Stellwerk Magazin

Rezension Das Tal nach dem Zenit

Vorwort

Das Tal nach dem Zenit: Neuer Roman oder doch nur noch ein Houellebecq-Flickenteppich? Michel Houellebecqs neustes Werk „Serotonin“, rezensiert von unserem Autor Ingo Eisenbeiß.

Michel Houellebecq: „Serotonin“, aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Dumont 2019. 24 Euro.

Alles beim Alten. Florent-Claude Labrouste ist 46 Jahre alt, Agraringenieur und depressiv. Ein „substanzloses Weichei“1Houellebecq, Michel: Serotonin. Köln: Dumont 2019. S. 7., das es nur noch mit der Hilfe eines neuen Antidepressivums überhaupt schafft, sich zu waschen und dessen letzte Freude der Widerstand gegen das Rauchverbot ist. Dazu natürlich das Lamentieren über die Welt im Allgemeinen, die Frauen im Besonderen. Ein ganz normaler Houellebecq also. Fast. Denn im Gegensatz zu seinen vorangegangenen Werken spricht er eins seiner zentralen Themen diesmal direkter an: das persönliche Glück. Oder besser gesagt: dessen Unmöglichkeit.

Viel ist im Vorfeld über den neuen Roman des französischen Skandalautors geschrieben und gemutmaßt worden. Hat der als Prophet betitelte Franzose in seinem neuen Werk wirklich den Aufstand der „Gelbwesten“ vorhergesagt? Jein. Zwar wird eine Szene geschildert, in der französische Milchbauern eine Autobahnzufahrt blockieren und sich ein Gefecht mit der Polizei liefern; mit landesweiten, monatelangen Demonstrationen hat das aber nur wenig zu tun. Dem Autor daher die Vorwegnahme des Gelbwestenprotests zuzuschreiben, ist nichts weiter als ein cleverer Marketingtrick. Dass Houellebecq trotzdem so nah an der momentanen Stimmung des Landes ansetzt, zeigt nicht seine hellseherischen Kompetenzen, sondern unterstreicht vielmehr sein Können als Beobachter.

Serotonin oder Melatonin?

Houellebecq weiß genau, wie er bestimmte Themen ansprechen muss, um Erfolg zu haben und er genießt das provokante Spiel, seinen Stoff bis weit über den Rand des guten Geschmacks zu treiben. Allerdings weiß das mittlerweile auch der Leser. Und so wirkt der sehr lange Romanbeginn zäh, die Handlung kommt erst gar nicht, dann schleppend in Bewegung. Genau wie der Protagonist, braucht auch sie den Mercedes G350, um in Fahrt zu kommen. Bis dahin eignet sich die Lektüre vor allem zum Einschlafen. Wer noch keinen Roman des Franzosen gelesen hat, der fühlt sich womöglich noch von den undifferenzierten Meinungen des Erzählers („…was die Holländer anging, das waren wirklich Schlampen, […] sie sind ein Volk polyglotter Kaufmänner und Opportunisten“)2Ebd., S. 28., seinen vulgären Äußerungen über Frauen („Man hatte ständig die Wahl zwischen drei Löchern, wie viele Frauen können das von sich sagen?“)3Ebd., S. 69., und seiner seelischen Verkrüppelung („die Vorstellung zu duschen oder zu baden verursachte mir offenen Abscheu, in Wahrheit hätte ich am liebsten gar keinen Körper mehr gehabt“)4Ebd., S. 88. vor den Kopf gestoßen. Vielleicht schockt er sogar noch einige unbedarfte Leser mit Pädophilie und Sex mit Tieren.

Allen anderen, und das sind wahrscheinlich die meisten, sind die Werkzeuge aus Houellebecqs Provokations-Werkzeugkiste mittlerweile hinlänglich bekannt, die Empörungs-Stellschrauben sind mittlerweile rundgedreht. Dafür sind auch Setting und Handlung viel zu austauschbar. Ein depressiver, einsamer Mann geht, mal schneller, mal langsamer, an den Folgen von Globalisierung und der sexuellen Befreiung zugrunde und kommentiert seinen Verfall mit einer Mischung aus Ironie, Weltschmerz und Menschenverachtung.

Schuld sind immer (noch) die 68er

In Ausweitung der Kampfzone ist es ein Informatiker, der im Konkurrenzkampf um Sex seinen Lebenskampf verliert, in Elementarteilchen sind es die Brüder Michel und Bruno, die entweder durch hemmungslosen Sex oder totale Abstinenz seelisch zugrunde gehen, in Plattform bringt wohlorganisierter Sex-Tourismus fast die Erlösung – wäre da nicht in Form von Terror ein neuer Sündenbock. Und in Die Möglichkeit einer Insel ermöglichen selbst höchste Technik und endlose Reflexion nur die Erkenntnis: entweder Liebe oder Lust, Glück durch beides gibt es nicht und auch die Unsterblichkeit bietet keine Erlösung, sondern stellt nur eine Verlängerung der Qualen dar. Auch am Ende von Serotonin erkennt der Erzähler wieder die Unmöglichkeit des persönlichen Glücks in der westlichen Welt und schließt: „Sind wir Illusionen von individueller Freiheit, von einem offenen Leben, von unbegrenzten Möglichkeiten erlegen? Das mag sein, diese Gedanken entsprachen dem Zeitgeist; wir haben sie nicht formalisiert, danach stand uns nicht der Sinn; wir haben uns damit zufriedengegeben, uns ihnen anzupassen, uns von ihnen zerstören zu lassen und dann sehr lange darunter zu leiden.“5Ebd., S. 335.

Und leiden tun sie alle: der Erzähler und auch der Leser, der sich erstmal durch Labroustes kleingeistiges Leiden an der Welt kämpfen muss. Aber wen der Autor nach den ersten rund hundert Seiten durch sein aufgewärmtes Material noch nicht verloren hat, wird schließlich mit etwas Handlung belohnt. Der Protagonist beschließt sein Leben zu beenden, indem er einfach verschwindet. Das geht schnell, „die Dinge waren durch das Internet sehr einfach geworden“.6Ebd., S. 59. Labrouste, von qualvollen Erinnerungen an glücklichere Zeiten verfolgt, flüchtet sich nun auf einen Roadtrip in die Normandie und in seine Vergangenheit.

Der langweilige Provokateur

Er besucht Aymeric, seinen einzigen Freund aus Studienzeiten, dessen Biobauernhof nicht läuft und dessen Leben fast so in Scherben liegt wie das von Florent-Claude. Grund für die Misere sind die verfallenden Milchpreise. Labrouste, der einst selbst mit Leuten „die bereit waren, für die Handelsfreiheit zu sterben“7Ebd., S. 239. für die EU-Kommission gearbeitet hat, erkennt hier einen Brüsseler Komplott: „Kurz gesagt, was mit der französischen Landwirtschaft passiert, ist ein riesiger Entlassungsplan, der größte aktuell laufende Entlassungsplan, aber es ist ein geheimer, unsichtbarer Entlassungsplan, bei dem die Leute unabhängig voneinander verschwinden, in ihrer jeweiligen Gegend, ohne je ein Thema für das BFM8(frz. Nachrichtensender, Anm. d. Autor) abzugeben.“9Ebd., S. 238.
Solche Phrasen, mit denen sich der Erzähler über die für Frankreich scheinbar nur negativen Folgen von EU-Freihandel auslässt, und die auch gut an Front-National-freundlichen Stammtischen fallen könnten, kann man natürlich dem Autor zuschreiben und sich über dessen mutmaßliche Gesinnung empören. Man kann sich aber auch daran halten, dass Autor und Erzähler nicht dasselbe sind, und versuchen, nicht auf Houellebecqs uralten Taschenspielertrick hereinzufallen. Mit Auftritten und Äußerungen, die dem seiner Charaktere ähneln, verwischt er mutwillig die Grenze zwischen Werk und Schriftsteller. Wenn man darauf eingeht, ist sein Ziel erreicht: Provokation. In Unterwerfung war das Feindbild der Islam, jetzt ist es eben die EU.

Auf der Suche nach dem verlorenen Glück

Die Themen von Serotonin sind, wie der Name es bereits dezent andeutet, nicht Freihandel und EU-Hass, sondern Glück und Liebe, die im Universum des Franzosen einander bedingen. Laut dem Erzähler ist es Liebe, die Glück hervorbringt, um die Fortpflanzung zu sichern: Bei der Frau „schafft sie die Lebensbedingungen für ein Paar, für eine neue soziale, gefühlsmäßige und genetische Einheit“, für Männer besteht die „Möglichkeit zur Manifestation der Liebe“ darin, „wenn die Huldigung der regelmäßigen und im besten Fall täglichen vaginalen Penetration von der Frau eingefordert wird.“10Ebd., S. 66 und S. 67. Recht simpel eigentlich.

Und daher ist das einzig wirklich Interessante an Houellebecqs neuem Werk, dass er den Sex einfach kurzerhand aus der Realität des Erzählers verbannt. Durch das neue Antidepressivum „Captorix“, dass der Serotonin-Produktion Labroustes auf die Sprünge hilft, stirbt seine Libido ab. Frei von sexuellem Begehren und mit neuer Klarsicht, erkennt Labrouste: „ich habe das Glück erlebt, und ich weiß ganz genau, worin es besteht.“11Ebd., S. 171. Das „Glück“ ist in diesem Fall eine Ex-Freundin Labroustes, Camille, die der Erzähler leichtfertig durch einen Seitensprung verloren hat. Seelisch und körperlich am Ende versteht Labrouste, dass dieses Glück für immer verloren ist: „Ich begriff, dass es vorbei war, […], dass es mir nicht gelingen würde, den Lauf der Dinge zu verändern, dass die Mechanismen des Unglücks die stärksten waren, dass ich Camille niemals zurückgewinnen würde und dass wir einsam sterben würden, unglücklich und einsam, jeder für sich.“12Ebd., S. 293.

Kein Happy End für niemanden

Michel Houellebecq hat seinen schriftstellerischen Zenit überschritten. Serotonin ist der Beweis dafür. Der Autor greift nur noch auf alte Stoffe zurück und hat mit seinem neuesten Roman eine Art Houellebecq-Flickenteppich veröffentlicht, dessen Stoff bereits reichlich abgewetzt ist. Sein neues Werk ist wie die in ihm beschriebene Captorix-Pille: „Sie erschafft nichts, sie verändert nichts, sie interpretiert.“13Ebd., S. 334 In diesem Fall wieder, dass am Ende alle unglücklich sein werden.

Foto: © Philippe Matsas