Stellwerk Magazin

Raus aus Happyland!

Vorwort

Der gewaltsame Tod des Afroamerikaners George Floyd in den USA löste weltweite Massenproteste aus. Die Welle der Empörung, maßgeblich artikuliert durch die Black-Lives-Matter-Bewegung, erfasste auch die Sozialen Medien. Immer lauter wurde auf allen Kanälen eingefordert, dass endlich Schluss sein muss mit Diskriminierungen und Gewalt und dass auch weiße Menschen deutlicher Position gegen Rassismus beziehen sollen. In der Flut an Informationen und Meinungsäußerungen tauchte in den deutschen Medien ein Name immer wieder auf: Tupoka Ogette. Die Autorin veröffentlichte schon 2017 ein Buch mit dem Titel „Exit Racism“, das es jetzt auf die Spiegel-Bestseller-Liste schaffte und mittlerweile zu einer Art Klassiker unter den Anti-Rassismus-Handbüchern geworden ist. Anfang April veröffentlichte Ogette nun eine Hörbuchversion, die sie auf allen gängigen Plattformen kostenlos zur Verfügung stellt. Wir haben uns auf dieses Hörbuch der etwas anderen Art eingelassen. Ein Reisebericht.

Ich bin in den letzten Tagen auf eine Reise gegangen, eine Reise raus aus Happyland. Diese war vielleicht nicht immer angenehm, aber dafür umso notwendiger. „Ich bin nicht rassistisch“ – diesen Satz würden die meisten von uns genau so sagen und meinen. Doch dieser Satz stimmt nicht so ganz. Denn tatsächlich tragen wir alle in Deutschland zu einem rassistischen System bei, in dem wir sozialisiert wurden. Doch Tupoka Ogette erklärt: Man kann lernen etwas dagegen zu tun und anfangen rassismuskritisch zu denken, auch wenn dies manchmal nur in kleinen Schritten erfolgt. Ogette ist Autorin, Aktivistin, Speakerin, Trainerin. Doch vor allem ist sie selbsterklärte Expertin für Antirassismus und rassismuskritisches Denken. In „Exit Racism“ nimmt sie die HörerInnen mit auf eine rassismuskritische Reise, bei der vor allem weiße1Wir orientieren uns im STELLWERK an den Formulierungshilfen der Neuen deutschen MedienmacherInnen für eine differenzierte und vielfältige Berichterstattung. Oft herrscht das Missverständnis, es ginge bei dem Begriff „weiß“ um die Hautfarbe von Menschen. Tatsächlich ist damit eine gesellschaftspolitische Norm und Machtposition gemeint in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft. Dabei müssen sich weiße Menschen nicht selbst als weiß oder privilegiert fühlen. Menschen mehr über die Strukturen von Rassismus lernen können. Und genau das hatte ich vor.

Das Hörbuch beginnt mit einem kurzen Disclaimer, in dem die Autorin selbst mich herzlich willkommen heißt. Sie duzt die HörerInnen, was direkt Distanz abbaut. So fühle ich mich von der Autorin an die Hand genommen und mit ihrer sanften, aber bestimmten Stimme im Ohr beginnen wir gemeinsam die rassismuskritische Reise in die Vergangenheit. Genauer gesagt an einen Sommertag Mitte der 80er Jahre, als die junge Tupoka ihre ersten Rassismuserfahrung machen musste. Das damals erst fünf Jahre alte Mädchen wird auf einem Spielplatz von einem Fremden mit dem N-Wort beschimpft. Diese Erinnerung teilt sie nun in all ihrer Härte mit mir und ich bin beeindruckt, wie reflektiert und sachlich die heute 40-jährige Frau mir das Thema Rassismus näherzubringen versucht, während diese Erfahrungen doch offensichtlich so persönliche und emotionale Aspekte ihres Privatlebens betreffen.

Über die Autorin: Tupoka Ogette wurde 1980 in Leipzig als Tochter eines Tansaniers und einer Deutschen geboren. Acht Jahre später trat sie mit ihrer Mutter die Flucht nach Westberlin an. Für ihr Studium der Afrikanistik und Deutsch als Fremdsprache zwischen 2001 und 2007 kehrte Ogette nach Leipzig zurück. Seit 2012 arbeitet Tupoka Ogette als freiberufliche Antirassismus-Trainerin und teilt die rassistischen Erfahrungen, die auch sie als Schwarze Frau mache musste. Heute lebt sie mit ihrem Mann und Co-Trainer Stephen Lawson und ihrer Familie in Berlin.

Das Hörbuch ist im weiteren Verlauf interaktiv gestaltet. Zum Ende einiger Kapitel wird man immer wieder auf weiterführende Materialien – vorwiegend Videos, die sich tiefgehender mit bestimmten Aspekten von Rassismus beschäftigen – auf der Website www.exitracism.de hingewiesen. Das ist vor allem hilfreich, um sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen und zeigt, wie gewissenhaft die Autorin ihre Hörerschaft an das Thema heranführen will. Die Hörbuchversion ist zudem ähnlich wie ein Seminar der Antirassismus-Trainerin aufgebaut. Neben der Perspektive der Schwarzen2Wir orientieren uns im STELLWERK an den Formulierungshilfen der Neuen deutschen MedienmacherInnen für eine differenzierte und vielfältige Berichterstattung. „Schwarz“ und „weiß“ sind politische Begriffe und beziehen sich nicht auf die Hautfarbe. Die Initiative „der braune mob e.V.“ schreibt: „Es geht nicht um ‚biologische‘ Eigenschaften, sondern gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten.“ Um das deutlich zu machen, plädieren sie und andere dafür „Schwarz“ groß zu schreiben. Autorin, erfahren die HörerInnen auch, was vier weiße ehemalige StudentInnen der Antirassismus-Trainerin erlebt und gefühlt haben, während sie sich selbst auf die rassismuskritische Reise begaben. Diese Gefühle und Beobachtungen hielten die Studierenden in Logbüchern fest. Die Einträge werden ausschnittsweise von verschiedenen SprecherInnen vorgelesen und sind überraschend ehrlich. Nicht nur ich bin zu Beginn skeptisch, irritiert, überrascht, traurig oder aufgewühlt, den Studierenden ging es genauso.

Die Kapitel des Hörbuchs sind in den „Input“ und den „interaktiven Teil“ unterteilt. Der Input füttert die HörerInnen mit geschichtlichen Hintergründen und sachlichen Erklärungen. Er bildet die Wissensbasis, um sich mit dem Thema Rassismus angemessen auseinanderzusetzen, denn „Wissen ist Macht“ und in diesem Fall die Macht zur Dekonstruktion rassistischer Strukturen. Hier muss ich mich konzentrieren, ich würde einige Begriffe oder historische Hintergründe am liebsten direkt nachschlagen, doch andererseits will ich auch einfach weiter zuhören, da die Infos trotz ihrer Sachlichkeit sehr spannend sind. Ich bin direkt gefesselt und staune auch etwas ungläubig über manche Fakten, von denen ich vorher noch nie etwas gehört habe. Der interaktive Teil des Hörbuchs umfasst hingegen unter anderem Tipps für den Umgang mit Rassismus im eigenen Alltag. So gelingt der Autorin eine abwechslungsreiche Mischung aus informativen Fakten und rassimuskritischen Ansätzen, die auch nachhaltig zum Nachdenken anregen.

Laut Ogette wird Alltagsrassismus in unserer Gesellschaft bewusst und unbewusst reproduziert. Sie macht darauf aufmerksam, „dass Schwarze Menschen und People of Color jeden Tag Rassismuserfahrungen machen […] und dass dieser Rassismus oft in Kontexten passiert, in denen sich die Menschen […] für antirassistisch halten.“3Ogette, Tupoka: Exit Racism. Das Hörbuch, gelesen von Tupoka Ogette, 2020, Kapitel 2, Teil 2. Wir denken, Rassismus sei nicht unser Problem, sondern das anderer Individuen, wie z.B. selbsterklärter Nazis. Dabei ist es sehr wohl unser Problem, denn die meisten von uns wachsen an einem Ort auf, den die Autorin als Happyland bezeichnet. Dies ist der „Zustand, in dem weiße Menschen leben, bevor sie sich aktiv und bewusst mit Rassismus beschäftigen“4Ebd., Kapitel 3, Teil 1. und ein Ort, wenn nicht sogar eine Welt, in der Rassismus nichts mit der eigenen Person zu tun hat und nur unter Vorsatz ausgeübt wird. Diesen Ort gilt es also schnellstmöglich zu verlassen und Tupoka Ogette hilft dabei, indem sie einen sanft aus Happyland herausschubst. Der Autorin gelingt es, den HörerInnen die Augen zu öffnen und das ganz ohne den erhobenen Zeigefinger. Als weiße Hörerin werde auch ich zu einer rassimuskritischen Perspektive ermutigt und nicht dafür verurteilt, dass ich – wie wir alle in Deutschland – rassistisch sozialisiert wurde. Tupoka Ogette weiß: „Wir alle können nichts für die Welt, in die wir hineingeboren wurden. Aber jede und jeder kann Verantwortung übernehmen und diese Welt mitgestalten.“ Und auf genau diese Verantwortung weist sie in den neun Kapiteln ihres Hörbuchs immer wieder hin.

Der letzte Teil trägt den Titel „Raus aus Happyland – und jetzt?“ und bedeutet nicht das Ende dieser Reise – im Gegenteil, es ist vielmehr der Beginn einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus. Zu Beginn ihres Hörbuchs hatte Ogette den HörerInnen versichert, dass es durchaus Spaß machen kann sich auf die Reise raus aus Happyland zu begeben und seine eigene Perspektive zu wechseln. Und genau hier liegt die Stärke von „Exit Racism“: Neben all den unangenehmen Gefühlen, der Traurigkeit oder Wut, die es in einem hervorruft, ermöglicht es doch vor allem die Auseinandersetzung mit sich selbst, dem eigenen Blick auf die Welt und den Möglichkeiten, die jede und jeder einzelne von uns in sich trägt, um Rassismus in unserer Gesellschaft zu bekämpfen. Ich bin froh, mich intensiver mit dem Thema Rassismus auseinandergesetzt zu haben. Am Ende dieser Reise bin ich zwar noch lange nicht am Ziel angekommen. Aber ich finde mich an einem Punkt wieder, an dem ich nicht mehr einfach nur sagen werde, dass ich nicht rassistisch bin, sondern, dass ich mich jeden Tag aufs Neue bemühen werde anti-rassistisch zu sein. Denn wir alle sollten dazu beitragen, die rassistischen Strukturen in unserer Gesellschaft aktiv anzuerkennen und zu dekonstruieren.

Headerfoto: Tupoka Ogette © Alina Schessler

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Hier findet ihr das Hörbuch von Tupoka Ogette kostenlos zum Download bereitgestellt