Stellwerk Magazin

POETICA 5 Das ist Poesie

Vorwort

Das Alte Pfandhaus füllt sich gemächlich, die Gäste nehmen auf den ledernen Sitzbänken der u-förmigen Tribüne Platz. “Der Raum mutet an wie ein Raumschiff”, eröffnet der Kurator Aris Fioretos den vierten Abend der Poetica 5 und lädt die Gäste „auf eine weitere Sternstunde“ ein, auf eine Fahrt zu den Welten des Rausches, der “States of Euphoria”. Heute mit der Frage: Was ist Poesie und wie können wir sie erfahren?

"Wenn ich ein Buch lese und es meinen ganzen Körper so kalt macht, dass kein Feuer mich wärmen kann, weiß ich, das ist Poesie. Wenn ich mich fühle, als ob die Schädeldecke abgerissen wurde, weiß ich, das ist Poesie. Dies sind die einzigen Arten, in denen ich es weiß. Gibt es einen anderen Weg?", heißt es in einem Brief von der Lyrikerin Emily Dickinson aus dem Jahr 1870, den Aris Fioretos zitiert. Mit der schwedischen Autorin Mara Lee, der südafrikanischen Autorin und Performerin Lebogang Mashile und der englischen Autorin Jo Shapcott wird diesem Weg, Poesie zu erfahren, nachgegangen. Als Teil der Initiationsriten gehört die Ekstase seit jeher zur Dichtung. Aber worin besteht sie? Gibt es eine Sprache des Kontrollverlustes?

“I have a mother, I don’t have a mother” | Mara Lee

Als erstes betritt Mara Lee die Bühne und liest aus ihrem Gedicht Mor motar jorden och natten (dt.: Mutter hält die Erde und die Nacht auf). Obwohl aus ihrem Mund schwedische Worte und Verse kommen, lauscht das Publikum gespannt. Es folgen drei Gedichte in deutscher Übersetzung, großartig vorgetragen von den SchauspielerInnen Nicola Gründel, Lola Klamroth und Philipp Pleßmann. Alle Tempora seien für Schreibende notwendig, „writers need all tenses“, so Mara Lee, aber das Futur II sei besonders spannend: Zum einen klanglich, es begleite einen „dystopischen touch“. Zum anderen als Vorbote des Endes. Der Tod spielt eine zentrale Rolle in Lees Lyrik, in einigen Gedichten beschreibt sie ihre Mutter als eine Tote. Es sei grausam, aber auch faszinierend, die lebendige Mutter tot zu erleben, tote Mütter in der Literatur zu erkunden. In ihrem Gedicht Du stehst da und schöpfst aus einem Bottich heißt es: "Letztlich muss Barthes gewusst haben, dass einer der vielen / Namen der Hysterie Muttererstickung ist." Obwohl es für Frauen laut Virginia Wolf üblich ist, an die eigenen Mütter zurückzudenken ("for we think back at our mothers as women"), stellt dieses Sujet für Mara Lee als Adoptivkind eine Besonderheit dar.

Sie spricht von ihrer Mutter in der Pluralform: „I have a mother, I don’t have a mother.“ Nach diesem eindringlichen Satz offenbart sie dem Publikum eine Eigenart ihres Vornamens: Ihre Adoptiveltern gaben ihr ursprünglich den Namen Maria; ein sehr geläufiger Name in Schweden. Lee fühlte sich im Zuge der Namensgebung ihrer „otherness“ beraubt, ihrer offensichtlichen Andersheit als Adoptivkind. Mit dem Akt des Ausstreichens des "i" erkämpfte sie sich diese zurück. So richtig wohl fühlte sich Mara Lee nicht bei der Poetica mit dem Thema Rausch, „Provokation hätte besser gepasst", meint sie – das Publikum lacht.

"I smoked a spliff with Jesus Christ" | Lebogang Mashile

Als lebens- und farbenfrohe Gestalt mit leuchtend blauer Kopfbedeckung und gelben Plüsch-Ohrringen betritt Lebogang Mashile die Bühne, bereits rein äußerlich die "Rock n' Roll Poetin" unter den Gästen. Sie performt ihr Gedicht Bones in einem nahezu bedrohlich anmutenden Singsang und zieht das Publikum sofort in ihren Bann. "Everywhere you go there are bones / Lining the bottom of the ocean floor / Twisted rope, rotting flesh, dead hope / Click click / Says the camera / You keep asking for more". Die Worte "Click, click" fallen synchron mit dem Auslöser der Kamera des Fotografen, und auch dieser legt sie für einen Moment ab, sodass eine absolute Stille den Saal erfüllt. Das anschließende Gespräch zwischen dem Kurator und Mashile knüpft an das vorherige an, denn auch hier geht es um "otherness". Den Mut, die eigene Andersheit anzunehmen, fand Mashile in einem fiktiven Gespräch, das sie in einem ihrer Gedichte inszeniert: ein Gespräch zwischen ihr selbst und der eingangs zitierten Lyrikerin Emily Dickinson. Beide wuchsen in Rhode Island (Neuengland, USA) auf, ein Ort mit einer heterogenen Bevölkerung, eine ehemalige "Sklavenstadt", mit mafiösen Strukturen und hoher Migrationsrate. Dieser Ort wäre einer, an dem man unsichtbare Realitäten kreiert, so Mashile. In der imaginierten Konversation ermunterte Dickinson sie dazu, ein Freak zu sein ("Be a freak!").

Ob sie in Südafrika, dem Herkunftsland ihrer Eltern, als fremd wahrgenommen werde, fragt Aris Fioretos. In Südafrika, so Mashile, sei jeder fremd. Ob schwarz, weiß oder mixed, jeder laufe herum mit einer Psychose, einer Schizophrenie, jeder sei von der Zerteilung des Landes und Kontinents gezeichnet. Früher störte es sie, anders zu sein, aber eine Künstlerin, so Mashile, sei immer anders – "the artist is always other". Heute interessiert es sie, aus der eigenen Narration auszubrechen. Ganz ihrem Gedicht I smoked a spliff with Jesus Christ folgend, in dem es heißt: "Love is infinite gratitude for the power of the self. Seek the answers in your own voice before you look to anyone else."

"I find it difficult to write, if I'm not euphoric" | Jo Shapcott

"Glaubt mir, durch meinen gelb bestäubten Mund / sprach ich Bienen, atmete ich Bienen. / Der Staat wuchs den Sommer über in meinem Leib. / Die Lücken zwischen meinen Knochen füllten sich / mit Honigwaben und mein Brustkorb / vibrierte und summte." Jo Shapcott liest ihr Gedicht Ich teile Bienen mit und begibt sich anschließend in die selbst ernannte "hall of hard questions" – im Dialog mit Aris Fioretos.
In vielen Gedichten schreibt Shapcott von der Einverleibung verschiedener Wesen, wie den Bienen. Dabei begreift sie die Transformation, das Transleben, als eine Möglichkeit der Erweiterung von Empathie. Die Loslösung vom eigenen Körper und Geist kann dabei helfen, besser auf andere Wesen zugehen zu können. Dies bezieht sie auch auf den eigenen Schreibprozess: Als Schreibende würde man sich stets klein fühlen. Ein Weg, diesem Gefühl zu entgehen, sei das "Austreten aus sich selbst", um einen ekstatischen Zustand zu erreichen, um grenzenlos zu sein. In allem findet Shapcott eine Faszination, selbst im Alterungsprozess des eigenen Körpers. Diese Haltung benötigt sie zum Schreiben: "I find it difficult to write, if I'm not euphoric".

Wie erfahren wir nun Poesie? Und welche Rolle spielt die Ekstase? Während sie für Shapcott essentiell zum Schreibprozess dazu gehört, äußert sie sich bei Mashile in der Performance, in der Darbietung ihrer Texte. Und Mara Lee? Schwer zu beantworten. Fest steht, dass alle drei Frauen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eines gemeinsam haben: Sie nutzen die Poesie als einen Ort, um ihre "otherness" auszuleben, als Weg, die eigene Narration zu durchbrechen und dabei sogar die Grenzen des eigenen Körpers und Geistes zu überwinden. Der vierte Abend der Poetica endet mit tosendem Beifall und euphorischen Gesichtern. Das Raumschiff leert sich und rastet – bereit für die nächsten Sternstunden am Freitag- und Samstagabend.

Fotos: © Silviu Guiman