Stellwerk Magazin

Translocal-Festival - Zwischen Identitätssuche und Repräsentationsfragen

Vorwort

Anders als Inter- oder Multikulturalität verweist Transkulturalität nicht auf das Verhältnis zwischen zwei Kulturen oder das Existieren verschiedener Kulturen in einer Gesellschaft, sondern auf die Durchdringung unterschiedlicher Kulturen in einer Gesellschaft. Entsprechend untersuchte das Translocal Festival am Schauspiel Köln in dezidiert postkolonialer Perspektive genau diese Formen der Durchdringung. Wobei sich schnell herausstellte, dass es sich um keine gleichberechtigte, wechselseitige Beziehung handelt, sondern durch klare Hierarchien gekennzeichnet ist.

Ganz im Sinne des bekannten Diktums des Kulturwissenschaflters Stuart Hall ist es der ‚Westen‘, der sich vom ‚Rest‘ abgrenzt1Vgl. Stuart Hall: Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, S. 137-179. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität, Bd. 2. Hamburg 1994 und die Aufnahme des ‚Rests' in den ‚Westen‘ nur durch die weitreichende Assimilation an westliche Werte ermöglicht – wobei selbst das nicht garantiert, dass man den ‚Rest‘ im ‚Westen‘ akzeptiert und Werte und Fragestellungen dieses Teils der Welt ernst nimmt. Diese Schräglage hat vor allem Bedeutung für Fragen der Identität. Es sind dann auch genau diese Fragen, die im Rahmen des Translocal-Festivals am Schauspiel Köln im Zentrum der Inszenierungen und Gespräche standen.

Auffällig ist hierbei, dass im Rahmen der Inszenierungen, Fragen der Identität eng an die Frage nach den Grenzen der Möglichkeit des theatralen Raums gebunden sind: Theater ist nicht Realität, sondern repräsentiert diese. Man sieht im Theater keine Zeichen, sondern Zeichen von Zeichen,2Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 1. Tübingen 1983, S. 28 wie es die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte konstatiert hat. So wird – neben vielen anderen – die Möglichkeit eingeräumt, dass ein Mann eine Frau spielt (und umgekehrt), aber auch, dass ein Darsteller oder eine Darstellerin eine Ethnie verkörpert, die eigentlich nicht seine/ihre ist. Es ist vor allem diese Möglichkeit des Theaters, diese Logik der Repräsentation, die im Rahmen des Translocal-Festivals in die Kritik gerät: Man soll nicht für andere sprechen, sondern diese selbst sprechen lassen.3Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien 2008. Dies hat weitreichende Konsequenzen: Zweifelt man die Möglichkeit an, für andere zu sprechen, so zweifelt man letztlich die Möglichkeit des Theaters selbst an. Dieser Paradoxie, das Ende der Repräsentation – meint: das Ende des Theaters – im Theater zu verhandeln, nehmen sich die folgenden drei, hier besprochenen Stücke an. Noch nie war alles so sehr eine Frage der Identität. Noch nie war alles so wenig eine Frage der Repräsentation.

Herero_Nama. A history of violence © David Baltzer

Herero_Nama. A History of Violence

„Herero_Nama“ ist ein zweistündiges Theaterprojekt des Regisseurs Nuran David Calis, das die jüngsten juristischen Verhandlungen zwischen den ehemaligen Kolonien und ihren Besatzungsländern aufnimmt, in diesem Falle das Verhältnis zwischen Namibia und Deutschland. In diesem Dreiakter folgt auf eine historische Annäherung an die Kolonialzeit Namibias die individuelle Perspektiven zweier Laienschauspieler namibischer Herkunft. Abgesehen von den zwei ausgebildeten Schauspielern, die szenisch-metaphorisch das Vergangene darstellen, metaphorisch das Repräsentationspotential des Theaters verkörpern und Fragen an die Laienschauspieler richten, werden die beiden Afrikaner von der Figur eines süddeutschen Anthropologen und dessen kritischen Fragen ergänzt. Wie die Laienschauspieler ist auch er farbig, wohingegen die beiden Vertreter des Schauspiel Köln weiße Männer sind. Diese Einteilung ist eigentlich gleich, nur sind die Gruppen nicht nur visuell separiert, sondern bleiben auch physisch in Distanz. Das finale Bühnenbild präsentiert sich dazu fast wie eine Podiumsdiskussion, sodass das Publikum zum Ende der Vorstellung merklich verunsichert ist, ob es denn nun klatschen dürfe.

Viele Fragen werden aufgeworfen, viele davon bleiben unbeantwortet. Definitiv beleuchten die verschiedenen Formen der Präsentation unterschiedliche Probleme postkolonialer Kritik: Ist die Institution des Theaters überhaupt in der Lage, diese Thematik zu verhandeln? Ist es hier von Bedeutung, welche Hautfarbe der/die Darstellende hat? Geht es um Repräsentation, Kunst oder Awareness? Nach Calis geht es um all das bisher Genannte. Im Stück „Herero_Nama“ geht es jedoch nicht nur um die Frage, nach Funktion und Möglichkeit des Theaters, sondern auch um Menschenrechte, Zu- oder Abspruch von Kulturgütern, um ein postkoloniales Denken, das sich im Laufe der letzten 100 Jahre eigentlich weiterentwickelt haben sollte. Walter Benjamins „Thesen über den Begriff der Geschichte" haben uns gelehrt, dass Geschichte meist von den Siegern und nicht den Verlierern geschrieben wird. Auch hat er auf die die Zerstörung von Kulturgütern aufmerksam gemacht. Das Stück antwortet auf aktuell geführte Diskussionen, wie sie beispielweise ausgelöst wurden durch Macrons Rückgabe von 26 Kunstwerken an die ehemalige Kolonie Benin. Deutschland und Namibia verhandeln nun schon seit 2015 über die Rückgabe von Kulturgütern wie auch über Reparationszahlungen.

In dieser Debatte geht es nicht darum, Repräsentation herzustellen, sondern um das Stiften einer verlorenen Identität. Deswegen funktioniert hier auch kein traditionelles Theater und aus ebendiesem Grund sind provisorische Antworten nicht hilfreich, sondern ein Dialog auf Augenhöhe wie die Möglichkeit einer klaren Äußerung von Interessen und Intentionen. Eine Podiumsdiskussion, bei der sich aber nicht alle Teilnehmer auf der Bühne, als dem Podium befinden, ist jedoch in dieser Hinsicht auch problematisch und schwierig als ‚auf Augenhöhe’ beschreibbar.

Black/The sorrows of Belgium I: Congo © Michiel Devijer

Black / The Sorrows of Belgium I: Congo

Ein zweistündiges Austauschgastspiel im Rahmen einer Kooperation mit dem NTGent. „Black / The Sorrows of Belgium I: Congo“ von dem belgischen Regisseur Luk Perceval ist der erste Teil zu einer Trilogie, die sich mit den Schattenseiten der belgischen Geschichte befasst.

Der afroamerikanische Presbyterianer-Priester William Henry Sheppard fuhr unter Begleitung von Sam Lapsley 1890 als Missionar in den Kongo, zu jener Zeit belgische Kolonie. Der damals 20-jährige war überwältigt von der vorherrschenden Gewalt in dem Land, dass er sich zuvor als exotisches Abenteuer vorgestellt hatte. Seine Reiseerfahrungen sind das Fundament für Percevals Inszenierung. Der Regisseur schafft es dabei fast, das Vergangene unserer Gegenwart anzugleichen: Mit Musik, Kostüm, Bühnenbild und der Rahmensprengung durch eine direkte Ansprache des Publikums gelingt ein vielschichtiges Stück, das definitiv beeindruckt. Während Komik und Dramatik kontrastiert werden, sich extreme Lautstärke mit beklommener Stille abwechselt, erzählen die Darstellenden eine facettenreiche Geschichte: Individuelle Schicksale der Kolonialzeit werden ebenso präsentiert wie zeitgenössische Kommentare („Oh, das ist aber nett von euch, dass ihr ein Kind aus dem Congo adoptiert“). Der Zuschauer fühlt sich ertappt, auch und vielleicht gerade dann, wenn der unterhaltsame Clown auf der Bühne plötzlich das Publikum auffordert „blöde schwarze Ziege“ laut gen Bühne zu rufen. Die verschiedenen Perspektiven des Dargestellten verflechten sich zu einem komplexen Konstrukt. Verflochten deswegen, weil die Schauspieler bis zum Ende als Einheit auftreten; sie singen gemeinsam zu der musikalischen Live-Untermalung. In Szenen, die Unwetter nachahmen, retten sie sich auch gemeinschaftlich auf einen zentral platzierten Billardtisch, aber gleichzeitig schreien oder schweigen sie sich an. Das, was Perceval hier zum Ausdruck bringt, ist das langsame Auflösen einer Identität, ein Definitionsverlust wie er in „Herero_Nama“ nur noch aus der Retrospektive betrachtet wird.

Interessanterweise geht es in „Black / The Sorrows of Belgium I: Congo“ allerdings nicht nur um den Identitätsverlust der Afrikaner, sondern auch um jenen der Amerikaner. Gegen Ende des Stücks sind die Grenzen einer jeden Figur verschoben. Der Blick von außerhalb, die Sprache von außerhalb und die Traditionen, die von außerhalb in Afrika fußfassen sollen, führen nicht nur dazu, dass ein Kontinent einen Namen erhält, den er sich niemals selbst gab. Verzerrung von Identität und Intention treten als Konsequenzen zutage und können auch als diese gekonnt in das Bewusstsein des Publikums eindringen. Die transhistorische Brücke, die erbaut wird, bringt direkte Kritik an ein unbewusst, unreflektiertes Verhalten gegenüber der Sorrows Europas an, welches doch so allgegenwärtig erscheint.

Chombotrobe © Martin Rottenkolber

Chombotrope

„Chombotrope“ ist ein etwa einstündiges Tanztheaterstück des afrikanisch-europäischen „The Jitta Collective“, das 2017 den Kölner Tanzpreis erhielt und 2018 zum Theatertreffen / Shifting Perspectives nach Berlin eingeladen wurde. Anders als in „Herero_Nama“ und „Black / The Sorrows of Belgium I: Congo“ wird hier zwar nicht die europäische Kolonialgeschichte verhandelt, dennoch spielt die Frage der Geschichtsschreibung eine zentrale Rolle. Im Rahmen eines surrealen Fashion-Konzerts wird Geschichte neu gedacht. Ganz im Sinne des Afrofuturismus begegnet man Vergangenheit und Zukunft aus afrikanischer Perspektive und lässt all dies in der Gegenwart kulminieren, denn trotz der im Stück angedeuteten futuristischen Utopien ist klar: was zählt, ist das Hier und Jetzt.

Im Zentrum des Hier und Jetzt steht dabei erneut die Frage nach Identität. Durch steten Kostüm- und Musikgenrewechsel, aber auch den Wechsel zwischen unterschiedlichen Sprachen im Stück wird hierbei schnell deutlich, dass Identität nicht als feste Kategorie begriffen wird, sondern, ganz im Sinne der Überlegungen Judith Butlers, performativ erzeugt wird und einem ständigem Wandel unterliegt. Die Verknüpfung von Geschichte/Geschichtsschreibung und Identität erkennt man vor allem zu Beginn an den Kostümen. Angekündigt als „afrofuturistic fashion“, materialisiert sich Stuart Halls Metapher des ‚Rests‘ im (Verpackungs-)müll, aus dem die opulenten Kleider bestehen. Präsentiert in einer Modenschau wird so der ‚Rest‘ zur Haute Couture.

Wie bei den vorherigen Stücken ist die Frage der Identität eng an die Frage der Repräsentation des theatralen Raumes gebunden: Schon zu Beginn des Stückes betont eine der Tänzerinnen, dass es sich im Folgenden nicht um klassisches Tanztheater handle, Applaus solle daher nicht erst am Ende folgen, sondern immer dann, wenn die ZuschauerInnen es für angebracht halten. Bereits hier wird also markiert, dass es nicht um traditionelles Theater geht. Gesteigert wird dies nochmal gegen Ende, wenn ganz bewusst die ‚vierte Wand‘ durchbrochen wird. Einer der Tänzer stellt sich an ein Rednerpult und spricht als er selbst – nicht als irgendeine Rolle, die er im Rahmen des Stückes repräsentiert hat – das Publikum direkt an. Er erzählt Geschichten seiner Freunde unterschiedlichster Herkunft, die allesamt um Fragen der Nationalität und Identität kreisen:

  • Sind Cornrows und Rastalocken cultural appropriation, wenn man nicht aus Afrika stammt?
  • Gibt es einen typisch europäischen Gang und was ist, wenn einem/er AfrikanerIn dieser zugeschrieben wird?

Doch es sind nicht diese Fragen, mit denen das Stück endet. Es folgt ein letzter Tanz. Eine Tänzerin kreist über die Bühne, ihr Kostüm erinnert an eine vergoldete Freiheitsstatue. Bevor der – im Schauspiel Köln stets imaginäre – Vorhang fällt, steht sie nur noch in Unterhose bekleidet auf der Bühne. Hat sie mit ihrem Kostüm nun jeglichen repräsentativen Überbau von sich abgeworfen, oder steht sie für einen (paradiesischen) Neubeginn?

Header: Chombotrobe © Martin Rottenkolber