Stellwerk Magazin

POETICA 6 Poetry makes nothing happen?

Vorwort

Strahlend blauer Himmel begrüßt die BesucherInnen zum Auftakt der zweiten Veranstaltung der diesjährigen Poetica. Das wohlige Gefühl des klaren, sonnigen Wintertages überträgt sich noch bis in die Aula der Kunsthochschule für Medien in Köln. Vor Beginn der Diskussionsrunde steht Kurator Jan Wagner mit dem argentinischen Dichter Sergio Raimondi und dessen chinesischen Kollegen Xi Chuan beisammen; stellenweise erfüllt ihr ausgelassenes Lachen den Raum. Auch die anderen AutorInnen, mit denen Wagner und Morphomata-Direktor Günter Blamberger gleich unter dem Titel „Poetry makes nothing happen“ diskutieren werden, wirken entspannt und einander zugewandt: Agi Mishol, Tadeusz Dąbrowski, Serhij Zhadan und Luljeta Lleshanaku.

Günter Blamberger, Agi Mishol und Luljeta Lleshanaku v.l.n.r.: Günter Blamberger, Agi Mishol und Luljeta Lleshanaku © Ben Knabe

Sollte Lyrik auf aktuelle politische Geschehnisse eingehen und kann damit überhaupt etwas bewirkt werden? Mit dieser Frage leitet Kurator Jan Wagner die Diskussionsrunde ein. Als erste Rednerin ergreift Agi Mishol enthusiastisch das Wort und schlägt zunächst eine ganz andere Lesart des berühmten Zitats von W. H. Auden („Poetry makes nothing happen“) vor: Dichter sehen das, was jeder sieht, aber auf ganz andere Weise. Aus etwas, das scheinbar nichts ist, können sie etwas machen. Das Nichts kann bei ihnen stattfinden. Ergo: „poetry can make nothing happen.“ Dieses Vermögen der Poesie, etwas zu erschaffen, könne jedoch auch problematisch werden, wenn es in die falschen Hände geriete. Ihr Gedanke ist verständlich: Gerade weil Poesie einen breiten Interpretationsspielraum bereitstellt, erscheint sie im Dienst der Politik so gefährlich. Vor derartigem Missbrauch von Kunst warnt auch der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan. In der Ukraine wurde durch die Sprache schon immer politisch Position bezogen, führt er aus. Die ukrainische Gesellschaft sei durch den andauernden Konflikt mit Russland stark aufgeladen, die Rhetorik entsprechend scharf. Beide AutorInnen sind sich einig, dass die Lyrik im Dienst der Kunst, nicht der Politik zu stehen habe.

„Another end of the world is possible“

Im Gespräch mit dem chinesischen Dichter Xi Chuan wird – zum Ende hin – auch dessen Haltung deutlich. In seinem ausführlichen Beitrag erklärt er zunächst, dass, wenn in China von Lyrik gesprochen werde, immer die Gedichte der Tang-Dynastie gemeint seien; er geht auf die chinesische Jugend ein, die nur noch kurze Gedichte auf ihren Smartphones lese und landet schließlich bei den Intellektuellen Hong Kongs und deren Fokussierung auf das Lokale. Die Ausführungen des sympathischen und in sich ruhenden Autors erinnern an seine multiperspektivischen Werke – ausschweifende gedankliche Freiheit. Deutlich legt er wiederum offen, dass er durchaus Möglichkeiten sehe, politische Lyrik zu erschaffen. Den Anspruch an sich selbst formuliert er präzise: „I live in China, I need to look for possibilities.“ Auch Sergio Raimondi glaubt an gesellschaftliche und politische Veränderungen durch Kunst. Er spricht über die lebendige Tradition politischer Lyrik in Lateinamerika und erzählt von einem Graffiti, das er in den Straßen von Santiago de Chile gesehen hat: „Otro fin del mundo es posible“ – „Another end of the world is possible.“ Das Zitat verspreche eben nicht eine neue Welt, sondern ein alternatives Ende dieser Welt. „I think that’s the horizon we have now for political poetry in latin america.“

„The role of art as therapy“

Serhij Zhadan und die albanische Dichterin Luljeta Lleshanaku sprechen der Lyrik wiederum therapeutische Kraft zu. „I don’t think that art can make the world better, but I believe in the role of art as therapy.“ Lleshanakus regimekritische Haltung gegen die in Albanien bis 1990 herrschende kommunistische Diktatur und die daraus resultierenden Repressionen spielen eine signifikante Rolle in ihrem Schreiben. Wieso sollte jemand ihre Gedichte lesen, fragt sie. Es gehe darum, in den Worten Trost zu finden. „[It] makes us not feeling alone in this world.“ Kunst als eine Therapie also für AutoInnen und LeserInnen? Mitbegründer der Poetica Günter Blamberger gibt zu bedenken, dass dies auch scheitern kann. Er erinnert an AutorInnen, die sich vor ihrer Verzweiflung nicht immer retten konnten. Eine bedrückte Stimmung macht sich beim Verklingen seiner ruhigen Worte in der lichtdurchfluteten Aula bemerkbar.

„Poetry shouldn’t try to change the world“

Nach gut einer Stunde Gesprächszeit bittet Jan Wagner, der die Moderationsaufgabe des Panels bisher elegant gemeistert hat, den polnischen Autor Tadeusz Dąbrowski seine Haltung mit den ZuhörerInnen zu teilen. Lyrik solle nichts mit politischem Denken zu tun haben, so Dąbrowski. Politik beschäftige sich mit der Frage, wie Wörter noch besser überzeugen können, aber „poets are to ask questions […] and to say in a beautiful way ‚yes‘ and ‚no‘ at the same time.“ Eine klare Haltung gegen das Zusammenführen der beiden Bereiche also: „I really believe that poetry shouldn’t try to change the world.“ Mit seiner prägnanten Antwort gelingt es ihm, dem Gespräch noch einmal Schwung zu verleihen. Bis zum Schluss diskutieren die AutorInnen über ihr definitorisches Verständnis von politischer Dichtung. Und obwohl sich das erste Mal in dieser Runde ein lebendiger Schlagabtausch anbahnt, muss Jan Wagner nach fast zwei Stunden Dialog intervenieren. Eine anregende und aufreibende Diskussion über Widerstand und Lyrik geht zu Ende. Aber es liegen ja noch einige Tage vor uns.

Headerbild: © Ben Knabe

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