Stellwerk Magazin

POETICA 6 Ertrunkene Akkordeons und gelbe Birnen – ein Abend mit Herta Müller

Vorwort

Der zweite Abend der Poetica 6: Inmitten des Chors der Kulturkirche Nippes, umgeben von gebannten ZuhörerInnen, liest die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller aus ihrem Werk „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ (2014), stellt sich tragikomischen Erinnerungen aus ihrer Kindheit und gewährt Einblicke in ihre ungewöhnliche Sucht: Das Gestalten von Collagen. Mit dem Moderator des Abends, ihrem langjährigen Freund Ernest Wichner, spricht sie dabei ganz unbefangen und vertraut. So, wie sie es wohl an vielen anderen Abenden „schon öfter gemacht haben.“

Herta Müller © Ben Knabe

Inmitten des Chors der Kulturkirche prangt an diesem Dienstagabend eine riesige Leinwand mit dem Logo des Festivals für Weltliteratur in Köln, das nun schon zum sechsten Mal stattfindet: Poetica. Der Raum ist getränkt in rotes, blaues und grünes Licht. „Es wird kuschelig“, schallt es gegen viertel vor acht aus den Lautsprechern. Das wird es? Das ist es. Die Kirchenbänke des Mittelschiffs sind prall gefüllt. Trotz eingeschränkter Sicht auf die Bühne, tummeln sich die Gäste sogar auf den Plätzen der angrenzenden Seitenschiffe. Vor dem Altarraum wird gleich der Gast des heutigen Abends sitzen, lesen und erzählen: Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller.

Schließlich betritt Jan Wagner die Bühne – der Kurator der diesjährigen Poetica 6. Er begrüßt das Publikum, gibt einen kurzen Ausblick auf den Abend und verschwindet schnell wieder aus dem Scheinwerferlicht. Denn – und das stellt er besonders zufrieden fest – er werde heute nur zuhören und genießen.

„Eine Viertelstunde erst einmal“

Dann erscheint Herta Müller auf der Bühne, an ihrer Seite der Moderator der Veranstaltung und zugleich langjähriger Freund, Ernest Wichner. Sie nehmen Platz und nach ein paar einführenden Worten bittet der Lyriker Herta Müller auch schon, aus ihrem Buch „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ (2014) vorzulesen – „eine Viertelstunde erst einmal“, obwohl er ihr eigentlich den ganzen Tag zuhören könne. Mit leichtem Akzent, ruhiger und klangvoller Stimme hangelt sich die Autorin an Erinnerungen aus ihrer Kindheit in Rumänien entlang, wo sie als Kind Banater Schwaben – ebenso wie Wichner – in einer deutschsprachigen Minderheit aufwuchs. Sie liest über Hügel, Erde, Pflanzen und Kühe. Über die Natur und über das Tal. Sie wirkt zunächst unnahbar, wie sie dort oben auf der Bühne sitzt. Mit dunklem Kurzhaarschnitt, strengem Scheitel und roten Lippen. Doch je weiter sie in ihrem Werk voranschreitet, desto mehr gibt sie eine traurige, ja verletzliche Seite von sich preis. Beim Vorlesen erschafft sie in den Köpfen der ZuhörerInnen das Bild eines Mädchens, das in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, sich sehr einsam fühlt und unter den politischen Bedingungen während der Ceauşescu-Regierung leidet.

„Wenn nichts funktioniert, dann kann ich immer noch Kühe melken.“

Nach einer Viertelstunde schlägt sie das Buch zu. Wichner dreht sich zu ihr und fragt ganz unbefangen: „Sag mal, wie war das mit dem Arbeiten in deiner Kindheit?“ Das musste sie schon immer, ihr Leben lang. Ab wann? Das wisse sie nicht genau, „von Anfang an“ eben. Fensterputzen, Fliesen säubern, Staubwischen und besonders: Kühe melken – das könne sie noch heute, das verlerne man nie. „Wenn nichts funktioniert, dann kann ich immer noch Kühe melken“, habe sie sich immer gedacht. Sie hat den Literaturnobelpreis gewonnen, es hat also doch etwas funktioniert.

„Prügel krieg’ ich sowieso“

Lauscht man den Anekdoten aus ihrer Kindheit, scheint es gar so, als sei Herta Müller ein braves Kind gewesen. Ganz und gar nicht widerständig. Doch dann erzählt sie vom Akkordeonunterricht, den sie bekam, obwohl sie weder Lust noch Talent dazu hatte. Davon, wie sie das Akkordeon im Dorfbrunnen versenkte, um mit dem Unterricht aufhören zu können. „Prügel krieg’ ich sowieso“, dachte sie sich damals, als sie das Akkordeon ertrinken ließ. „Man wurde immer verprügelt, egal, was man getan hat“, sagt Müller und richtet ihren Blick bei diesen harten Worten direkt ins Publikum. Am heutigen Abend versieht sie all die traurigen Rückblicke in ihre Kindheit mit einer Prise Humor. So sorgt zum Beispiel auch die Anekdote, in der Müller erzählt, dass ihre Mutter beim Haare Kämmen so oft weinte, dass der Scheitel ihrer Tochter dadurch ständig schief wurde, für einige Lacher im Publikum.

Müller präsentiert ihre Collagen Herta Müller im Gespräch über die Arbeit an ihren Collagen © Ben Knabe

„Die Birne ist gelb, weil sie gelb ist“

Nach gut einer Stunde, gefüllt mit Anekdoten und Erinnerungen, wird die Autorin von ihrem Sitznachbarn daran erinnert, dass es nun an der Zeit ist über ihre Collagen aus dem Band „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ (2019) zu reden. Das Wörtchen „Poetica“, das bis zu diesem Zeitpunkt noch auf der Leinwand aufleuchtete, weicht nun einer Ansammlung bunter Wörter auf einem weißen Blatt Papier. Ordentlich nebeneinander gereiht, mal groß-, mal kleingeschrieben, arrangiert mit einem passenden Bild. Müller liest dem Publikum die Collagen, bestehend aus einzelnen Wörtern, die sich zu Sätzen formieren, langsam und bedacht vor. Eine nach der anderen. Auf Wichners Frage, wie sie damals zu diesem „Handwerk“ gekommen sei, antwortet Müller – wie so oft an diesem Abend – kurz und vergnügt: „Es hat sich so ergeben.“ Angefangen habe alles damit, dass ihr die Ansichtskarten nicht gefielen, die sie an Freunde habe schicken wollen, als sie aus Rumänien nach Deutschland kam. „Ich mach’s mir selbst“, dachte sie sich damals und fing an, aus Zeitungen verschiedene Bilder und Wörter auszuschneiden. Die Papierschnipsel füllen heute bei ihr zu Hause ganze Schubladen und bilden das Ausgangsmaterial für die poetischen Konstellationen. Schon am Frühstückstisch zückt sie die Schere und sucht nach passenden Worten. „Es macht besessen“, gesteht sie. Sie mache sich dabei nicht nur auf die Suche nach Wörtern, sondern auch nach passenden Bildern. Diese müssen besonders früh gefunden werden, damit das Gesamtbild auch schön aussieht. Die letzte der Collagen, über die die Autorin heute Abend sprechen wird, ziert das Bild einer Birne, daneben abgebildet ein Gesicht. Birne und Gesicht gelb. Die Farbe wiederholt sich auch in einigen Wörtern dieser Collage. Ob sie das Gesicht nachträglich angemalt habe, fragt Wichner die Nobelpreisträgerin. Sie bejaht. „Und die Birne?“, hakt er nach. „Die Birne ist gelb, weil sie gelb ist“, gibt Herta Müller amüsiert zurück.

Headerbild: © Ben Knabe

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