Stellwerk Magazin

POETICA 6 Sergio Raimondi

Vorwort

Wenn sich die Welt verändert, kann die Kunst nicht stehenbleiben. Wenn sich die Welt vernetzt, muss diese Vernetzung ihren Niederschlag im Schreiben finden. Sergio Raimondi will sich nicht zufrieden geben mit der Erschaffung poetischer Traumwelten. In seinen Gedichtbänden „Zivilpoesie“ und „Für ein kommentiertes Wörterbuch“ wagt er den Sprung über die Kluft zwischen Lyrik und Politik.

Sergio Raimondi © Timo Berger

„Man muss einigermaßen verwegen sein, um eine Kunst zu fordern, die sich dem Kapitalismus gewachsen zeigt. Wie, angesichts dieses Anspruchs, ungerührt bleiben?“1https://www.deutschlandfunkkultur.de/sergio-raimondis-politische-poesie-globalisierungskritik-in.974.de.html?dram:article_id=452050 Raimondis „Berliner Rede zur Poesie“ war eine Aufforderung an die Welt der Lyrik, nicht das Exil vor der Politik zu suchen – dessen Existenz der Autor ohnehin zumindest bezweifeln dürfte. Die Poesie ist für den argentinischen Schriftsteller und Literaturdozenten an der Universidad Nacional del Sur ein Werkzeug des Widerstands in einer industrialisierten und globalisierten Welt. Er fordert Interdisziplinarität, die Ausweitung des Blicks, die Abkehr von der Selbstreferenz. Er fordert Bibliotheken, in denen die Gedichtbände nicht abseits der Sachbücher, der Romane, der grundlegenden Werke von Philosophie, Geschichte oder Ökonomie stehen – und auch für Familienfotos, eine Muschelsammlung oder eine japanische Winkekatze solle dort Platz sein. Er fordert Poesie-Abteilungen in öffentlichen Institutionen. Er fordert auf, mit den Strukturen der Produktionsprozesse als Strukturen der Lyrik zu experimentieren.

Der Hafen: Fortschritt, nicht Heimat

Raimondi lebt in Bahía Blanca, einer Stadt, die durch ihren Hafen zu einem Wirtschaftszentrum für Petrochemie wurde. Der Hafen bildet als Symbol des fortschreitenden Kapitalismus ein immer wiederkehrendes Thema in seinem Werk. So auch im 2001 publizierten Gedichtband „Zivilpoesie“, der als eines der bedeutendsten zeitgenössischen Werke der argentinischen Literatur gilt. Darin verflechten sich verschiedenste Diskursstränge zu einem Ganzen, das die Undurchschaubarkeit der globalisierten Welt gleichzeitig spiegelt und kritisiert. Die Inhalte reichen von Politik und Wirtschaft über soziale Fragen, Kultur und Geschichte. Diese unüberschaubaren Themenkomplexe werden immer wieder in minutiösen, alltäglichen Detailbeobachtungen zusammengeführt. Raimondi hält sich dabei an keinerlei Formen: Er kombiniert Gesetzestexte mit Schriftzügen auf Containern, benennt Jahre, Gewicht, Größen, Tankladungen, Anteile am Aktienmarkt in Zahlen, verwendet Fachvokabular und schenkt auch den Prozessen hinter den Prozessen Aufmerksamkeit. Der Hafen ist dabei kein Ort der Ästhetik oder Romantik; Raimondi benutzt ihn nur beispielhaft: Er ist ein Knotenpunkt, an dem unzählige Diskurse zusammenlaufen.

Die Welt im Schleppnetz

Was ist das Meer? fragt Raimondi und gibt sich selbst die Antwort: Es ist das Netz, das die Wirtschaft durch den Fischfang in den Wassermassen ausbreitet. Er verknüpft Fangtechniken mit den Maßen der Schiffe und den auf ihnen herrschenden Arbeitsbedingungen, mit Fischbeständen und der europäischen Wirtschaftspolitik. So zeigt er die Verwobenheiten zwischen scheinbaren Gegensätzen auf – das Menschengemachte und das Natürliche, das Individuelle und das Kollektive, das Politische und das Private. Raimondis Lyrik wird durch ihren Rhythmus, die Schnelligkeit, mit der sie Informationen gibt und wieder fallen lässt, zum Spiegel der maßlosen Gefräßigkeit des Kapitalismus. Sie gönnt den Lesenden nur Ruhe, wenn das Licht auf diejenigen fällt, die nicht Teil des Systems sind: Ein schlafender Arbeiter, ein Mann, der zuhause Krabben pult, oder eine Grille, die sich dem Gesang verweigert.

Neben den Veranstaltungen mit allen AutorInnen der Poetica 6 am 20., 21., 23. und 25. Januar, ist Sergio Raimondi während der Festivalwoche bei der Veranstaltung „Widerstehen und Abwarten“ am 23. Januar ab 19.30 Uhr in der Zentralbibliothek der Stadtbibliothek Köln zu erleben (Eintritt 8/10 EUR). Karten an der Abendkasse.

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