Stellwerk Magazin

Miniaturen des Alltags*

Vorwort

„Miniaturen des Alltags” ist der Titel einer STELLWERK-Serie, in der unsere AutorInnen regelmäßig einen poetischen Blick auf Alltägliches und Abseitiges werfen. Jetzt, wo das Alltägliche bis auf Weiteres ausgesetzt scheint, gesellt sich also ein * hinzu und verweist auf das Postulat der Stunde: „*auf Distanz“.

Kraniche Falten

Es ist Mittag. Das Wetter ist warm und einige Sonnenstrahlen haben sich an diesem Tag auch in meine Wohnung verirrt. Mit schlurfenden Schlafanzugschritten, den Kaffee in der Hand, stolpere ich zur Couch und sinke hinein. Meine Schildkröte Schildi fixiert mich verurteilend. Was ist denn nun schon wieder?, denke ich genervt und versuche ihrem Blick noch einige Sekunden standzuhalten. Ich schaue weg. Sie gewinnt. Resigniert wandern meine Augen durch die Wohnung. Alles ist an seinem Platz, alles ist geordnet, gewischt, gesaugt und gewaschen, inklusive mir. Schon seit Isolationswoche zwei hat sich mein Tag nicht mehr in rationale Einheiten gegliedert. Stattdessen wird er tagsüber in Podcast-Folgen und abends in Netflix-Serien eingeteilt. Heute ist Mittwoch, also „Gemischtes Hack“-Tag mit Felix Lobrecht und Tommi Schmitt, abends geht es dann vielleicht mit einer Folge „Tiger King“ weiter. Beides keine Aktivitäten, die mich persönlich weiterbringen, finde ich. Der anfängliche Aktionismus, die Pläne und To-Do-Listen, haben sich auf einem Stapel in der Küche eingefunden und erinnern mich bei jeder Kaffeepause daran, was es noch Sinnvolles zu tun gäbe. Seufzend stelle ich die Tasse Filterkaffee auf dem Wohnzimmertisch ab, beuge mich nach links zum Regal und ziehe eine buntgefärbte quadratische Seite aus einem Stapel.

Zuerst falte das Papier in die Hälfte, öffne es und falte es in die entgegengesetzte Richtung nochmal in die Hälfte. Zwei Talfalten. (Wie wunderbar anschaulich Jahrhunderte alte Papierkunst doch ist.) Dann diagonal falten, in beide Richtungen. Die Bergkanten (na klar) greifen und zusammenlegen, sodass die diagonalen Eckfalten aufeinander liegen. Die Form ist nach unten hin geöffnet. Falte die Ecken zu kleinen Flügeln. Der obere Teil der Form wird zurück gefaltet.

Ich bin nicht gut in Origami und häufig zu ungeduldig, aber während ich der Anleitung folge ist weniger Platz für andere Gedanken, Sorgen und Ängste. Nicht nur meine Finger haben etwas zu tun, sondern auch mein Kopf – meistens zumindest.

Drehe das Papier um, öffne die Flügelchen und ziehe den oberen Teil nach oben, sodass eine große Raute entsteht.

Immerhin besser, als ständig zwischen denselben Social-Media-Kanälen umherzuwandern, die einem dann doch nur wieder mitteilen, man sei auf dem neusten Stand. Na vielen Dank, das schenk ich mir heute (als ob).

Drehe das Modell herum, und wiederhole die Faltung erneut, öffne die Flügelchen und ziehe es wieder nach oben. Die Vogelgrundform ist fertig.

Sollte ich dem Stapel in der Küche vielleicht noch einmal eine Chance geben? Ist sicherlich besser, als sich weitere Blickduelle mit Schildi zu liefern und dann auch noch zu verlieren.

Falte die unteren Flügelchen zur Mittelkante hin, wiederhole das Ganze auf der anderen Seite. Immer die Seiten glattstreichen. Falte die Füße nach oben und mache eine Gegenbruchfalte nach innen. Falte die Flügel des Kranichs nach unten und mach eine Gegenbruchfalte an einem der Hälse.

Triumphierend und gleichzeitig irgendwie enttäuscht stelle ich den fertigen Kranich vor mir ab und betrachte ihn. Ich atme tief ein und aus, nehme einen Schluck Kaffee, schaue zur Fensterbank, auf der sich die anderen Papiervögel eingefunden haben. Jeden Tag habe ich seit Mitte März einen gefaltet. Nun kann sich auch Nummer 47 dazugesellen. Mal sehen, wie viele es noch werden, denke ich mürrisch und beschließe, mich wenigstens mal aus meinem Schlafanzug zu schälen und anzuziehen.