Stellwerk Magazin

Lesung Anja Rützel liest Take That

Vorwort

Für SPIEGEL Online schreibt sie regelmäßig über alles, was sich unter dem Label „Trash-Kultur“ subsumieren lässt. In ihrem aktuellen Buch bekennt sie sich nun erstmals öffentlich zu ihrer großen Liebe: der Boyband Take That. Im Rahmen ihrer Lesereise hat Anja Rützel am 14. Februar auch im Kölner King Georg Halt gemacht.

„Anja Rützel über Take That“. KiWi Musikbibliothek, Band 2. Köln 2019. 10 Euro. „Anja Rützel über Take That“. KiWi Musikbibliothek, Band 2. Köln 2019. 10 Euro.

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„Es ist ganz schrecklich“, sind die ersten Worte, die ich an diesem Abend von Anja Rützel höre, während ich an der Bar stehe und sie sich – direkt an mir vorbei – ihren Weg durch das ausverkaufte King Georg bahnt, um sich mit Bekannten zu unterhalten. Herauszufinden, was ganz schrecklich ist, dauert dann auch gar nicht allzu lange: Es ist die Technik. Jeder Versuch, den Laptop mit dem Beamer zu verbinden, scheitert. Immer wenn man denkt, dass es nun endlich zu einer stabilen Verbindung gekommen ist, bricht diese doch wieder zusammen. Mehr und mehr Leute versammeln sich um den PC, jeder will sein Glück versuchen. Es ist dann der vierte Rechner – generös von einer Frau aus dem Publikum zur Verfügung gestellt – der es vermag eine stabile Verbindung zum Beamer aufzubauen und die PowerPoint-Präsentation samt Videodateien abzuspielen. Nach einer guten Stunde ist der Kampf mit der Technik also beendet und Rützel kann sich voll und ganz ihrer Lieblingsband widmen: Take That.

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Eigentlich, so erzählt Rützel, wollte Kiepenheuer & Witsch, dass sie für die KiWi Musikbibliothek über David Bowie schreibt, immerhin berichtet sie in einem ihrer früheren Bücher vom Besuch eines David-Bowie-Porträtmalkurses. Doch Bowie – das sei ihr viel zu banal; den mag ja sowieso jeder. Take That – das muss man wollen. Und Anja Rützel, das merkt man sofort, will. Bekleidet in Take-That-Bomberjacke und Take-That-Shirt beginnt sie damit, Vor- und Nachnamen der einzelnen Bandmitglieder im Publikum abzufragen. Während sie mit dem Ergebnis zufrieden ist – alle wurden genannt, keiner wurde ob geringer Einrufquote als Nischenthema abgetan –, machen sich meine Wissensdefizite bemerkbar: Ich kenne nur Robbie Williams. Rützel betont immer wieder, dass sie eigentlich zu alt für Take That sei und nur dank ihrer Schwester, die „auf dem Höhepunkt des größten Boybandhypes im absolut passenden Empfänglichkeitsalter“1Anja Rützel: Take That. Köln 2019, S. 27. war, die Band für sich entdeckt habe. Ich hingegen – das wird auch am Altersschnitt des Publikums deutlich – bin eigentlich zu jung, fallen doch mein Geburtsjahr und das Jahr der Auflösung von Take That zusammen. Ich erinnere mich also eher an einen von Alkohol- und Drogensucht gezeichneten Robbie Williams als an die „Pray“-Choreografie von 1993. Aber was Rützels Schwester Andrea für sie war, ist Rützel selbst nun für mich: Denn der Abend ist über seine Unterhaltsamkeit hinaus auch äußerst informativ, weshalb ich fortan über Tanzbewegungen wie den „Yoga-Jesus“2Rützel, Take That, S. 120. oder die „Solo-La-Ola“3Rützel, Take That, S. 6. fachsimpeln kann, als wäre ich schon 1993 dabei gewesen.

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Anja Rützel arbeitet sich nicht chronologisch durch die Bandgeschichte, sondern anhand der einzelnen Mitglieder. Neben Robbie Williams (der offiziell wieder Teil der Gruppe ist, aktuell jedoch pausiert) sind das Gary Barlow, Howard Donald und Mark Owen sowie Jason Orange (Rützels Favorit), der jedoch seit 2014 nicht mehr der Gruppe angehört. Rützel widmet sich jedem Mitglied einzeln und nimmt sie zum Anlass für Spekulationen, persönliche Anekdoten und engagierte Analysen. Auch wenn sie zu Beginn der Lesung betont, Take That nicht unter dem Deckmantel wissenschaftlichen Interesses toll zu finden, strotzen ihre Betrachtungen, besonders die der Musikvideos, vor analytisch scharfsinnigen Erkenntnissen. Immer wieder nimmt sie einzelne Gesten in den Blick, etwa Jasons angedeutete Elvishüfte im Video zu „Back for Good“ (bei Minute 1:29), oder die Stelle in „Do What You Like“, in der eine Frau Gary „mit einem Mini-Milk-Stieleis auf seiner nackten, bleichen Brust“4Rützel, Take That, S. 30. herumfährt. Rützel entkleidet diese Szenen ihres Kontexts und lässt erkennbar werden, dass Take That immer schon skurriler waren, als man gedacht hätte. Es ist genau diese Dynamik, von der der Abend lebt. Rützels regelrecht obsessives Eintauchen in den Take-That-Kosmos bringt immer wieder Momente ans Licht, die einen als Außenstehenden fortwährend überraschen und hin und wieder sicherlich auch die eingefleischten Fans. Neben der Skurrilität mancher Entdeckungen und Anekdoten ist vor allem die Art und Weise witzig, wie Rützel über die Themen spricht, respektive schreibt. Dabei macht sie sich jedoch nie über ihren Gegenstand lustig – sei es nun das Boyband-Phänomen Take That oder Trash-TV-Formate, über die sie regelmäßig für SPIEGEL Online schreibt. Vielmehr deckt sie durch ihre treffsicheren Beobachtungen auf, was am Ganzen ohnehin schon zum Lachen ist, und lässt das Publikum (und/oder die Leserschaft) daran teilhaben. Am Ende des Abends frage also auch ich mich ganz unironisch, ob Take That vielleicht doch ein wenig cooler waren und sind, als ich es bisher gedacht habe.

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Es ist mittlerweile Samstag. Anja Rützel lässt über Twitter wissen, dass sie sich „gestern Nacht gegen 4 in einer Kölner Spelunke vom DJ ‚irgendwas vom Wendler‘ gewünscht“5https://twitter.com/aruetzel/status/1228621841109069824 hat und mittlerweile verkatert „10 Liter Fanta auf DB ihren Nacken“6https://twitter.com/aruetzel/status/1228621841109069824 in der Comfort Lounge trinkt. Auch ich kämpfe mit einem leichten Kater und greife, um dem Siechtum zu entkommen, zu meinem gestern erworbenen Exemplar von Rützels Buch. Zwar dauerte die Lesung gute zwei Stunden, dennoch interessiert mich, welche der 148 Seiten sie am gestrigen Abend ausgelassen hat. So erfahre ich z.B. erst jetzt von dem Take That umgebenden Fanfiction-Sumpf, in dem Liebesbeziehungen zwischen den einzelnen Bandmitgliedern imaginiert werden und es zu Paarnamen from hell wie Barlliams, Barlowen oder Donage kommt. Während der Lektüre fällt mir aber vor allem eins auf: Rützel wirkte am Vorabend spontaner, als sie es tatsächlich war. Viele Anekdoten, die gestern wie frei eingestreut erschienen, sind genauso im Buch zu finden und auch die vorgetragenen Analysen der Videos müssen im Text zwar ohne PowerPoint-Präsentation auskommen, sind jedoch ebenfalls schon da. Doch ob Rützel nun schreibt wie sie spricht oder spricht wie sie schreibt, ist letztlich egal. Der Abend war äußerst unterhaltsam und ich habe seitdem zu häufig „Back for Good“ gehört.

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