Stellwerk Magazin

POETICA 6 Poetischer Ausklang

Vorwort

Samstagabend. Die große Abschlussveranstaltung der Poetica findet in der Interimsspielstätte des Schauspiel Köln in Mülheim statt. Rechtsrheinisch. Ob die Literaturbegeisterten heute Abend den weiten Weg auf sich nehmen werden? Sie tun es. Um viertel vor acht ist das Foyer bereits voll. Die Weite der Halle trägt die Geräusche in die Luft und lässt sie über den Köpfen schweben – eine Mischung aus Unterhaltungen, Lachen und anstoßenden Gläsern lässt schon jetzt die Vorfreude aller Anwesenden erahnen.

Philipp Pleßmann © Silviu Guiman Philipp Pleßmann © Silviu Guiman

Punkt 20 Uhr und die Rücken der ZuschauerInnen drücken sich in die schweren roten Sessel der Tribüne des Depot 2. Auf der Bühne zu sehen sind bisher nur drei Standmikrofone vor einem über die Breite des Raumes gespannten Tuch. Der Vorhang lässt erahnen, dass sich dort gleich noch etwas verändern wird. Die Begrüßungsrede. Feierlich. Schauspieler und Regisseur des Abends Philipp Pleßmann betritt die Bühne. Vom Lichtkegel eines einzelnen Scheinwerfers angestrahlt, liest er einen Text von Herta Müller. „Ich weiß nicht, ob ich einsam war, weil ich das Wort nicht kannte.“1Herta Müller: Ein Ausweg nach innen. In: Jan Wagner, Günter Blamberger und Marta Dopieralski (Hrsg.): poetica6. Widerstand. The Art of Resistance. konkursbuch Verlag 2020, S. 68. Es sind Ausschnitte aus ihrer Eröffnungsrede der Ruhrtriennale von 2017. Die Sätze sind tiefgründig und fantasievoll – die genaue Beobachtungsgabe einer erfolgreichen Lyrikerin, zusammengeführt mit den Erinnerungen eines Kindes. „Weil ich das Wort ‚einsam‘ nicht kannte, kannte auch das Wort mich nicht.“2Ebd.

Lichtwechsel. Nun steht der Lyriker Xi Chuan vor einem der Mikrofone. Er trägt sein Gedicht im chinesischen Original vor; eine sinnliche Aneinanderreihung unbekannter Laute. Das Licht wechselt erneut und der Vorhang erscheint transparent, dahinter lassen sich drei Schauspielerinnen erahnen: Lola Klamroth, Katharina Schmalenberg und Kristin Steffen. Kaum zu sehen, sitzen sie wie Gefangene hinter dem Tuch. Gefangen von den Worten, die Xi Chuan ihnen in den Mund gelegt hat und die sie jetzt auf Deutsch vortragen: „ich dränge einen kragenbär in die ecke / er soll mich schlucken, in einem stück / er öffnet den schlund ein stück / röhrt ‚verschone mich!‘ / und ich schlage ihn tot / schlucke ihn runter / und darauf scheint der mond“3Xi Chuan: lied von der ecke. Aus dem Chinesischen von Lea Schneider. In: Jan Wagner, Günter Blamberger und Marta Dopieralski (Hrsg.): poetica6. Widerstand. The Art of Resistance. konkursbuch Verlag 2020, S. 68.. Wie selbst in die Ecke gedrängt erklingen die synchronen Stimmen hinter dem Vorhang, bis der Scheinwerfer wieder auf Pleßmann wechselt, der einen weiteren Textabschnitt aus Herta Müllers Rede liest. Sie selbst ist heute nicht anwesend. Stattdessen werden ihre poetischen Erinnerungen die Gedichte der anderen AutorInnen den Abend über umspielen.

Hinter Agi Mishol erstrahlt der Titel ihres Gedichts: „Der Olivenbaum“. Die hebräischen Laute rufen im Kopf Bilder von wachsenden Oliven auf, die Wind, Regen und Sonne widerstehen, bis sie in geheimer Rezeptur eingelegt werden, bevor man sie verkostet. Wenn man einer fremden Sprache lang genug zuhört, versteht man sie irgendwann einfach so? Auch ihrem Vortrag folgt eine Übersetzung, die deutlich werden lässt, dass Mishol den verpflanzten Olivenbaum bedauert. Wo sind die eigenen Wurzeln, wenn man einfach verpflanzt wird? Kann man Widerstand leisten, wenn man in einem Topf von A nach B gebracht wird?

Während Tadeusz Dąbrowski liest, färbt sich das Licht auf der Bühne rot. Seine ruhige Stimme erzählt im Polnischen vom Leben einer Ratte. „Ich bin eine von zehn / Millionen Ratten in dieser Stadt“ ist der Beginn des Gedichts, das Katharina Schmalenberg anschließend auf Deutsch interpretiert. Ihr Vortrag verleiht dem Text eine unglaubliche Präsenz, während sie den Vorhang beiseitezieht und den Blick auf eine zusammengewürfelte Szenerie aus Sitzmöbeln, Pflanzen, merkwürdigen Dekorationselementen und einer Treppe ins Nichts freigibt.

Serhij Zhadan trägt sein Gedicht „Verurteilt, aber nicht besiegt“ vor und scheint dabei angetrieben durch seine eigenen Worte. „Und was machst du, Reisender, / wenn du es auf die andere Seite geschafft hast? // Oh, da hab ich schon vorgesorgt.“ Lola Klamroth und Katharina Schmalenberg spielen die Übersetzung als Dialog. In Bleistiftrock und Pumps sitzen die beiden wie wartende Reisende auf der Bank einer U-Bahn-Station. „Alle betrogen? / Sogar mich? // Sogar dich, Tod, / Sogar dich.“4Serhij Zhadan: Verurteilt, aber nicht besiegt. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe und Esther Kinsky. In: Jan Wagner, Günter Blamberger und Marta Dopieralski (Hrsg.): poetica6. Widerstand. The Art of Resistance. konkursbuch Verlag 2020, S. 109., gibt Katharina Schmalenberg dem Tod zur Antwort; rauchend und im roten Trenchcoat.

Die nächste Texteinheit von Herta Müllers Rede ruft die Erinnerung an ihre Lesung in der Kulturkirche wach, wo sie am zweiten Abend der Poetica-Woche im Gespräch mit Ernest Wichner aus ihrer Kindheit erzählt hatte. Immer präsenter wirkt die Nobelpreisträgerin an diesem Abend. Diesmal drängen ihre Text-Abschnitte in die Zwischenräume des Vortrags von Erik Lindner, der an einem Tisch auf der Bühne Platz nimmt. Ihm schräg gegenüber sitzt Kristin Steffen. Lindner trägt auf Niederländisch sein Gedicht vor, verstummt und verschwindet im Dunkel während Pleßmann den Müller-Text weiterliest. Lichtwechsel zurück auf den Tisch, wo Dichter und Schauspielerin inzwischen die Plätze getauscht haben: er trägt sein Gedicht selbst auf Deutsch vor. Überraschungseffekt geglückt.

Luljeta Lleshanaku tritt vor das Mikrofon. „Du bist eine von uns“, liest sie auf Albanisch. Im Klang ihrer Stimme scheinen sich Schönheit und Aufmüpfigkeit zu verbinden und erst während der Übersetzung der drei Schauspielerinnen wird klar, dass die Nüchternheit des Textes durch dessen Bildsprache überboten wird. Es braucht einen Moment, um wieder zur Wirklichkeit zurückzufinden.

Dann tritt Helen Mort auf. Die britische Dichterin (*1985) ist die jüngste unter den diesjährigen Poetica-AutorInnen. In einem rot gepunkteten Kleid erzählt sie von „Other People’s Dreams“. Während sie spricht, klingen in ihrer Stimme Wehmut, Freude, Wut und Wünsche an. Alles, was Träume so zu bieten haben. Während ihr Text auf Deutsch vorgetragen wird, bleibt sie auf der Bühne; lauscht selbst anderer Leute Träume nach. Passend dazu wird im Anschluss ein Ausschnitt aus Herta Müllers Rede gewählt, in dem diese sich an die Ermahnung ihrer Großmutter erinnert: „Denk nicht dorthin, wo du nicht sollst.“5Herta Müller: Ein Ausweg nach innen. In: Jan Wagner, Günter Blamberger und Marta Dopieralski (Hrsg.): poetica6. Widerstand. The Art of Resistance. konkursbuch Verlag 2020, S. 76. Und Helen Mort? Ist das Beschreiben anderer Leute Träume schon Widerstand gegen diesen Ratschlag?

Kristin Steffen und Sergio Raimondi © Silviu Guiman Kristin Steffen und Sergio Raimondi © Silviu Guiman

Sergio Raimondi setzt sich an den Tisch, an dem eben noch Erik Lindner saß. Ihm schräg gegenüber Kristin Steffen ganz in Grau. „Qué es el mar“ – „Was ist das Meer“, Raimondi beginnt zu lesen. Der Raum wird erfüllt von seinem argentinischen Sprachgesang. Sein rollendes R rollt über einen hinweg wie die Wellen des Meeres selbst. Er reiht aneinander, was das Meer ausmacht: Gegenstände, Lebewesen, Wirtschaftswege, Naturgewalten. Immer weiter fährt Raimondi in seiner Aufzählung fort, irgendwann fällt Kristin Steffen ihm ins Wort; schließlich sind Übersetzung und Originaltext gleichzeitig zu hören. Poetisches Stimmengewirr.

Als letzter Autor des Abends erscheint der diesjährige Poetica-Kurator Jan Wagner auf der Bühne und erfreut das Publikum mit einem seiner klanglich verspielten und trotzdem tiefgründigen Gedichte: „[…] hinter der garage, / beim knirschenden kies, der kirsche: giersch / als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch // geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch / schier überall sprießt, im ganzen garten giersch / sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.“6Jan Wagner: giersch. In: Jan Wagner, Günter Blamberger und Marta Dopieralski (Hrsg.): poetica6. Widerstand. The Art of Resistance. konkursbuch Verlag 2020, S. 128. Zuerst erschienen in: Jan Wagner: Regentonnenvariationen, Carl Hanser Verlag 2014. Lesen Sie es laut. Bemerken Sie die Gänsehaut, die langsam an Ihnen hochkriecht? Spüren Sie dem nach und: freuen Sie sich auf die nächste Poetica!

Die Beteiligten beim Applaus © Silviu Guiman © Silviu Guiman

Headerbild: Tadeusz Dąbrowski und Katharina Schmalenberg © Silviu Guiman