Stellwerk Magazin

Ein Kommentar

Es ist Sonntag. Ich sitze am Frühstückstisch und fotografiere meine selbstgemachten Pancakes. „Endlich mal wieder ein schönes Bild für Instagram“, denke ich und suche nach der richtigen Perspektive, die meinen Pancake-Turm perfekt in Szene setzt. Das Obst platziere ich so, dass alles schön bunt aussieht. Ich bemerke mein Magenknurren. Doch ich muss mich noch etwas gedulden. Zuerst das Foto. Und da bemerke ich, wie paradox die Situation doch eigentlich ist. Ich habe Hunger und sollte endlich frühstücken. Stattdessen sitze ich hier und fotografiere mein Essen. Und das nicht als Erinnerung an den Moment, sondern für Instagram. Ein Blick in meine Handy-Mediathek bestätigt meinen Verdacht: Viele der Fotos sind für mich ohne Bedeutung.

© Melina Dittrich

Erst kürzlich habe ich den Text „Die helle Kammer“ von Roland Barthes gelesen, an den ich jetzt denken muss. Das Essay von 1980 handelt von der Anziehungskraft der Fotografie und untersucht das Wesen und das Wirken von Fotos auf seinen Betrachter. Nach Roland Barthes geht von jeder Fotografie eine gewisse Anziehungskraft aus. Er führt dabei die zentralen Begriffe studium und punctum ein. Damit beschreibt er die Tatsache, dass das Betrachten verschiedener Fotos ganz unterschiedliche Wirkungen auf uns haben kann. Während das studium vor allem aufgrund unseres kulturellen Vorwissens nach der Bedeutung des fotografisch Abgebildeten fragt, beschreibt das punctum gewissermaßen eine asemiotische Lektüre: „Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“1Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt a.M. 2009, S.36. Doch woran liegt das?

Ein Foto kann zwar unendlich häufig reproduziert werden, der Moment wird so jedoch nie wieder stattfinden. Mit dem Begriff noema beschreibt Barthes das Wesen der Fotografie, das für ihn als ein „Es-ist-so-gewesen“ beschreibbar wird. Etwas war real, hat so stattgefunden, aber ist nicht mehr gegenwärtig. Wenn ich mir alte Familienfotos aus meiner Kindheit anschaue, verstehe ich schnell, was Roland Barthes meinte. Ich werde melancholisch und schwelge in Erinnerungen.

Diese Fotos lösen Emotionen aus, sie wirken auf mich, denn im Moment des Betrachtens erscheint die Vergangenheit wieder vor meinen Augen. Heute frage ich mich, ob das Pancake-Foto wohl in ein paar Jahren Emotionen bei mir auslösen wird. Wohl kaum. Die Zahl von hochgeladenen Fotos auf Instagram nimmt täglich um rund 95 Millionen zu. Das heißt auch: Mein Foto wird schon in nur wenigen Sekunden in der Masse untergehen. Zugegeben spiegelt es auch nicht die wirkliche Situation am Frühstückstisch wider. Ich habe den Ausschnitt so gewählt und bearbeitet, bis das Essen perfekt aussah. Von der Unordnung im Hintergrund ist nichts zu sehen und die kaputte Stelle am Teller habe ich gekonnt verschwinden lassen.

Gibt es die Anziehungskraft der Fotos, von der Roland Barthes vor bald 40 Jahren gesprochen hat, heute überhaupt noch?

Teilweise. Das Problem liegt darin, dass nicht nur die Glaubwürdigkeit der Fotografie verloren geht, sondern auch ihre Wertschätzung nachlässt. Kaum jemand nimmt sich die Zeit, ein Foto länger als drei Sekunden zu betrachten. Durch die Digitalisierung können nicht nur unendlich viele Bilder von einem Motiv gemacht, sondern auch unpassende gelöscht oder problemlos bearbeitet werden. Ein aktueller Trend lässt jedoch erkennen, dass der Wunsch nach Authentizität wieder wächst. Denn auf der diesjährigen Photokina, die Ende September in Köln stattfand, zeigte sich ein deutlicher Trend: Sofortbildkameras boomen wieder. Polaroid-Fotos – die Klassiker der 1960er Jahre – erfreuen sich vor allem bei jungen Leuten großer Beliebtheit. Die Einzigartigkeit der sofort ausgedruckten Motive scheint für viele wieder an Bedeutung zu gewinnen. So stellte etwa ein bekannter Kamerahersteller im Rahmen der Messe einen Mini-Drucker für die Handtasche vor, mit dem das Handy zur Sofortbildkamera umfunktioniert werden kann.

Es scheint, als wären wir uns der Wirkung von Fotos sehr wohl bewusst und als würden wir uns in einer Welt, in der weniger beständig bleibt, mehr denn je nach etwas von Bestand sehnen. Denn nur Fotos und Videos können vergangene Momente für kurze Zeit wieder lebendig werden lassen. Mein Appell lautet daher: Weniger Pancake-Fotos und mehr echte Momentaufnahmen, damit die Anziehungskraft der Fotografie trotz des aktuellen Bilderrauschs auch in Zukunft nicht verloren geht.