Stellwerk Magazin

Rezension Zwischen Schrei-vor-Glück und Gulaschtopf

Vorwort

„ALL I NEED oder: Das ist das Gleiche nur in Gold“ vom kollektiv.plakativ ist der diesjährige Kölner Beitrag für das west-off-Festival 2019. Koproduziert wird er von der studiobühneköln, in der am 11. Oktober auch die Uraufführung stattfand. Schon zum zehnten Mal haben sich die rheinischen Produktionshäuser FFT Düsseldorf, Theater im Ballsaal Bonn und die studiobühneköln zusammengetan, um mit jungen TheatermacherInnen aus der Region neue Stücke zu entwickeln. Schwerpunkt der diesjährigen Arbeiten ist das Thema Zukunft. Neben „ALL I NEED“ des kollektiv.plakativ werden „Still Standing“ von Locu & Ruth und „Aus dem Innenleben eines Staubsaugerbeutels“ vom Kollektiv äöü präsentiert. Alle drei Produktionen sind zwischen dem 23. Oktober 2019 und dem 11. Januar 2020 sowohl in Köln als auch in Bonn und Düsseldorf zu sehen.

Besetzung

Text, Regie und Schauspiel: kollektiv.plakativ (Olja Artes, Alessandro Grossi und Alina Rohde) Choreografie: Sara Peña Mentor: Norman Grotegut

Drei schummrig beleuchtete Kabinen. Menschen, die sich langsam darin bewegen. Dieses Bühnenbild empfängt die ZuschauerInnen im Saal der Studiobühne. Die Umkleidekabinen mit den durchsichtigen Vorhängen werden sie das ganze Stück über begleiten. Durch gekonnte Lichteinsätze verwandeln sich diese im Verlauf des Abends mal in eine Disco, mal in eine Fotobox, oder bleiben einfach Umkleidekabinen. Die drei DarstellerInnen Olja Artes, Alina Rohde und Alessandro Grossi beginnen ihr Stück mit einer kleinen Gesangs- und Tanzeinlage, bevor sie mit einem chorisch vorgetragenen Märchen schon zum Thema des Abends überleiten: Während sie ihre Köpfe aus den Umkleidekabinen herausstrecken, berichten sie dem Publikum von einem armen, hungrigen Mädchen, das einen Topf geschenkt bekommt, der süßen Brei kocht, sobald sie „Töpfchen, koche“ sagt. Die Szene wirkt absurd, denn die ProtagonistInnen selbst tragen glänzende, scheinbar neue Kleidung. Eine von ihnen steht in einem Haufen Textilien, während sie von dem bedürftigen Mädchen erzählt. Ein Konflikt, der sich durch das gesamte Stück zieht, in dem Überfluss und Armut immer wieder miteinander kontrastiert werden. Gewissensbisse beim Einkauf bei H&M werden ebenso ausgeleuchtet wie der Drang, Dinge besitzen zu wollen. Das Stück folgt dabei keinem stringenten Handlungsverlauf. Stattdessen schlüpfen die DarstellerInnen, die im Kollektiv auch die Regie geführt haben, in verschiedene Rollen und tauchen immer wieder in neue Szenen ein.

Die drei erzählen von dem „Gefühl, wenn du an der Kasse stehst und weißt: Das wird bald mir gehören.“ Dabei greifen sie bekannte Bilder aus der Konsumwelt auf und zitieren beispielsweise die Zalando-Werbung, in der einer jungen Frau beim Erhalt ihres Pakets ein lauter Freudenschrei entfährt („Schrei vor Glück!“). Als sei die Botschaft noch nicht klar genug, wird wenig später eine Kleiderstange voll riesiger Papiertüten auf die Bühne gerollt. Diese werden einer der Darstellerinnen angereicht, die sie gierig entgegennimmt. Die letzte Tüte wird ihr schließlich über den Kopf gestülpt und sie versinkt in einer der Umkleiden. Diese plakativen, überdrehten Passagen lassen häufig kaum Empathie gegenüber den Figuren zu und bestimmen einen etwas zu großen Teil des Stückes. Doch humoristische Szenen lockern das Spiel immer wieder auf. Einer der gelungensten Momente ist die Erzählung einer jungen Frau über die Haushaltsauflösung ihrer Großeltern: Ihre Familie habe nichts wegwerfen wollen. An allem hängen Erinnerungen. Es kommt zu einem lustigen Streit über den Gulaschtopf der Oma, den sowohl die Tante als auch die Mutter des Mädchens an sich nehmen wollen. Der Zweifel der jungen Frau über den Wert eines Gulaschtopfes, wenn man doch einen Induktionsherd habe, wird ignoriert. Neben eingelegten Gurken aus dem letzten Jahrhundert und Nokia-Ladegeräten aller Nokia-Handys, die die Familie jemals besaß, wird auch die HJ-Uniform des Großvaters aufbewahrt. Diese Gegenstände gehen nun für immer „von Keller zu Keller zu Keller.“ Hier befreit sich das Ensemble von den überspitzten Bebilderungen der vorangegangenen Szenen und erzählt unaufgeregt und humorvoll von einer Familienepisode, in der sich wohl viele im Publikum selbst wiedergefunden haben.

Alina Rohde vom kollektiv.plakativ © Ingo Solms

Auch die Folgen des entfesselten Konsums werden thematisiert und was es mit einem macht, dieses Gefühl, immer noch mehr zu wollen. Zwei Frauen sitzen mit dem Rücken an die Wände ihrer Kabinen gelehnt. Sie sprechen darüber, dass ihnen normaler Sex nicht mehr genug ist. Sie müssen sich Pornoszenen vorstellen, um zu genießen. „Ich bin abgestumpft, ich kann nicht mehr ohne Pornos oder Genitalien direkt vor meinem Gesicht.“ Eine andere junge Frau hat Geld von ihrer Großmutter bekommen, um sich ein neues Kleid zu kaufen. Sie probiert etwas bei H&M an. Die Kleidung dort passe ihr so gut. Doch sie zwingt sich, über ihr Konsumverhalten nachzudenken. In einer eindrucksvollen Szene ziehen sich die drei DarstellerInnen glitzernde Kleidungsstücke unentschieden und hektisch an und wieder aus. Anschließend berichten Olja Artes und Alina Rohde von eingestürzten Textilfabriken und einem Arbeiter, der sich aus Verzweiflung selbst angezündet hat, weil er unter den Arbeitsbedingungen nicht mehr leben wollte. Alessandro Grossi zuckt überzeugend zu den imaginären Flammen um ihn herum.

„ALL I NEED“ verliert sich teils in zu plakativen Bildern und in bekannten Problemen rund um das Thema Konsum. An Stärke gewinnt der Abend immer dann, wenn das Kollektiv überraschende Zusammenhänge herstellt oder persönlichere Geschichten erzählt. Einige Szenen können auch durchaus mit Witz und Kreativität überzeugen und geben spannende bildliche Impulse. Thematisch ist das Stück jedoch vor allem für Menschen interessant, die sich im Alltag bisher weniger mit ihrem eigenen Konsumverhalten auseinandersetzen. Wer dies bereits tut, wird viel Bekanntes hören und sehen, zumindest aber ein paar eindrucksvolle Szenen mitnehmen.

Fotos: © Ingo Solms

Die Redaktion empfiehlt passend zu diesem Artikel:

Hier findet ihr aktuelle Spieltermine von „ALL I NEED“ in der studiobühneköln
Hier findet ihr Spieltermine und weitere Informationen zum west-off-Festival 2019