Stellwerk Magazin

„Schreiben ist in dieser Gruppe nicht erlaubt“ – eine Chat-Lecture mit Leif Randt

Vorwort

Wie kann zeitgemäßer Austausch über Literatur stattfinden? Und wie lässt sich junge deutschsprachige Literatur innovativ vermitteln? Diesen und weiteren Fragen stellt sich die „Literaturshow NRW“, die seit 2016 von verschiedenen Literatur- und Kulturinstitutionen in NRW – darunter das Kölner Theater im Bauturm, das Literaturhaus Bonn und das Düsseldorfer Kulturzentrum zakk – zusammen mit dem Literaturvermittler Dorian Steinhoff realisiert wird. Die regelmäßigen Veranstaltungen versprechen eine Mischung aus Lesung und Late-Night-Show, die normalerweise in besonderen Locations stattfinden. In Zeiten von Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus konnten und mussten die MacherInnen nun erneut ihr Innovationspotenzial unter Beweis stellen. Man ergriff die Chance und startete ein bis dahin einzigartiges Experiment: eine virtuelle literarische Late-Night-Show. Vom 15. bis 17. Juni ging „Telegram-Pastell“ mit Moderator Dorian Steinhoff und Autor Leif Randt als ein innovatives Literaturformat auf die digitale Bühne – und wir waren live dabei.

Leif Randt © Zuzanna Kaluzna Leif Randt © Zuzanna Kaluzna

Pling – Der Benachrichtigungston für eine neu eingegangene Nachricht ertönt an meinem Laptop, ich öffne die Telegram-App und ein Angela Merkel-Meme poppt im Chatfenster auf. Es fühlt sich an, als würde man einen Chat mit Freunden lesen, doch eigentlich nehme ich gerade an einer Literaturveranstaltung teil. Spätestens beim Merkel-Meme wird jedoch klar: Das wird keine normale Lesung. Dass in einer Krise auch völlig Neues entstehen kann, bewiesen Dorian Steinhoff und Leif Randt mit ihrer eigenen Interpretation einer digitalen Lesung. „Telegram-Pastell“ wurde die virtuelle Veranstaltung betitelt, ausgetragen via Messengerdienst Telegram. In namentlicher Anlehnung an Randts Anfang März erschienenen Roman „Allegro Pastell“ (2020) lud die „Literaturshow NRW“ das Publikum zu einem gemeinsamen Experiment ein: „Eine Literaturveranstaltung, die Lesung und Late-Night-Show kurzschließt“ – und zwar komplett virtuell. Randt und Steinhoff boten den ZuschauerInnen an drei aufeinanderfolgenden Abenden mit ihrer „Chat-Lecture und Show in drei Phasen“ ein außergewöhnliches und bis dahin einzigartiges Unterhaltungsprogramm. Im Fokus der drei Veranstaltungsphasen stand ab jeweils 20.30 Uhr für eine gute Stunde der Autor Leif Randt (*1983). Noch bevor die erste Phase startete, gab es vom Chat-Inhaber Dorian Steinhoff eine kurze Einweisung inklusive Hinweis auf die Privatsphäre-Einstellungen des Messengerdienstes. Dann startete die Show.

PHASE EINS

Alle drei Phasen wurden mit demselben Ritual initiiert: Der Moderator wandte sich mit einem kurzen Videoclip an das virtuelle Publikum und erklärte am ersten Abend die Idee hinter der Veranstaltung: „Dies ist ein Experiment […]. Und wir wollen heute herausfinden, ob es möglich ist, dass Telegram ein Raum ist, in dem Literatur präsentiert werden kann und sogar darüber hinaus für das Erleben von Romanen etwas Neues entsteht.“ Wenig innovativ startete dann der Chat zwischen Randt und Steinhoff mit etwas Smalltalk. Noch war es schwer die Unterhaltung, die man mitlas, mit einer Literaturshow zu verknüpfen. Das einzige, was bis hierhin an eine klassische Lesung erinnerte, waren die vier vorab aufgenommene Leseclips des Autors, in denen er Auszüge aus seinem aktuellen Roman vorlas. Vor allem zum Ende der „Phase Eins“ entwickelte sich im Chat eine Eigendynamik, die in einer skurrilen Unterhaltung über Parfüms und den Starwars-Erfinder George Lucas mündete. Irgendwann fühlte es sich an, als würde man eine Privatunterhaltung zweier Freunde verfolgen. Das isolierte Lesen vor dem eigenen Bildschirm wurde plötzlich zu einem voyeuristischen Vorgang und so hinterließ der erste Abend ein eher befremdliches Gefühl.

PHASE ZWEI

Der zweite Abend wurde hauptsächlich durch ein Spiel bestimmt, das Dorian Steinhoff als „Bild-Text-Badminton“ ankündigte: Ein Schlagabtausch, bei dem laut Idee live neue Literatur geschaffen werden sollte. Leif Randt wurde der Aufschlag zuteil. Er stellte ein Bild von einem Flughafengepäckband mit Katzen darauf in den Chat und Dorian Steinhoff – selbst ebenfalls Autor – reagierte mit einem kurzen Text, wie es zu dieser Situation gekommen sein könnte. Nach diesem Schema spielten die beiden ein paar Runden. Neben dem Unterhaltungseffekt funktionierte dieser Einschub auch als spielerischer Einblick in die Literaturproduktion. Man bekam direkt zu lesen, was sich im Kopf der beiden Autoren beim Anblick der geteilten Bilder abspielte und wunderte sich nicht selten, wo diese oder jene Assoziation wohl herkam. In einer kurzen Manöverkritik zum ersten Abend hielten Randt und Steinhoff anschließend fest, dass die Erfahrung der digitalen Literaturshow für sie ebenso neu war, wie für das Publikum. „Ich war anfangs eher unzufrieden“, kommentierte Leif Randt. „Im Nachhinein fand ich es okay bis gut.“

PHASE DREI

Am letzten Abend startete die „Phase Neu“. Die ZuschauerInnen wurden vorab gebeten „Keimzellen für neue Prosa“ in den Chat zu stellen. Von einzelnen Sätzen, über Bilder, Figurennamen, bis hin zu potenziellen Prosa-Titeln war alles erlaubt. Diese vom Publikum eingepflanzten Keimzellen wurden dann von Leif Randt zu neuen kleinen Prosatexten herangezüchtet. Was die Interaktionsmöglichkeiten des Publikums anbelangte – das am letzten Abend immerhin über 290 TeilnehmerInnen umfasste –, waren diese auf eine Fragerunde und die besagten Prosa-Keimzellen begrenzt.

Während das Chat-Lecture-Experiment am ersten Abend noch von einem etwas holprigen Start, ungenauer zeitlicher Planung und dem zähfließenden Austausch der Textnachrichten geprägt war, lockerte sich das Geschehen immer weiter auf. Was man jedoch vergeblich suchte, war der angekündigte Show-Charakter, auch wenn die Chat-Lecture mit Leif Randt stellenweise gewollt oder ungewollt komisch war. Vor allem lange Passagen, in denen nur Sprachnachrichten – insgesamt immerhin stolze 95 an der Zahl – ausgetauscht wurden, zogen sich oft hin, was den Unterhaltungswert des Geschehens ein wenig minderte. Auch die sonst für eine Show so wichtige Interaktion mit dem Live-Publikum blieb etwas eingeschränkt: An allen drei Abenden wurde der Chat zwar für einen kurzen Zeitraum für alle Teilnehmenden geöffnet, aber nur wenige nahmen das Angebot wahr und gaben Rückmeldung oder bedankten sich für die gute Unterhaltung. Sobald die nächste Phase begann, las man in dem Feld, das für das Verfassen eigener Nachrichten zur Verfügung steht, wieder nur den Hinweis: „Schreiben ist in dieser Gruppe nicht erlaubt.“

Für Leif Randt und Dorian Steinhoff galt das Schreibverbot zum Glück nicht. Denn so eröffneten die beiden dem Literaturbetrieb eine völlig neue, spielerische Herangehensweise an das altbewährte Format der Lesung mit – ausbaufähigen – Show-Elementen im digitalen Raum. Ein Konzept, das zwar aus der Not heraus entstand, aber vielleicht schon längst überfällig war. Denn das Experiment der virtuellen Literaturshow könnte eigentlich nicht besser in unsere Zeit passen. Wir erleben so viele Dinge in der digitalen Welt, wieso also nicht auch eine Lesung via Messengerdienst?

Headerbild: © Literaturhaus Bonn

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