Stellwerk Magazin

POETICA 6 Zur Verdichtung

Vorwort

„Widerstand. The Art of Resistance“ lautet das Thema der diesjährigen Poetica, dem Festival für Weltliteratur, das vom 20. bis 25. Januar 2020 zum sechsten Mal in Köln stattfindet. Dafür hat der deutsche Schriftsteller Jan Wagner Autorinnen und Autoren aus drei Kontinenten und zehn Ländern zu öffentlichen Lesungen, Diskussionen und Performances eingeladen. Zu Gast sind Tadeusz Dąbrowski aus Polen, Erik Lindner aus den Niederlanden, Luljeta Lleshanaku aus Albanien, Agi Mishol aus Israel, Helen Mort aus England, Herta Müller aus Deutschland, Sergio Raimondi aus Argentinien, Xi Chuan aus China und Serhij Zhadan aus der Ukraine. Das Festival, das an verschiedenen Orten in Köln stattfindet, wird veranstaltet vom internationalen Kolleg Morphomata und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Poetica VeranstalterInnen Die VeranstalterInnen der Poetica 6 (v.l.n.r.): Jan Wagner, Günter Blamberger und Marta Dopieralski © Klaus Fritsche

Die Konserve. Welches Wunderwerk der Haltbarmachung, an deren Optimierung die Menschen seit Jahrhunderten so bestrebt sind. Durch Luftentzug, Verdichtung oder Erhitzen wird konserviert und aufbewahrt, was in Zukunft nähren soll. Einmal hermetisch verschlossen, bleibt das Innere widerständig gegen die Angriffe der Zeit: Aus der Haltung des Haltbarmachens entsteht der Gegenstand des Widerstands – beständig gegen alles, was nicht in der Zeit verläuft. So sind Konserven denn auch wichtiger Bestandteil aller Unternehmungen über weite Distanzen. Keine große Schiffsreise ist ohne sie denkbar. Die Schiffsreise wiederum ist mitunter gängigste Metapher für alle riskanten Unternehmungen, untermalt Aufbrüche ins Unbekannte, bei denen die Vorstellung der sicheren Einfahrt in einen Hafen die begleitende Ungewissheit bleibt. Die zentrale Rolle der Konserven wird deutlich durch die vielen historischen Niederlagen, bei denen fehlerhaft konservierte Vorräte ganze Expeditionen ins wortwörtliche Verderben geführt haben. Das Geschmackserlebnis als Methode der Erinnerung ist spätestens seit Proust in aller Munde. Die aufgemachte Konserve ist jedoch mehr als nur eine Botschaft aus der Vergangenheit; die Haltbarmachung greift dem vor, was zukünftig goutierbar sein soll, ein Stand hinein ins Futur. Selbstverständlich trägt die Dose der sonnengereiften Tomaten konzentriert die Hitze des letzten Sommers in sich und doch entfalten die freigesetzten Aromen vor allem auch Projektionen eines kommenden Sommers. Ihre flüchtigen Reize, die an die Sinneszellen dringen, schenken die Möglichkeit von Zukunft, sind Nach- und Vorgeschmack zugleich. So ist es mit der Sprache der Konserve, in der die Zeit des Geschmacks vermittelt ist, und so gilt es auch bei der Sprache als Konserve, die man Literatur nennt und, so lehrt es die Kulinaristik des Schreibens, deren Konzentrat das Gedicht ist. Es trägt sein dokumentarisches Element versiegelt in sich und gehorcht keinem Verfallsdatum. Geöffnet setzt es so Vergangenheit und Zukunft in Verhältnis. Die süßen oder bitteren Aromen reagieren mit der Gegenwart, werden als utopische oder dystopische Momente erfahrbar. Ihr Konsum kann aus der rezeptiven Haltung eine produktive werden lassen, kann Empathie lehren, kann andere Perspektiven ermöglichen. Man wünscht sich, die Menschen würden sich öfter einen Band von Celan aufmachen, um sich stets in Erinnerung zu rufen, dass der bittere Nachgeschmack der Schwarzen Milch niemals wieder zu einem Vorgeschmack werden darf. Soviel zu hermetischer Dichtung. Entsprechend ist das literarische Archiv stets eine Gedächtnisinstitution, eine Speisekammer, in der aufbewahrt und erhalten wird. Gefüllt und umsorgt will sie sein, denn so schützt sie womöglich die Gesellschaft ihrerseits vor Fermentation. Anstatt der erhoffte sichere Hafen zu sein, ist Europa gegenwärtig eher selbst als Schiff vorstellbar, das in unruhigem Fahrwasser laviert und ins Wanken gebracht wird. Für uns sind und werden diese Konserven überlebenswichtig sein, um auf dieser Reise mit ausgesprochen ungewissen Zukunftsperspektiven vom rechten Kurs abzukommen und unsere Durchlässigkeit zu bewahren. Was konserviert die Konserve, wenn nicht letztlich den Geschmack selber: unbestimmt, suchend, offen für Erfüllung. Anstatt dicht zu machen an den Grenzen des Miteinanders, lasst daher ver-dichten was geht – füllt die Speisekammern und auf zu neuen Ufern!

Auszug aus der Publikation zur Poetica 6 „Widerstand. The Art of Resistance“ Jan Wagner, Günter Blamberger, Marta Dopieralski (Hg.). konkursbuch Verlag, 2019.

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