag wurde auch durch ihr Buch „Frauenarbeit – Frauenbefreiung“ (1973) geleistet. Bis in die späten 70er durfte ein Ehemann das Arbeitsverhältnis seiner Ehefrau noch gegen ihren Willen kündigen, mit der Begründung, sie mache ihren Haushalt nicht vernünftig. Im 21. Jahrhundert ist für den emanzipierten Menschen diese Art von Fremdbestimmung undenkbar. Schwarzer hat uns, wie vor ihr schon die Suffragetten, verdeutlicht, dass Frauen in erster Linie Menschen sind. Und das eine Gesellschaft, die sich als freie Demokratie und Rechtsstaat versteht, nicht zulassen kann, dass Menschen von anderen Menschen unterdrückt werden. Ihr Ziel ist die Vermenschlichung der Geschlechter. Und doch heißt es auch hier noch Öffentlichkeit zu suchen, solange Themen wie die Gender-Pay-Gap nicht vom Tisch sind. Ohne Schwarzer wäre vielleicht auch erst später über das Problem von (patriarchalen) Hierarchien in Beziehungen gesprochen worden. Die aktuelle Sexualforschung bestätigt, dass sich unsere Sexualität verändert hat. Männer und Frauen begegnen sich heutzutage viel öfter auf Augenhöhe. Vergewaltigung in der Ehe ist seit 1997 per Gesetz verboten. Dies ist natürloch nicht nur der Verdienst Schwarzers. Doch ist sie eine unter vielen Diskursverfechterinnen auf der Welt. In den Diskurs über Sexualität und Beziehung gehört heutzutage ebenso das Feld der „queer studies“. Die alte Aufteilung in Frau und Mann gilt für viele Denker schon lange als überholt.

Öffentliche Diskurse bewahren

Aber egal, ob man Schwarzer Recht gibt oder nicht, sie schafft mit ihren Kampagnen Öffentlichkeit für unangenehme Themen. Heute schreibt sie überwiegend für die von ihr gegründete Zeitschrift „Emma“, aber auch immer noch für Magazine wie den „Spiegel“. Das immer wieder oktroyierte Label der Feministin wird sie nicht mehr los. Dies wird ihr aber nicht immer gerecht. Die Kultur einer Gesellschaft entsteht aus dem Diskurs mit ihren Problemen und Herausforderungen. Schwarzers kulturelle Bedeutung ist nicht nur die einer Frauenrechtlerin, sondern auch die einer Person, die Schwachstellen und Herausforderungen unserer Gesellschaftsordnung erkennt und aufdeckt. Es liegt an der Gesellschaft, dass diese Schwachstellen fast immer mit der Unterdrückung der Frau zu tun haben. In diesem Sinne ist es auch nur logisch, dass Schwarzer seit der Silvesternacht in Köln vor allem zum Thema „Islamismus“ debattiert. Aus ihrer Sicht stellt die Zuwanderung aus Ländern, die durch einen politischen Islam geprägt sind, eine Herausforderung für unsere Gesellschaft dar. Man denke sich Alice Schwarzer einmal aus der deutschen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts weg: Es hätte das berühmte Stern-Cover mit dem Titel „Wir haben abgetrieben“ nicht gegeben. Ohne diese Aktion hätten wir vielleicht erst viel später oder bis heute nicht gegen das Verbot der Abtreibung aufbegehrt. Der Diskursbeitrag Schwarzers zur Abtreibungsdebatte ist von immenser Bedeutung. Kontrovers ist das Thema Schwangerschaftsabbruch geblieben und weiterhin gibt es Verfechter dieses Verbotes, wie es auch die aktuelle Gesetzesdiskussion in Amerika zeigt.

Man kann meinen, dass vieles bereits geschafft sei. Aber es gilt diesen offenen Diskurs zu bewahren, da jede Gesellschaft sowohl Fortschritte als auch Rückschläge erlebt. Wir befinden uns in einer Welt, in der Politiker an der Macht sind, die Ziele haben und denen es egal ist, ob sie für diese andere unterdrücken müssen – Autokraten, für die eine demokratische Gleichberechtigung aller Individuen nicht zählt. Wenn die diskriminierenden Worte eines Donald Trump als „Umkleiden-Geschwätz“ abgetan werden oder wenn ein Recep Tayyip Erdogan einer kritischen Journalistin rät, erklärt, sie solle ihren Platz erkennen und damit ausdrückt, dass dieser nicht in einer Pressekonferenz sei, dann sollten dies Warnsignale sein. Beide Männer sind übrigens auch gegen das Recht auf Abtreibung und beide haben gleichfalls ein Problem mit einer freien und kritischen Presse. Eine Gesellschaft, die zulässt, dass Frauen unterdrückt werden, die lässt zu, dass jeder zweite Mensch, die Hälfte unserer Bevölkerung ihrer Rechte beraubt wird. Wie es in einer solchen Gesellschaft um Minderheiten wie die LGBTI steht, möchte man sich dann gar nicht erst ausmalen. Und auch hier wird die kulturelle Bedeutung einer Alice Schwarzer erneut sichtbar, da sie nicht müde wird, uns auf diese Missstände hinzuweisen.

Fotos: Claas Lauritzen